Jan 132018
 

„Ich habe mir immer gedacht, wäre die alttestamentliche Behauptung Im Anfang war das Wort buchstäblich wahr, dann müßte dieses Wort ein gesungenes Wort gewesen sein… Können Sie sich vorstellen, daß Gott „Es werde Licht“ so ganz einfach vor sich hingesagt hat, so wie man Kaffee bestellt? Selbst in der Originalsprache: יְהִ֣י אֹ֑ור? Ich hatte stets die Phantasievorstellung, daß Gott die beiden flammenden Worte Y’HI-O-O-OR gesungen haben muß. Das mag der tatsächliche Schöpfungsakt gewesen sein. Musik mochte Licht hervorgebracht haben.“

Einer der großen Musik-Erzieher des 20. Jahrhunderts, Leonard Bernstein, ist zugleich auch ein bedeutender Anreger, ein Versöhner und Verbinder der beiden Bundesbücher der christlichen Religion, nämlich der hebräischen Bibel und des christlichen Neuen Testaments.

Das Johannes-Evangelium, der entscheidende, der krönende Abschluss der 27 neutestamentlichen Schriften beginnt bekanntlich mit dem Wort: Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος, καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν, d.i. zu deutsch: „Im Anfang war das Wort und das Wort war zu Gott.“

Bernstein – dieser Name klingt so typisch deutsch, so typisch aschkenasisch, so typisch jüdisch – schreibt nun diesen Beginn des Johannesevangeliums ohne weitere Erklärung dem Alten Testament zu, also der hebräischen Bibel. Eine kühne Tat, die der amerikanische Dirigent mitteleuropäisch-jüdischer Herkunft hier vollbringt! Er denkt, nein er singt den Anfang der hebräischen Bibel und den Beginn des vierten Evangeliums zusammen. Eine ungeahnte Harmonie erklingt, eine Harmonie des jüdischen und des christlichen Bundesgedankens! Die Alte Bundesbuchsammlung (das AT) und die Neue Bundesbuchsammlung (das NT) werden unlösbar ineinandergeflochten.

Wir dürfen in der Nachfolge Leonard Bernsteins etwas Ähnliches wagen – die Harmonie der hebräischen und der griechischen Bibel, indem wir folgenden zweisprachigen Spruch niederschreiben:

Am Anfang war des gesungene Wort: Es werde Licht!

In der hebräisch-griechischen Fassung mochte der Verfasser des vierten Evangeliums tatsächlich so etwas gesummt und gesungen haben wie dies hier:

Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος יְהִ֣י אֹ֑ור

Und dieses Jahr möge das Jahr des Gesanges der Versöhnung werden!

Zitat:
Leonard Bernstein: Worte wie Musik. Herausgegeben und eingeleitet von Harald Schützeichel. Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 1992, S. 47

Bild:
Blick von der Krim-Brücke auf den Fluss Moskwa, Bezirk Chamovniki, Moskau, aufgenommen vom hier Schreibenden am 05. Januar 2018

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