Apr. 272024
 

„Als ich in dieser Eiseskälte und im Schnee an der Bushaltestelle stand und dich als Baby, eingewickelt in einer Decke, die nicht einmal dir gehörte, ganz fest an mich drückte, damit du nicht frierst, so viel zu klein und viel zu schwach, und dich so anschaute, da wusste ich, du wirst, solange du bei mir bist, sicher sein. Niemand wird dir weh tun, niemand wird dich verletzen. Du bist frei und kannst später dein Leben selbst gestalten, dafür werde ich alles geben. […]
Heute sehe ich dich und bin glücklich, weil aus den Gedanken damals im Schnee etwas Wahres geworden ist, und freue mich über dich, über deine Geschwister, über mein Leben mit euch und weiß, ich habe damals und heute das Richtige entschieden und bereue es keine Sekunde. Lerne jeden Tag etwas Neues, sei freundlich zu den Menschen, wenn sie auch freundlich zu dir sind – die unfreundlichen kannst du einfach ignorieren oder, wie ich es sonst mache, auch mal anschreien. Lass dir deine Freiheit nicht nehmen, entscheide richtig, und falsch darf es auch mal sein, dafür ist dieses Leben da. […]

Deine Mama“

Was ist das doch für eine wunderbare, überwältigende Liebeserklärung! So eine schöne Liebeserklärung habe ich gedruckt kaum je sonst in den letzten Wochen lesen dürfen. Dafür danke ich Latife Arab, der liebenden Frau und mutigen Mutter, die sich beherzt und unerschrocken gegen viele Widerstände und Hindernisse inmitten von unermesslichem Leid zu behaupten wusste.

Winterstürme wichen dem Wonnemond, die Liebe lockte den Lenz, Frühling zieht ein, die Nachtigallen singen mit süßem Sang im Naturpark Schöneberger Südgelände!

Zitatnachweis: Latife Arab: Vom Regen in die Traufe, in: Latife Arab: Ein Leben zählt nichts – als Frau im arabischen Clan. Eine Insiderin erzählt. Wilhelm Heyne Verlag, 3. Aufl., München 2024, S. 63-95, hier: S. 86-87

Bild: Frühling im Naturpark Schöneberger Südgelände, 27. April 2024

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Braucht Deutschland erneut einen antifaschistischen Schutzwall?

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Feb. 132024
 

„Es gilt viele Mauern abzubauen“ – der fröhliche kühne Luftzug der Freiheit war in den Jahren 1989 bis etwa 1998 zu spüren. Wer erinnert sich noch daran? Dieses Mauergemälde an der East Side Gallery, ob es heute wohl noch zu sehen ist? Ob die Menschen es heute noch verstünden?

„Spiegami un po‘ la politica tedesca…! C’è un rischio che la destra vinca?“ Erklär mir doch mal die deutsche Politik! Droht ein Sieg der Rechten?

So fragte mich ein freundlicher Italiener bei einer meiner langgestreckten Bahnfahrten.

Meine Antwort fasse ich – hier in deutscher Sprache – so zusammen:

Ich bemerke heute eine damals – beim Fall der Berliner Mauer – unvorstellbare, mir unfassbare Verzagtheit im Denken, im Fühlen der deutschen Gesellschaft.

Wo ist da der Wagemut, wo ist der Glauben an etwas Gutes, wo ist die Zuversicht abgeblieben? Es fehlt in Deutschlands Politik jede versöhnliche Geste, es fehlt heute in Deutschland schmerzhaft an Mauereinreißern, an Brückenbauern.

So weit ungefähr meine Darstellung gegenüber einem italienischen Bahnreisenden.

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Was bleibt, Letizia? Was stärker ist!

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Apr. 142022
 

Jeder Mensch fragt sich wohl immer wieder: Wie möchte ich sein? Wie sehen mich andere? Wie möchte ich gesehen werden? Manchmal gelingt es, diese Fragen in einem Bild zu beantworten. So etwas geschah mir im Mai 2008. Frau Steffan vom Zürcher Ammann Verlag sandte mir damals ein Bild von einer Veranstaltung mit Letizia Battaglia und Leoluca Orlando zu. Damals aufgenommen, im Willy-Brandt-Haus, Berlin-Kreuzberg. Zwei lachende Menschen sehe ich da, – eben Letizia Battaglia, die gestern verstorbene Photographin, daneben ich -, die beiden Menschen strahlen irgend jemandem entgegen, belustigt, fast augenzwinkernd. Sie scheinen einer Meinung zu sein. Im Hintergrund sieht man Fotos von einigen Verbrechen und Verbrechensopfern. Aber auch so etwas wie eine weiße Taube. Palermo, ihr wisst schon … Letizia selbst hat diese weiße Taube aufgenommen. Damals lief mehrere Wochen die Fotoausstellung im Willy-Brandt-Haus.

Du fragst, mein Freund: Darf man lachen, wenn man über schwierige, traurige Themen spricht? Ich frage dich: Wem hülfe es, wenn wir nicht lachten? Würde dadurch auch nur eines der Opfer wieder lebendig?

Beim Betrachten des Fotos kommt mir der Gedanke: Ja, so möchte ich immer sein! Im Einverständnis mit anderen, nach außen offen, gesprächsbereit, optimistisch. Niemand leugnet das Böse auf diesem Foto. Ich verleugne nicht die Schuld! Aber deine Gnad und Huld gibt eine Kraft, die auf Dauer stärker ist als das Böse: die Gemeinschaft im Jetzt, das Lachen, die Sympathie.

Ed i vivi? I vivi sono più esigenti dei morti, Letizia, sono molto esigenti! Il tuo sorriso mi rimarrà sempre. Ciao, Letizia!

Foto: Letizia Battaglia (Palermo, 5 marzo 1935 – Cefalù, 13 aprile 2022), Johannes Hampel. Willy-Brandt-Haus, Berlin-Kreuzberg, Mai 2008.  Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Ulla Steffan, Zürich

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Unsere eine Welt – offen zur Zukunft in Zuversicht im Jahr 2022!

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Jan. 042022
 

Allen Menschen auf dieser Welt wünsche ich ein gutes, von Zuversicht geprägtes Neues Jahr 2022! Mögen überall Kerzen der Hoffnung, der Öffnung zur Zukunft hin aufflammen – in Armutsvierteln ebenso wie in Flüchtlingscamps, in urbanen Single-Einsamkeits-Appartments und Verlassenheits-Kompartimenten, in elenden Gefängnissen und goldenen Käfigen aller Art, in ängstlichen Kinderaugen im Krankenhaus ebenso wie in müden, übersättigten Erwachsenenaugen!

Das Bild zeigt unsere eine, rundum offene Welt, die auf das Licht dieser Kerzen wartet! Zu sehen in der Kirche Maria unter dem Kreuz, Friedenau-Wilmersdorf, Berlin

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Es ist Zeit, daß wir wissen, dass wir zeitlich sind

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Nov. 262020
 

Zu den bittersten Kränkungen der jetzigen Zeit gehört es, dass wir uns der eigenen Begrenztheit bewusst werden. Wir haben schlechterdings dies und das nicht in der Hand! Zum Beispiel – die Zeit. Zum Beispiel – den Zeitpunkt des eigenen Todes. Wir erleiden die Einsicht zum Beispiel – von der Unplanbarkeit zahlreicher Verläufe. Auch die allesbesorgende Politik hat es nicht in der Hand. Der Staat kann den Menschen nicht mehr das Erreichen der natürlichen Altersgrenze von so und so vielen Jahren (70? 80? 86? 100? 120? Unsterblichkeit?) zusichern, wie er dies noch vor einem Jahr vorgab. Ein trügerisches Vorgeben, wie wir jetzt erneut erfahren!

Schlägt man heute die Zeitungen auf, so weht einen überall der Todesgedanke an, Fallzahlen, Sterbetafeln, Infektionsinzidenzen haben die Aktienkurse, Wechselkurse und Targetsalden ersetzt, die früher das unerbittliche Schicksal bedeuteten. – Ein psychotischer, barocker Pesthauch der Vergänglichkeit wallt uns an! Von Geburten, Geburtenzahlen (die muss es doch auch geben?), von Zuversicht, von der Schönheit des Lebens erfährt man nichts mehr aus den Massenmedien und aus den Verlautbarungen – während echte, gute, wahre barocke Kunst (die Musik J. S. Bachs z.B.) bei aller intimen Nähe zum Tod doch immer wieder die überschäumendste Freude feierte! Eine ganze Gesellschaft zieht sich schon mal das Leichentuch übers Gesicht. Es steht 0:6 für den Tod bei uns in Deutschland. Wie die Nationalelf es gegen Spanien so rekordverdächtig herausgespielt hat. Da war kein Aufbäumen mehr zu erkennen.

In der ersten Auflage eines 2020 neu erschienenen Buches hingegen strahlt uns taufrisch und unverwelklich folgendes Gedicht entgegen, als wäre es für heute, den 26. November 2020, geschrieben – oder als wäre es am vergangenen Sonntag, dem Totensonntag des Jahres 2020 geschrieben:

CORONA

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Zitat:
Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020, S. 45

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Man weiß nicht, was noch werden mag: Frühlingsglaube im Herbst

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Okt. 242020
 

Ich schaue hinaus auf den herbstlichen Park in den Sonnenschein vor meinem Fenster, und gerade in diesen Oktobertagen kommt mir da Uhlands „Frühlingsglaube“ in der Vertonung durch Franz Schubert in den Sinn: 

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
man weiß nicht was noch werden mag!

Blickt man hingegen in die Zeitungen, verfolgt man die tonangebenden Medien, so muss es eher heißen:

Die Welt wird schlimmer mit jedem Tag,
man weiß nicht, was noch werden mag!

Ein ungeheures, verwirrendes Datengereiße, Zagen, Zähneklappern, Zittern, Zahlengewirr, Zukunftslosigkeit, Zuversichtslosigkeit, ein alles einhüllender grauer Novembernebel, das ist es, was seit Wochen schon aus den Medien trieft. Die Massenmedien berichten doch fast nur noch Negatives. Ist es nicht so? Da ist keine Freude mehr, keine Sehnsucht nach Schönheit, kein Hinhören, kein aufmerksames Lauschen, keine Zwischentöne mehr. Eine Walze der Hoffnungslosigkeit. Ideologie der Negativität! Welch ungeheuren Schaden richtet das an zarten Kinderseelen an!

Und trotzdem! Es singt in mir: Eppure non ho mai amato tanto la vita, tanto la vita! Ich glaube. Ich erlebe viel Schönes. Es ist möglich, von dem Schönen etwas weiterzugeben und es weiterzuerzählen. Frühling im Herbst!

Die zarten Birken des Zukünftigen wachsen und gedeihen am Ufer des Sees der Schrecken.

Das Bild zeigt Birken im Park der Villa Liebermann am Ufer des Wannsees, direkt neben der Villa der Wannseekonferenz. Birken, gesehen, freudig erlebt, genossen am vergangenen Wochenende bei einer Radtour.

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Freedom for Fruit Flies?

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Sep. 112020
 

Today, I would recommend reading a paper by biologist Björn Brembs, published in December 2010 in the renowned Proceedings of the Royal Society – B Biological Sciences.

Björn Brembs: Towards a scientific concept of free will as a biological trait: spontaneous actions and decision-making in invertebrates.Proc. R. Soc. B 22 March 2011 vol. 278 no. 1707 930-939

In simple terms, the author examined the following question: Do fruit flies have something like freedom of will? The author analyzed whether fruit flies have the ability to choose between alternative actions. According to a trivial assumption, animals of the same species will always take the same decisions if they are in excactly the same starting position. Therefore, hungry fruit flies would always move towards a possible food source.

Surprisingly, this is not the case! In the experiments, there were always some animals that showed a deviation from the expected regular behavior. We can gather that even in simple stimulus-response situations, where a basic stimulus is likely to be answered by a highly predictable reaction, there will be individuals deviating from the crowd. We will always find curious outliers among the fruit flies. Most of the times, they amount to roughly 20 percent of the respective group.

But there is more to come! If these 20 percent of the test flies are excluded and the remaining individuals are exposed to a new experiment, the deviation rate is about the same.

Flies thus seem to seek solutions to problems – instead of simply having instincts guide them. Björn Brembs concludes:

The fly cannot know the solutions to most real-life problems. Beyond behaving unpredictably to evade predators or outcompete a competitor, all animals must explore, must try out different solutions to unforeseen problems. Without behaving variably, without acting rather than passively responding, there can be no success in evolution.

The behavior of insects is never fully predictable, even in the simplest standard situations. It seems that insects have a kind of discretionary power. The freedom of trial and error gives the species an evolutionary advantage.

Decisions for or against something seem to be possible even in the largest sub-group of the animal kingdom, in the sense that invertebrate animals are not neuronally determined in their behaviour. Under absolutely identical initial conditions, genetically similar or genetically identical insects „decide“ differently even in fundamental questions of existence – for example, whether they should fly into the light or away from it!

Neurobiology – this lead science, which is so extremely hip at the moment – discusses whether something like free will can still be allowed or justified. Will freedom of will one day become obsolete, since it is becoming increasingly clear why our brain reacts the way it does?

In my opinion, Brembs‘ paper proves that neuronal processes in animals do not clearly determine their actual decision to act.

For the age-old philosophical problem of the freedom of will in humans, I think I may resume these considerations in the following words:

A biological proof that we do not have free will cannot be provided. Many findings seem to indicate that not only we humans, but also animals can use a considerable scope for decision. The fact that we can actually decide, that we are endowed with freedom of will, that we are to a large extent „masters of our own actions“, is a basic concept that is accessible through subjective introspection. Moreover, it cannot be refuted by scientific experiments.

In saying so, we do not deny that acts of will are inextricably bound to material processes – i.e. ultimately to processes among neurons, synapses, messenger substances and excitatory potentials in the brain. But these processes are only substrates, carrier substances of the will.

Any human individual is free to a considerable extent. He or she decides to do something – or decides not to. Only through such a concept of freedom will responsibility become a justifiable philosophical option. By the same token, morality, the differentiation between right and wrong become conceivable only if we accept this fundamental principle of freedom. Thus, for instance, hardly anyone will concede an excuse to a murderer if she or he claims: „I just had to kill! I was overtaken by the impulse to kill!“

Apart from few cases of utter madness or mental incapacity, we will always say: „The murderer did not have to kill. He or she must answer for the consequences of their actions.“

In this sense, I am strongly committed to the concept of human freedom.

Picture: Kreuzberg blogger talking to Berlin children about freedom, good and evil in Mozart’s Magic Flute. Picture taken at Lomonosov Elementary School Berlin in 2011

This post was originally published here on 11 February 2011. Re-edited and translated from German by this blog’s author.

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COVID-19 – ein Weckruf an unser mitfühlendes Herz

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Apr. 192020
 

Die COVID-19-Quarantäne bedeutet für viele in so manchem europäischen Land Hunger, Versorgungskrise, Abgeschnittensein. Der Staat kann nicht überall sein, kann nicht allen helfen. Aber hier zeigt sich auch das Beste in den Menschen, ein mitfühlendes Herz! Auch in der Hauptstadt des größten europäischen Landes gelten jetzt strenge Ausgangsbeschränkungen. Guter, vorbildlicher Einsatz junger Bürgerinnen und Bürger im Freiwilligendienst um Jegor Schukow für diejenigen Menschen in Moskau, die durch die Quarantäne besonders hart getroffen werden. Konkrete Hilfe für die Menschen! Gut, macht weiter so!

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Trennen, sondern, ordnen. Räum auf in deinem Leben. Mit Goethe und Inga Scheidt

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Dez. 272019
 
Johann Wolfgang von Goethe: Lebendmaske. Gips, schellackiert. Mastermodell gefertigt vor 1950. Staatliche Museen zu Berlin, Gipsformerei (Original am Gesicht Goethes gefertigt im Oktober 1807 durch Carl Gottlieb Weißer). Fotografische Aufnahme gefertigt am 26.12.2019 durch den hier schreibenden Vf. in der Ausstellung „Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei“ in der James-Simon-Galerie Berlin

Zu den nützlichen, gefälligen, aber leider auch notwendigen Geschenken, die uns an Heiligabend überreicht wurden, zählen wir „Das magische Aufräumbuch“ von Inga Scheidt. Durch fleißiges Lesen dieser Hinweise, die sich zwanglos in den Fächern „Loslassen, Ordnung schaffen, durchatmen“ rubrizieren lassen, hoffen wir gleichsam magisch, wie im Handumdrehen eine noch bessere Ordnung in Schreibstube, Küche, Schlafgemach und Keller herbeizuführen! „Richten Sie sich ein Regal mit Ordnern für die wichtigsten Unterlagen ein“, lautet eine der durchaus beherzigenswerten Einsichten der Autorin.

Neben dem Lesen des magischen Aufräumbuches fanden wir gestern zum ersten Mal auch Zeit, die neue James-Simon-Galerie ausführlich zu erkunden, und zwar nicht als Durchgang oder Übergang zu den fünf verschiedenen Museen der Museumsinsel, sondern um ihrer selbst willen! Ein derartiger Besuch lohnt sich! Uns überraschte zunächst der freie herrliche Ausblick, den man vom Kolonnadengang aus auf den Lustgarten und den Kupfergraben genießt. Hier der Beleg:

Hervorheben möchten wir heute die Ausstellung „Nah am Leben“, in welcher die Gipsformerei ihr gesamtes Handwerk und ihre Kunstfertigkeit an ausgewählten Beispielen zeigt. Besonders tat es mir gestern unter allen ausgestellten Stücken die Lebendmaske Goethes an, die der Alte vom Frauenplan im Jahr 1807 von seinem Gesicht abnehmen ließ. Es waren genau die Monate, in denen Goethe seine Wahlverwandtschaften verfasste! Und siehe da, auch hier spricht er das Thema des Ordnens, Aufräumens und Loslassens an. Er schreibt im vierten Kapitel des ersten Teils über den reichen Baron Eduard:

Zwar von Natur nicht unordentlich, konnte er doch niemals dazu kommen, seine Papiere nach Fächern abzutheilen. Das, was er mit Andern abzuthun hatte, was bloß von ihm selbst abhieng, es war nicht geschieden, so wie er auch Geschäfte und Beschäftigung, Unterhaltung und Zerstreuung nicht genugsam von einander absonderte. Jetzt wurde es ihm leicht, da ein Freund diese Bemühung übernahm, ein zweites Ich die Sonderung bewirkte, in die das eine Ich nicht immer sich spalten mag.

Sie errichteten auf dem Flügel des Hauptmanns eine Repositur für das Gegenwärtige, ein Archiv für das Vergangene, schafften alle Dokumente, Papiere, Nachrichten aus verschiedenen Behältnissen, Kammern, Schränken und Kisten herbei, und auf das Geschwindeste war der Wust in eine erfreuliche Ordnung gebracht, lag rubricirt in bezeichneten Fächern. Was man wünschte, ward vollständiger gefunden, als man gehofft hatte. Hierbei gieng ihnen ein alter Schreiber sehr an die Hand, der den Tag über, ja einen Theil der Nacht nicht vom Pulte kam und mit dem Eduard bisher immer unzufrieden gewesen war.

Ich kenne ihn nicht mehr, sagte Eduard zu seinem Freund, wie tätig und brauchbar der Mensch ist. Das macht, versetzte der Hauptmann, wir tragen ihm nichts Neues auf, als bis er das Alte nach seiner Bequemlichkeit vollendet hat, und so leistet er, wie du siehst, sehr viel; sobald man ihn stört, vermag er gar nichts.

Ein Vergleich zwischen den beiden Autoren Scheidt und Goethe ergibt: Scheidt setzt beim Bewußtseinswandel im einzelnen Menschen an. Sie verlangt vom Aufräumenden „einen Entschluss, den entscheidenden Klick im Kopf“. In Scheidts Weltsicht soll das Ich gewissermaßen endlich Herr im eigenen Hause werden; die äußere Ordnung spiegelt dann eine innere seelische Gestimmtheit, spiegelt Einklang mit sich und der Welt wider.

Goethe dagegen erzählt zu Beginn der Wahlverwandtschaften die Herstellung der Ordnung als Gemeinschaftsleistung mehrerer tätiger Individuen; nur im Zusammenwirken gelingt wie im Handumdrehen die wohltuende, entlastende, zeitsparende Ordnung, die neben dem Seelenfrieden auch Muße und Gelassenheit für das gemeinsame Erleben des Schönen schafft. Der einzelne Mensch allein schafft es nicht!

Wer hat nun recht, Goethe oder Scheidt? Die Entscheidung hierüber ist nicht abstrakt zu treffen. Sie ruht letztlich beim tätigen Erleben, beim Handeln und Anpacken, bei der Veränderung! Ein unbestreitbares Moment des Wahren steckt zweifellos in beiden Ansätzen, das erst im verändernden Zugriff auf Welt und Umwelt seine Wirklichkeit erweisen wird.

Quellenangaben:
Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften. in: Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Fünfter Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885, S. 316-499, hier S. 334

Inga Scheidt: Das magische Aufräumbuch. Loslassen, Ordnung schaffen, durchatmen. Naumann & Göbel Köln, ohne Jahresangabe, hier bsd. S. 16 und S. 91

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Was kann ich für das Klima tun?

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Sep. 242019
 
Kinder beschreiben, was sie für den Klimaschutz tun. Freiluftausstellung der Finow-Grundschule, Ebersstraße, Berlin-Schöneberg. Heute! Jetzt! Hier!

„Ich kann Dreck aufräumen.“
„Ich laufe zur Schule.“
„Keine Silvesterraketen benutzen.“
„Schützt Tiere, fahrt Bus!“
„Lauft mehr, schützt Pflanzen!“
„Mit einem Ball spielen statt mit Geräten, die Strom brauchen.“
„Ich kaufe Dinge ohne Verpackung.“
„Ich kann zu Fuß gehen und ich kann nicht mit dem Auto fahren. Und ich fliege nicht.“
„Ich kümmere mich um Pflanzen.“

Mir gefallen diese Vorschläge, Zusagen und Berichte der Kinder in unserer Nachbarschaftsschule! Statt anzuklagen, höre ich aus ihren Werken heraus: „Und? Was kann ich tun? Schimpfen, anklagen, fordern, anderen ein schlechtes Gewissen einreden, das mögen andere machen. Ich aber will etwas tun! Ich bin verantwortlich. Zwar bin ich nur einer von über 7 Milliarden 737 Millionen Menschen. Aber ich kann sehr wohl etwas Gutes bewirken!“

Die kleine Ausstellung mit „Kinderkunst auf Papier“ in der umhegten Anlage des Schulhofes sagt mir sehr zu. Sie ist ein Zeichen der Hoffnung und der Zuversicht!

Gut. Sehr gut habt ihr das gemacht, Kinder! Eine echte Klimaverbesserung für das gequälte Gemüt! Danke!

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„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ Hoffnung und Zuversicht für die Ukraine und Russland

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Nov. 282018
 


„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ So vertraute es uns im März 2014 eine Musiklehrerin aus der Stadt Керч oder auch aus der Stadt Керчь oder auch aus der Stadt Keriç an. Sie meinte damit: Trotz aller unschönen Entwicklungen in den ukrainisch-russischen Beziehungen glaubt sie fest an das Gute und Schöne, das sie als Musikpädagogin den Kindern in der Musikschule Kertsch weitergeben kann. Johann Sebastian steht offenbar in der großen östlichen Hälfte Europas unerschütterlich für das Wahre, das Schöne, das Gute. Bach verbindet die Ukraine und Russland – zwei eng benachbarte, ja kulturell und menschlich verschwisterte Staaten Europas – unauflöslich wie etwa Gogol oder Puschkin auch. Das habe ich immer wieder in Gesprächen mit Russen und Ukrainern erlebt.

Vorgestern besuchten wir ein Konzert ukrainischer Virtuosen im Kammermusiksaal der Philharmonie. Bach, Beethoven, Myroslav Skoryk, Saint-Saëns standen auf den Programm.

Den kraftvollen Anfang – in Abweichung vom gedruckten Programm – setzte ohne jede Erklärung der Geiger Valeriy Sokolov mit der Chaconne aus Bachs d-moll-Partita. Das war mehr als ein meisterhaft virtuos vorgetragenes Stück, es war ein glühendes Bekenntnis, das war ein Aufruf, ein Herabflehen – ja es war fast schon ein Gebet um Versöhnung des Widersprüchlichen. Sokolov spielte an diesem Abend mit fast schon altertümlicher Brillanz, leuchtend strahlte jeder Ton auf, der Bogenarm vollführte bei den gebrochenen Akkorden wahre Wunder an Gelöstheit und Souveränität. In manchem erinnerte mich Sokolov an die großen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa Hubermann, Milstein, Stern. Schloss man die Augen, so konnte man nicht heraushören, ob dieser oder jener drei- oder vierstimmige Akkord im Auf- oder im Abstrich gespielt wurde. Und so soll es sein! Sokolov zeigte uns an diesem Abend einen großen, oft warmen, manchmal auch messinghaft glänzenden Ton, völlige Konzentration, endlose Spielfreude, aber eben doch auch eine gewaltige Seelenspannung, eine erhabene Würde. Das können heute nur wenige Geiger dieser Welt, viele können es nicht. Ihnen fehlt manchmal der Glaube an das, was sie spielen. Sokolov hat ihn.

Der ukrainische Botschafter Andriy Melnyk erinnerte in seiner mich sehr ansprechenden, überzeugenden Rede zum 5. Jahrestag der Revolution der Würde an den überragenden Wert der Freiheit und der Gleichheit aller Staatsbürger. Er sprach sehr persönlich aus seiner Erfahrung als Mensch: „Ich kann jetzt auf Augenhöhe mit meinem Präsidenten sprechen.“ Dieser werde ihm stets zuhören, und manchmal gelinge es ihm, dem Botschafter, ihn zu überzeugen. Das sei früher anders gewesen. Man sei in seiner Kindheit noch zu kritikloser Ergebung, Gehorsam und Nachahmung erzogen worden. Die Ereignisse auf dem Maidan hätten ihn damals, vor 5 Jahren, endgültig von Angst und Unterwürfigkeit befreit.

Der glanzvolle Konzertabend wurde passenderweise mit einer wehmütigen Ballade, dem Dumky-Trio von Antonín Dvořák beendet. Die Dumka ist ja ein ukrainischer Tanz, und in der Tat schienen die ukrainischen Musiker Kateryna Titova (Klavier), Aleksey Shadrin (Cello) und Valeriy Sokolov (Geige) besorgt hinüberzulauschen in das Land oder die Länder, denen sie entstammen und denen sie so viel verdanken. Sie spielten so ergreifend, so hingebungsvoll, dass man als Zeitgenosse der heutigen politisch-militärischen Bedrohungen geneigt war zu fragen: „Und? Warum all dieses Ungemach? Warum der Streit? Warum die Gewalt? Sind wir nicht alle Europäer? Sind wir nicht alle geeint durch die Musik eines Bach, eines Beethoven, eines Skoryk, eines Saint-Saëns? Bleibt denn nicht Kertsch Kertsch? Bleibt denn nicht Bach Bach?“

Die Antwort liegt auf der Hand und klang in unsere Ohren hinein. Sie wurde schon vor vier Jahren durch jene Musiklehrerin in Kertsch gegeben:

Для нас всегда Бах Бах

Bild: Der Europaplatz in Moskau mit den Flaggen der 49 europäischen Staaten, eine 2003 gebaute Manifestation des gemeinsamen Kontinents Europa

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Seid umschlungen, 2 Millionen! Stolz auf das Erreichte!

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Sep. 022018
 

Gute Leistung, die wir Berliner in diesem Sommer erbracht haben! Mehr als zwei Millionen Besucher in den Freibädern, Stand heute. Dazu habe ich, haben wir beigesteuert durch regelmäßige Besuche im Schöneberger Insulaner! Bin stolz darauf.

Nebenbei erlebt man als Schwimmer, als Badender in Berlins Bädern einen bunten Querschnitt durch unsere bunte Stadtgesellschaft! Unersetzlich!

Wir bleiben dran, haben das Bonusticket zu 2,50 Euro heute gerne mitgenommen!

 

 

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Nachhallende Gespräche für Orgel und vox humana. Els Biesemans spielt im Brixner Dom

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Aug. 012018
 

Brixen, 31. Juli 2018

Wir besuchten nach schweißtreibender Wanderung, die uns an diesem Tag vom Würzjoch herüber auf die Plose gebracht hatte, ein Orgelkonzert im Dom zu Brixen, diesem großen Festsaal, dieser Vorhalle des Himmels, der in echtem Marmor, nicht in Stuck schwelgt. Im Rahmen der „Brixner Orgelkonzerte 2018“ war an diesem Abend Els Biesemans eingeladen, die sich als Pianistin wie als Organistin gleichermaßen einen internationalen Ruf geschaffen hat.

Die 1980 von Johann Pirchner gebaute Orgel hat 3.335 Pfeifen, 48 klingende Register, 3 Manuale, ein Pedal. Der oben zu sehende, sorgsam erhaltene bzw. rekonstruierte herrliche Prospekt stammt aus dem Jahr 1785.

Bachs Fantasia und Fuge g-moll BWV 542  eröffnete mit düsteren wuchtigen Schlägen diesen Abend. Aufrauschte da der schwere Flügelschlag der unerbittlichen Selbstprüfung, verwickelte Satzgeflechte folgten, kühne Modulationen zu es-moll, hinüber zu f-moll, dann zurück zu g-moll. Dann in der Fuge klar durchgezogen von Els Biesemans das unverwechselbare Hauptthema, dem in gleichberechtigter Stimmführung drei weitere Themen zugeordnet werden.

Alexandre-Pierre-François Boëly  hat in seinem Opus 12 verschiedene Gespräche  der typischen Register des französischen Orgelspiels geschaffen – Dialoge, für Register der Orgel geschrieben, als wären es Instrumente eines Ensembles, romantisch schwelgend, hier durch Biesemans besonders warm, lebendig und schwelgerisch registriert und voller Freude am Spiel ausgeführt.

Camille Saint-Saëns‘ Fantaisie et Fugue  no 1 en mi bémol majeur ist ebenfalls ein Prachtwerk der französischen Orgel-Romantik, in dem die Grenzen zwischen geistlicher und weltlicher Musik verschwinden, als wären sie eine flirrende Luftspiegelung über dem Peitlerkofel. Es fehlt bei diesem französischen Katholiken das Bewusstsein beständiger Schuldhaftigkeit, welches Bachs g-moll-Phantasie durchzieht.

Sofia Gubaidulinas „Hell und dunkel“ war deutlich erkennbar die Klangachse des gesamten Abends. Wuchtig und dumpf erschollen nach dem B-dur-Werk von Saint-Saëns die neun Schläge der Stundenglocke des Doms, ein kleines Kind fing zu lärmen, zu zwitschern und greinen an – oder war dies schon der Beginn des Orgelsolos von Gubaidulina gewesen? Es war nicht eindeutig zu hören.  Coincidentia oppositorum, ein Zusammenfallen von Kind und Mann, von Dunkel und Hell, wie es den Brixner Bischof Nicolaus von Kues sicher erfreut hätte!

Dieses Zusammentreffen von Kinderwelt und Orgelwelt gehört zu jenen ungeplanten Zusammenkünften, die diesen Orgelabend mit Els Biesemans zu einer echten Sternstunde nicht nur in den Ohren des hier Schreibenden werden ließen. Die Pirchner-Orgel konnte unter den Händen der aus Belgien stammenden Organistin ihre ganze Klangfülle, ihren geradezu abenteuerlichen Klangreichtum voll ausfahren. So erschütterten mich insbesondere die Clusterfügungen, von Gubaidulina mit den bekannten „Balkendiagrammen“ vorgezeichnet. Es war ein Knurren und Belfern, eine unerhörte Erschütterung, ein Rückfall ins Animalische, das hier das Register „Vox humana“ ausströmte! Nie zuvor habe ich derartige extreme Grenzbereiche des Orgelklanges hören können, auch nicht bei dem gewiss um abenteuerliche Klangexperimente nicht verlegenen Cameron Carpenter.

Nicht zufällig baut Gubaidulina ihren Satz auf der Reibung der kleinen Sekunde auf – also jenes Intervalls, das Bach bereits in der g-moll-Fuge als beständigen Kontrapunkt b-a und g-fis verwendet hatte. Schneidend klangen am Anfang die nächstverwandten Töne zusammen wie zwei verfeindete Brüder, die sich erst nach und nach versöhnten im Ohr des Zuhörenden. Aus Dissonanz wurde – Konsonanz, eine Versöhnungserfahrung, die Gubaidulina hier in Töne gefasst hat.

Franz Liszts Die Vogelpredigt des heiligen Franz von Assisi, dargeboten in dem durch Saint-Saëns besorgten Arrangement für Orgel, wirkte nunmehr wie ein erfrischendes Atemholen, ein liebliches Turteln und Girren der Vögel von der Herrlichkeit der Schöpfung, denen Franz von Assisi hingegeben lauschte. In dieser Interpretation waren es die Vögel, die dem Menschen die Ohren öffneten für eine Grundstruktur, eine von innen herausbrechende Schönheit, die der Prediger gewissermaßen nachbuchstabierte.

Johann Sebastian Bach entließ uns dann versöhnungsgewiss, fast triumphierend und fröhlich mit Präludium und Fuge D-dur BWV 532  in den weichen, sonnenwärmegetränkten Vorplatz des Brixner Doms.

Els Biesemans gestaltete souverän, uneitel und spielerisch-meisterhaft an der unglaublich reichen, unglaublich modernen und erstaunlich warm-romantischen Pirchner-Orgel im Brixner Dom einen lange nachhallenden Abend. Die Zusammenstellung ihres Programms enthüllte sich als geniale Verbindung von 6 Werken oder 6 Tagen, die im Laufe des Konzerts zusammenwuchsen, miteinander sprachen, einander verdunkelten und erhellten. Der siebte Tag, an dem das Ganze vollkommen werden soll, das werden wir selbst sein. Dieser siebente Tag ist Els Biesemans‘ Geschenk an Brixen, an uns, das dankbare und glückliche Publikum des Abends, ein Vorgriff auf eine lichtdurchflossene, schönheitsdurchflutete Erde, in der das Dunkle, das Grimmige  nur als vorübergehende Verdunkelung des Hellen vorüberhuscht und sich dann in die Berge trollt, aus denen es hervorgekrochen. Dies septimus nos ipsi erimus, so sagt es Augustinus. Dieses Konzert ließ sich ohne weiteres als ein einziges Werk „durchhören“, wobei Bach das Portal und den Abschlussakkord setzte und Gubaidulina die Zeitachse in die Gegenwart verlängerte, ja in die Zukunft  hinein weiterzeichnete.

Die Reihe Brixner Orgelkonzerte wird am 14. August 2018 unter dem Titel „Organa brixiniensia“ um 20.00 Uhr fortgesetzt. Das Hingehen lohnt sich in jedem Fall, wie dieser glückhaft gelungene Abend mit Els Biesemans nachhallend und nachdrücklich bewiesen hat.

 

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