Nach einer kleineren Nachmittagsrast unternahm ich am heutigen Sonnabend noch einen längeren Streifzug durch den Naturpark Schöneberger Südgelände – natürlich teils ganz barfuß, teils mit meinen minimalistischen neuartigen Sockenschuhen. Es tut mir einfach gut, mit den Füßen die Unebenheiten eines natürlichen Boden zu ertasten, die Weichheit des Grases zu genießen, die kleinen Piekser von Kies und Steinen wegzustecken. Alle Nervenpunkte werden dadurch belebt, die trägen Muskeln in Füßen und Beinen werden umfassender gekräftigt, die Heilung nach kleineren Verletzungen wird beschleunigt. Erworbene Fehlstellungen der Füße und der Beine werden durch reichliches Barfußgehen sachte korrigiert.
Vor einigen Wochen erzählte mir ein Bekannter, er habe nach jahrelang erduldeten Beschwerden, unzähligen Therapieversuchen durch Medikamente, nach teuren orthopädischen Maßnahmen seine chronischen Schmerzen an den Knieen im wesentlichen nur durch das häufige und lang ausgedehnte Barfußgehen beseitigt, zum Teil unterstützt durch „Barfußschuhe“, die er insbesondere zur Wahrung des „anständigen Auftretens“ im Berufsleben sowie bei schmutzigem Untergrund verwende.
Bild: „Der Mensch geht – das Rad rollt“ – ein neues Wandgemälde, erstmals gesehen heute in der Feiluftgalerie Tälchenweg im Natur-Park Schöneberger Südgelände
Der Weg in unsrem Park ist überwachsen von frischem Grün und krautig wucherndem Gebüsch, so daß wir tastend gingen, das eine an des andern Hand, und dankbar dafür daß wir dies erleben durften, trotz allem was da draußen tobt und brandet, schritten wir hinein in eines weißen Hauses Frieden, das auf uns wartete und uns empfing mit Zeilen, die auf Birkenrinde rot geschrieben waren, und die wir einst als Kinder hörten, und die wir doch erst jetzt verstanden, als wir erahnten, dass es so nicht wieder sein würde, nie wieder …:
[…] Die So-geliebte, daß aus einer Leier mehr Klage kam als je aus Klagefrauen; daß eine Welt aus Klage ward, in der alles noch einmal da war: Wald und Tal und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier; und daß um diese Klage-Welt, ganz so wie um die andre Erde, eine Sonne und ein gestirnter stiller Himmel ging, ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen -: Diese So-geliebte. […]
Zitat aus: Der ewige Brunnen. Gesammelt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff. C.H. Beck, München 2023, S. 451
Foto: Natur-Park Schöneberger Südgelände, 30. Juli 2023
Sandstrohblume, Habichtskraut, Eberesche, Hartriegel, Rispenflockenblume, Rainfarn, Nachtkerze, Weinrosen – diese Pflanzenarten und noch viele mehr, nämlich über 350 Pflanzenarten sind hier im Schöneberger Südgelände nachgewiesen!
Friedrich Gottlieb Klopstock fasst die staunenswerte Fülle, die die natürliche Umwelt uns bietet, mit folgenden Worten:
Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht, Auf die Fluhren zerstreut ; schöner ein froh Gesichte, Das den großen Gedanken Deiner Schöpfung noch einmahl denkt.
Die Natur – so erlebt der Dichter dies 1750 bei seiner Fahrt auf der Zürcher See – ist eine prachtvolle Erfinderin, deren Einfallsreichtum uns immer wieder in Staunen versetzt. Nicht der Mensch hat die Natur geschaffen, sie ist vor ihm da und wird ihn auch überdauern. Die Natur ist zunächst einmal nicht unser Gegenstand, sondern das uns Ergreifende, uns Entzückende.
Von der schimmernden See weinvollen Ufer her, Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf, Komm im röthenden Strale, Auf den Flügeln der Abendluft ;
Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn, Süße Freude, wie du ! gleich dem aufwallenden Vollen Jauchzen des Jüngelings! Sanft, der fühlenden Sch — inn gleich.
Während für das heutige besorgende, verwaltende Denken und Rechnen die Natur wie auch das Klima im wesentlichen nur noch als Lebensgrundlage des Menschen, als Menschendienliches, als eine Art gewaltige berechenbare Maschine erscheint, die es am Laufen zu halten gilt, gerät der Dichter außer sich, – er denkt über das reine Menschsein hinaus, er denkt – nach. Er weiß, dass er über die Natur (wie auch über das Klima) keine Gewalt hat.
Dies, so meine ich, sollten wir heute ebenfalls beherzigen.
Und wir Menschen – dürfen das mit Herz und Sinn, mit Verstand und Gefühl genießen. Für die durch die Medien maßlos hochgepeitschte, apokalyptische Angst vor dem vielbeschworenen Untergang der Welt, wie wir sie kennen, besteht, so meine ich, kein Anlass, nicht der geringste Anlass!
Der Natur-Park Südgelände ist ein prachtvolles Zeugnis für den Erfindungsreichtum der Natur – hier hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte fast ohne Zutun des Menschen auf einer verlassenen Eisenbahnbrache eine Lebensgemeinschaft herausgebildet, die artenreich, widerständig, lebensstrotzend, klimawandelresistent und wandelbar ist.
Gedruckte Erstfassung hier zitiert nach: 1750. Friedrich Gottlieb Klopstock: Zweyte Ode von der Fahrt auf der Zürcher See. In: Gedichte 1700-1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Jürgen Stenzel. [=Epochen der deutschen Lyrik in 10 Bänden. Herausgegeben von Walther Killy. Band 5], 2. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977, S. 243-245, hier: S. 243
Bild: Ein Blick in den Natur-Park Schöneberger Südgelände am heutigen 2. April 2023
Vor wenigen Tagen hatte ich während eines Spazierganges in der Cheruskerstraße doch tatsächlich einen Cherusker kennengelernt, wie sich nach und nach herausstellte. Wie das? Nun, da er mich lateinisch mit den Worten „Quid agis?“ angesprochen hatte, erwiderte ich ihm in derselben Sprache.
Doch merkten wir beide bald, dass wir das Lateinische nicht ganz frei von Akzentbeifärbungen sprachen. Bis gestern waren wir immer noch nicht im Bilde, woher wir stammten und was unsere Muttersprachen wären. So probierten wir es mit verschiedenen Varianten europäischer Sprachen, indem wir Sprichwörter und Zitate aus der gemeineuropäischen Literatur wie Tischtennisbälle hin und her flippen ließen.
„Iam satis terris nivis atque dirae…“ begrüßte ich ihn gestern. Denn in der Tat war sein sehnsüchtiger Wunsch nach einem richtigen Winter endlich erfüllt worden!
„… grandinis misit Pater et rubente dextera sacras iaculatus arces terruit urbem …“ ergänzte der Wandergefährte. Das war Horaz! Ich war entzückt! Endlich also hatte ich jemanden gefunden, der meine Liebe zu Horaz teilte!
„Broahut volli hut…“ schlug er auf,
„all moanada gnug“, ergänzte ich treffsicher.
Gemeint ist mit diesem uralten alemannischen Sprichwort, das mir aus dem von Walsern besiedelten Flecken Issime bekannt ist, wenn es im Brachmonat Juni genug Schnee in den Hut schneie, dann habe man in allen Monaten genug davon!
Von der Cheruskerstraße, der via Cheruscorum, führte unser Weg uns in den nahegelegenen Hortulus Naturae apud stationem Crucem Meridionis positus. Und bald stellte sich heraus, dass mein neuer Bekannter das alte Germanische in verschiedenen Dialekten beherrschte, ja sogar bei den legendär zerstrittenen germanischen Stämmen, den Cheruskern, den Brukterern, Sueben, Tenkterern, Usipeten, Chatten usw., die sich in den Auseinandersetzungen mit den Römern zu verkämpfen drohten, so manche wertvolle Hilfe als Sprachmittler und vor allem als Menschenmittler hatte leisten können.
Seine Kindheit und Jugend hatte er, aus vornehmer Familie stammend, als den Römern gestellte Geisel in Rom verbracht, und so erklärte sich auch seine hervorragende Kenntnis des Lateinischen.
Wir hatten, in unsere Gespräche vertieft, den höchsten Berg der Gegend, den Mons insularum erreicht. Wir hielten inne und vertieften das angeschnittene Thema der verschiedenen Formen verschiedener europäischer Sprachen. Da traf es sich vortrefflich, dass wir beide erst wenige Tage zuvor die Netflix-Serie „Barbaren“ gesehen hatten, und während wir mit der Darstellung der Römer völlig einverstanden waren, ja sogar begeisterte Ausrufe des Entzückens über das sehr gepflegte, sehr achtsam gesetzte Latein in dieser Fernseh-Serie ausgestoßen hatten, konnte uns das in den aufwändigen Streifen gesprochene Deutsch oder besser das „Schwundgermanische“ nicht überzeugen.
Entsprach es doch allzu sehr jenem gängigen Vorurteil der Römer oder „Lateiner“ bis in unsere Zeit, wonach das Germanische in allen seinen Varietäten roh, unbehauen, ungebärdig, fehlerhaft, dem Grunzen von Schweinen ähnlicher sei als dem feinziselierten Idiom der gesitteten Welt von südlich der Alpen.
(sermo continuabitur)
Quellennachweise: Q. Horati Flacci opera ed. Wickham, cur. H.W. Garrod, Oxonii 1975, carminum liber primus, carmen II, vv. 1-4
Schöneberg, den 8. Januar 2021 Wieder einmal führt mich der Weg durch die Wildnis des verlassenen Bahngeländes. Eine undurchdringliche, wattige Nebelschicht lässt mich die Stunde des Tages nicht erkennen. Ich halte inne, ein gestreifter Intercity fährt weiter hinten vorbei, da sehe ich sehr geschmeidig und flink ein katzenartiges Wesen auf mich zukommen. In leichtem Trab kommt es mir entgegen, es scheint mich zu mustern. Ein Kräftemessen steht an! Das Tier weicht mir nicht von meinem Angesicht, vielmehr versperrt es mir den Weg, der vor mir liegt, sodass ich mich fast zur Rückkehr entschließen muss.
Da fallen mir ein paar Verse des Dichters ein, dessen Gedenkjahr wir 2021 begehen.
e non mi si partìa d’innanzi al volto, anzi impediva tanto il mio cammino, ch’i‘ fui per ritornar più volte volto.
Vor einer Stunde habe ich die Nachricht erhalten, dass eine Einspielung mit Auswahltexten dieses europäischen Dichters soeben erschienen ist, bei der auch ich das eine oder andere Wörtlein mitzureden hatte. So sehr begleitet mich also dieser Dichter, dass selbst bei alltäglichen Begebenheiten ein Streiflicht von ihm auf die begegnende Realität fällt! Er erhellt seine, unsere dunkle Gegenwart mit einem unvergänglichen Schimmer!
Übrigens entpuppte sich das geschmeidige, flink trabende Tier sehr rasch weder als Panther, noch als Luchs noch auch als Pardelkatze, sondern als Fähe, die einer direkten Begegnung mit mir dann doch aus dem Weg ging. Stattdessen zog sie ihre Spur in einem weiten Bogen links von mir, schnürte dann vor meinen Augen von links zu meiner rechten Seite, witterte, äugte misstrauisch zu mir und setzte, immer wieder niederhockend, ihre Markierungen, um mir eindeutig mitzuteilen: das hier ist mein Revier, du wirst es mir nicht streitig machen!
Gehab dich wohl, Fähe!
Genug! Für mich ist es Anlass, die drei zitierten Verse selbst ins Deutsche zu übersetzen:
und wich mir nicht von meinem Angesicht, vielmehr versperrt‘ sie mir so sehr den Weg, dass ich beinah zur Rückkehr mich gericht.
Die Einspielung ausgewählter Textabschnitte des genannten Dichters ist nunmehr in 33 verschiedenen Sprachen unter folgendem Link abrufbar:
Registrazione a cura di: Istituto Italiano di Cultura di Berlino Direttrice: Maria Carolina Foi Lingua: Tedesco Casa editrice: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Ditzingen, 2010 (vol. I), 2011 (vol. II), 2012 (vol. III) Traduttore: Hartmut Köhler Voci: Timo Weisschnur, Eva Maria Jost, Johannes Hampel
Un progetto del Ministero degli Affari Esteri e della Cooperazione Internazionale in compartecipazione con il Comune di Ravenna e in collaborazione con il Teatro delle Albe/Ravenna Teatro. Si ringrazia la Civica Biblioteca Guarneriana di San Daniele del Friuli per aver concesso la riproduzione in copertina della miniatura (c.1r) del Manoscritto 200.
Freude, Natur-Park Schöneberger SüdgeländeKommentare deaktiviert für Das neue Jahr 2021, es regt sich munter, froh und quicklebendig – und hinterlässt erste Spuren!
Jan032021
Herrlicher Januar 2021! Seit heute liegt hier auch Schnee! Findet Ihr auf obenstehendem Foto das Eichhörnchen? Es wohnt hier in meiner Nähe in Natur-Park Schöneberger Südgelände.
Was für ein rätselhaftes Wesen mag hier heute im Schöneberger Hans-Baluschek-Park seinen Fußabdruck hinterlassen haben? War es Yeti, der Schneemensch? Wir fanden mehrere dieser Fußabdrücke in weitem Abstand voneinander.
Kalb mit Albert Einstein, Tälchenweg, Naturpark Schöneberger Südgelände, 10.10.2020
Wo ich geh und wo ich steh, stets ein Bild von mir ich seh; auf dem Schreibtisch, an der Wand, um den Hals am schwarzem Band.
Männlein, Weiblein wundersam holen sich ein Autogramm. Jeder muss ein Kritzel haben von dem hochgelehrten Knaben.
Mensch, so frag in all dem Glück, ich im lichten Augenblick: Bist verrückt du etwa selber oder sind die andern Kälber. Albert Einstein
Nun, der große Schöneberger Mitbürger, der zuhause in der Küche so gern Mozart auf seiner Geige spielte – und der auch gern auf den Spuren Heinrich Heines lustige, witzige und bissige Vierzeiler verfasste -, er würde das neueste Porträt, das ich am vergangenen Samstag in der quicklebendigen Kunstgalerie des Schöneberger Tälchenweges fand, sicherlich halb geschmeichelt, halb belustigt als eine der zahllosen auf ihn niederprasselnden Ehrungen über sich ergehen lassen.
Einstein lebt!
Zitatnachweis: Sebastian Murken: Albert Einstein im Portrait. Sein Bild in der Kunst von 1920 bis 1955. Unter Mitarbeit von Antonia Güthoff. Katalog anlässlich der Ausstellung vom 23.10.2014 bis 27.02.2015 im Einstein Forum, Potsdam, S. 32, Rückumschlag
Ein Blick in den Natur-Park Schöneberger Südgelände
Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh’ man es denkt, gefunden;
Eine Zusammenfügung des Widerstrebenden, also des Naturhaft Gewachsenen und des technisch Gefertigten, ist der Künstlergruppe ODIOUS im Natur-Park Schöneberger Südgelände gelungen! Der Widerwille ist auch mir verschwunden, Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Felix Müller schrieb gestern in seinem schönen Beitrag für die Berliner Morgenpost über dieses Gelände:
„Auf 18 Hektar Fläche, früher teils Rangierbahnhof Tempelhof, teils Trasse der Anhalter und Dresdener Bahn, kann man hier ein Wunderwäldchen erkunden, eine fast magische Mischung aus überwucherten Eisenbahnanlagen, Kunstobjekten, bemalten Wänden und seltenen Pflanzen.“
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen! Und wenn wir erst in abgemess’nen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
Felix Müller erkennt sehr treffend, was den unglaublichen Reiz dieser sich selbst überlassenen Insel der Natur mit den sicher gebaueten Stegen ausmacht, nämlich „…dass es hier nicht nur darum geht, den Besuchern trockene Füße zu sichern. Es geht um Naturschutz: Unter dem Gitter können sich die Tiere besser bewegen, und man läuft nicht irgendwohin und stört brütende Vögel.“ Eine Freude! Natur und Technik, sie scheinen sich zu fliehen, und haben sich, eh man es denkt, gefunden!
So ist’s mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Dabei sollten wir nicht vergessen: Zu Goethes Zeit verstand man unter Kunst auch die Kunstfertigkeit im weitesten Sinne, alles Menschengemachte, also das, was das alte griechische Wort für Kunst einschloss, nämlich τέχνη, techne, d.i. alles, was seinen Ursprung nicht aus sich selber hat, – im Gegensatz zu dem, was seinen Ursprung in sich selber trägt, die „Natur“, griechisch φύσις genannt.
Wer Großes will muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Ich bin sicher: Auch Goethe würde hier in diesem Wunderwäldchen täglich Erquickung suchen und finden!
Quellenverzeichnis: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen„, in: Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1800-1832. Hg. von K. Eibl, Frankfurt 1998, S. 838-839
Felix Müller: Ein Leben für die Kunst. Berliner Spaziergang. Berliner Morgenpost, Sonntag 09. Februar 2020, S. 3
The grass, the thicket, and the fruit-tree wild- White hawthorn, and the pastoral eglantine… Hundsrosen im Südgelände, die Schwestern der Eglantine, wachsen Seit an Seit mit Gras, mit Dickicht und mit wildem Obst! Aufnahme vom 26.05.2019
[…] ‚Tis not through envy of thy happy lot, But being too happy in thine happyness- That thou, light-winged Dryad of the trees, In some melodious plot Of beechen green, and shadows numberless, Singest of summer in full-throated ease. […]
Too happy in thine happyness – oft schon rang ich nach Worten, wenn ich dem unbeschreiblich süßen, dem unverhofft sehnenden Nachtigallensang hier in Schöneberg nachsann. Bis zum heutigen Tag singen und klagen einige Männchen weiter, sie klagen uns wohl ihr Leid, denn nur die Männchen, die kein Weibchen gefunden haben, singen noch so spät im Jahr, während ihre jäh verstummten, ernüchterten, bürgerlichen Geschlechtsgenossen jetzt mit Nestbau und Brutpflege befasst sind.
Was soll ich auch sagen zu dieser Fülle des Wohllauts, diesem Erfindunsgreichtum, dieser Mannigfaltigkeit an Tönen, diesem süßen Schmelz, dieser Ausdruckskraft?
Thou singest in fullthroated ease, so fasst diesen Eindruck des Nachtigallenschlags der aus London stammende John Keats, und er trifft damit das Geheimnis nicht nur des Nachtigallensangs, sondern des Singens überhaupt: „vollkehlige Leichtigkeit“, völlige Öffnung des Schlundes, des „Schlotes“, bei gleichzeitiger Lockerheit des Schnabels, Strömenlassen der Lautwerkzeuge, während der übrige Körper fest im Gebüsch verankert ist, als beweglicher stämmiger Resonanzraum ganz verschmilzt mit den Girlanden und Melodienranken des Sängers, so habe ich einige Nachtigallen hier in Schöneberg gesehen, und so hörte ich zwei von ihnen auch heute, am 1. Juni 2019, im geöffneten Fenster meines Zimmers lehnend.
Einige andere Vogelarten erhoben da im zartesten Morgengrauen ebenfalls ihre Stimme, ich meinte insbesondere auch den Gartenrotschwanz zu vernehmen, den ich einige Mal schon hier im Gehölz sah und hörte. Sein Gesang beginnt „mit einem gedehnten hohen Ton, dem einige kürzere und tiefere Töne folgen, weiter klingelnde Passagen, in die auch raue Töne und Imitationen eingebaut sind, mit einem schwachen Trillern endend… „
Endend? Das Ende? Darf so etwas Schönes enden? Ja, es muss enden! Aber es wird wiederkehren, John Keats! Es ist wieder da! John, es ist kein Wachtraum, es ist, war, und es wird sein.
Adieu! adieu! thy plaintive anthem fades Past the near meadows, over the still stream, Up the hill-side; and now ‚tis buried deep In the next valley-glades: Was it a vision, or a waking dream? Fled is that music:—do I wake or sleep?
Zitatnachweise: John Keats: Ode to a Nightingale, in: The Oxford Book of English Verse. Edited by Christopher Ricks. Oxford University Press, 1999, S. 403-404 Eckart Pott: Gefiederte Stars. 4., aktualisierte Auflage. Franckh-Kosmos-Verlag, Stuttgart 2019, hierin: Nachtigall, S. 24; Gartenrotschwanz, S. 30
Die ersten Blättchen entrollen sich an einem Rosenstrauch. Schöneberg, Natur-Park Südgelände, 21.03.2019
Woher das Leben? Woher diese ungeheuerliche Kraft, mit der diese Strauchrose genau gestern, am 21. März 2019 ihre Blätter nach dem Scheintod des Winters austreibt? Ich kam nicht umhin, ins Staunen zu versinken, als wäre dies der erste Frühling, den ich erlebte, als wäre dies der letzte Frühling, den ich erlebte.
Ringsum herrscht noch metallene Glätte, Rauhheit – dieser Strauch wagt sich hervor!
Dahinter steckt nicht zuletzt auch das Wunder der Photosynthese. Kohlenstoffdioxid, dieses derzeit so viel gescholtene, so übel beleumundete Molekül, das völlig zu unrecht als „klimaschädlich„, als „Klimakiller“ oder gar als „Klimagift“ oder gar als „Gift“ angeschwärzt und verteufelt wird, ist der Ausgangsstoff dieses Prozesses, der weltweit das gesamte Leben der Tierwelt einschließlich des Menschen trägt und buchstäblich nährt. Durch Photosynthese stieg im Laufe der letzten beiden Milliarden Jahre der Sauerstoffgehalt auf die heutigen 21%, die uns Säugetieren ein ruhiges Ein- und Ausatmen ermöglichen.
Nur etwa 0,038 Volumenprozent der heutigen Erdatmosphäre sind Kohlenstoffdioxid, also Kohlendioxid, das als der entscheidende Feind gilt, den die gesamte Klimapolitik mit wilder Entschlossenheit niederringen will. Denn Messungen haben ergeben, dass der Kohlenstoffgehalt der Luft etwa ebenso schnell steigt wie die mittlere Lufttemperatur. Daraus leiten die meisten ernstzunehmenden Wissenschaftler eine Ursache-Wirkungs-Beziehung ab und erklären den Anstieg des Kohlenstoffgehaltes zum Haupttreiber des derzeit zu beobachtenden Klimawandels. Alle zwischenstaatlichen Klimaschutzabkommen, die gesamte Klimapolitik drehen sich um die Vermeidung des Anstieges des Kohlenstoffgehaltes in der Atmosphäre.
Das überragende Ziel der klimapolitischen Maßnahmen ist die Verhinderung der Zunahme des CO2-Gehaltes in der Luft und damit die erhoffte Begrenzung des Anstiegs der mittleren Lufttemperatur auf 2,0 bzw. besser 1,5 Grad Celsius.
Als einer von zahllosen Belegen dafür sei die Stellungnahme der 18.000 deutschsprachigen Scientists for Future angeführt, wo als die eindeutige, ja einzige operative Richtschnur jeder Klimapolitik zum tausendsten oder auch abertausendsten Male die möglichst radikale Absenkung der Kohlendioxidemissionen (und anderer Treibhausgasemissionen) angegeben wird:
Es kommt nun darauf an, die Netto-Emissionen von CO2 und anderen Treibhausgasen schnell abzusenken und weltweit spätestens zwischen 2040 und 2050 auf null zu reduzieren. Eine schnellere Absenkung erhöht hierbei die Wahrscheinlichkeit, 1,5 °C zu erreichen. Die Verbrennung von Kohle sollte bereits 2030 fast vollständig beendet sein, die Verbrennung von Erdöl und Erdgas gleichzeitig reduziert werden, bis alle fossilen Energieträger durch klimaneutrale Energiequellen ersetzt worden sind. Unter Berücksichtigung von globaler Klimagerechtigkeit müsste in Europa dieser Wandel sogar noch deutlich schneller ablaufen.
https://www.scientists4future.org/stellungnahme/
Hierzu ist freilich zu sagen, dass CO2 weder giftig noch ein Klimakiller ist. Es gibt selbstverständlich die wandelbare Erdatmosphäre, also Klimawandel der einen oder anderen Art auch ohne Kohlendioxid. Mehr noch: Kohlendioxid ist ein notwendiger Ausgangsstoff für das gesamte heterotrophe Leben, also für alle Lebewesen, die ihre Nahrung nicht durch Photosynthese selbst erzeugen können, darunter wir Menschen.
Doch diese Überlegungen sollten uns nicht daran hindern, mit ungeheurer Freude das Erwachen des Frühlings zu preisen!
Sei mir willkommen, Frühling, du lang ersehnter Gast! Dank an den Strauch im Schöneberger Süd-Park, danke an die 0,038 Volumenprozent Kohlenstoffdioxid, danke an die 21 Volumenprozent Sauerstoff, Dank an den Sauerstoff, der in meinen Adern rinnt, während ich hier dies schreibe!
Innerhalb weniger Tage hat sich die Natur mit zartem Grün geschmückt. Der Gesang der Nachtigallenmännchen ertönt regelmäßig nachts, wenn der Tau gefallen ist, aber sehr wohl tagsüber auch hier im Südgelände-Park fast bei jedem Besuch!
Wenn man Glück hat, bekommt man hier einen Habicht zu Gesicht. So geschah es mir heute. Etwa 2 Minuten lang beobachtete ich einen Habicht, der gerade seine Beute kröpfte. Dann schien er zu bemerken, dass er nicht allein war, und erhob sich in kraftvollem Flug. Nach wenigen Sekunden war er meinem Blick hinter einem Birkenstamm entzogen.
Io ritornai da la santissima onda rifatto sì come piante novelle rinnovellate di novella fronda com’è puro e disposto a salire alle stelle.
88 weltweit anerkannte Sternbilder gibt es. Ihre Namen gehen zum Teil auf antike Sternsagen zurück. Ursa major, Haar der Berenike, Perseus, Pegasus, Phoenix … der munter erzählende Astronom in der Wilhelm-Foerster-Sternwarte bot uns gestern nacht einen sehr aufschlussreichen Sternenspaziergang. Wir fanden auch den Polarstern, indem wir fünf Mal die Hinterachse des Großen Wagens abtrugen, der Teil des Großen Bären, Ursa maior, ist.
In jeder Betrübnis, die Geist und Sinn gefangen hält, kann der Mensch sich wieder durch Betrachtung des gestirnten Himmels aufrichten. Die oben angeführten Verse vom Ende des Purgatorio beweisen dies. Dante fühlt sich nach längeren Gesprächen über die Unzuverlässigkeit seiner Erinnerung erschöpft. Der Anblick des Sternenhimmels macht ihn neu. Er gewinnt Zutrauen, er gewinnt seine Erinnerung zurück. Er fühlt sich wie ein begrünter Zweig, der mit frischem Laub wiederbelebt wird.
Die unendliche Größe der Welt, die uns gestern vor Augen geführt wurde, wird aufgewogen durch die strahlende, überschießende Freude beim Anblick des ersten zarten Grüns und dieser frischen Weidenkätzchen im Schöneberger Südgelände.