Was ist bloß los mit der schreibenden Zunft? Ein ganzer Artikel über die mühselige Existenz der Berliner Job-Center-Kunden, ohne dass auch nur ein einziges Mal das Wort „Armut“ fiele? Das gab’s noch nicht! Lebe ich denn nicht in Kreuzberg, einem der ärmsten Viertel in der Armutshauptstadt der Bundesrepublik, wie ein Blick auf den Sozialatlas lehrt?
Armutshauptstadt Berlin, Transferhauptstadt, Umverteilungsmetropole Berlin, was stimmt?
Autor Hans Evert bringt uns auf Seite 3 der heutigen Berliner Morgenpost der Wahrheit schon näher. Anhand einiger weniger Fallbeispiele mit geänderten Namen schildert er das unendliche Karussell an Maßnahmen, Bewilligungen, Bescheiden, Einsprüchen, Bedürftigkeitsprüfungen, Einzelfallgerechtigkeitserwägungen, in denen die jahrzehntelange Karriere der Stammkunden der Job-Center heutzutage besteht. Derartige Fallgeschichten sind repräsentativ, zumal für die jungen Männer unter 35 mit Schulabschluss und oft gar mit Berufsausbildung. Ich kenne Dutzende solcher Geschichten. Entscheidend für die Verstetigung der Hilfekarrieren ist stets, dass der Bedürftige glaubhaft machen kann und ab einem gewissen Punkt auch selbst darauf vertraut, dass er nicht selbst seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.
So erzieht sich das Job-Center Stammkunden, die Beschäftigung von Hunderten neuer Stammkundenberater im Job-Center wird dauerhaft gesichert.
Wir alle wissen: Eben dieser „Bedürftige“, also der gesunde, arbeitsfähige Mann unter 50, wird sofort an der nächsten Ecke genug Arbeitsangebote finden, mit denen er seine Sozialhilfe verdoppeln oder verdreifachen kann. Ich bin überzeugt: Jeder gesunde junge Mann könnte von heute auf morgen in Berlin ohne jede staatliche Unterstützung seinen Lebensunterhalt bestreiten.
Und genau das wäre auch das beste für ihn: Keinerlei staatliche Unterstützung nach Ende der Ausbildung für junge, ledige, kinderlose und gesunde Menschen. Es würde sich wie ein Lauffeuer herumsprechen: Mensch, in Deutschland muss man nach Ende der Ausbildung neuerdings arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten – unerhört! Mensch, der deutsche Staat kuckt neuerdings genauer hin.
Letzter überraschender Kunstgriff, den ich vor wenigen Wochen auf der Straße lernte: die Anmeldung von Hunderten und Aberhunderten von Lohnaufstockern in kleinen selbständigen, inhabergeführten Betrieben, zum Beispiel in Spielcasinos, gastronomischen Einrichtungen, Ramsch- oder Handyläden, dem Rückgrat der New Economy in Neukölln und Kreuzberg. Die Papiere sind in Ordnung. Der Staat lässt sich nicht lumpen, legt großzügig etwas auf die ausbeuterischen Hungerlöhne drauf. Nach wenigen Jahren folgt planmäßig der Konkurs und die Auflösung des kleinen Unternehmens mit den vielen Lohnaufstockern und die gezielte Entlassung der Angestellten in die Arbeitslosigkeit. Durch die wenige Jahre dauernde Beschäftigung als geringverdienender Angestellter hat der Lohnaufstocker planmäßig seinen Anspruch auf jahrzehntelange Sozialhilfe und andere Unterstützungsleistungen für sich und seine Angehörigen erworben. Auch die steigenden Heizkosten werden gern vom Berliner Senat in alter Spendierlaune übernommen. Das Ganze ist vollkommen legal. Es funktioniert, denn die betriebswirtschaftliche Plausibilität derartiger Beschäftigungsverhältnisse wird durch das Amt nicht überprüft. Die Integration ins deutsche Sozialsystem ist perfekt, hurra.
Die heutige Sozialgesetzgebung mit ihrem Gestrüpp an Anspruchsarten, ihren endlosen Bedürftigkeitsprüfungen, ihren Umschulungs- und Eingliederungsmaßnahmen ist eine Einladung zur Verantwortungslosigkeit und zur Schwarzarbeit. Sie entmündigt unsere armen Bedürftigen.
Ich meine: Ein gesunder lediger junger Mann mit Schulabschluss und Berufsausbildung braucht keine Hilfe vom „Job-Center“. Es ist schlicht abenteuerlich, was hier an staatlicher Verwöhnung und Verhätschelung abgeht. Ich kann den Damen und Herren Sozialpolitikern, insbesondere den Bundestagsabgeordneten nur empfehlen, Bekanntschaften mit den Armen und Bedürftigen vom unteren Ende der Erfolgsleiter zu schließen und sich von ihnen eine Einführung ins deutsche Sozialhilfewesen gewähren zu lassen – oder am besten gleich in ein Armutsviertel zu ziehen. Lasst euch doch die Geschichten erzählen!
Bilanz: Der Stammkundenstatus beim Job-Center ist für die jungen Menschen eine willkommene Ressource, um darauf aufbauend einen bescheidenen, aber durchaus hinreichenden Wohlstand zu begründen.
Nächste Schritte: Die dringend gebotene Reform der deutschen Sozialgesetzgebung muss vom Prinzip der Einzelfallgerechtigkeit wegkommen und sich hinbewegen auf Ermunterung, Ertüchtigung, Entwöhnung vom Mündel-Status. Viele Hilfearten nach dem SGB müssen vereinfacht, viele müssen ersatzlos gestrichen werden. Andernfalls geht die Staatsausplünderung und die Lähmung der Menschen weiter.
http://www.morgenpost.de/berlin-aktuell/article106241817/Fuer-viele-Berliner-ist-das-Jobcenter-ein-ewiges-Sozialamt.html