Langsam lesen, ja das ist’s!

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Jan 272024
 

Close reading, langsam lesen, klingen lassen, vorlesen, hören, zuhören, eintauchen in das dichte Gespinst, das feine Gewebe, den teilweise unentwirrbaren Knaul aus Gedanken, Gefühlen, Erlebtem und Erfahrenem, diesen groviglio, garbuglio, o gnommero, wie es der dottor Ingravallo, von dem uns Carlo Emilio Gadda berichtet hat, immer wieder zu sagen pflegte. Das ist es! Das wäre es!

Darüber, über diesen Knaul der Vielfalt, schreibt Italo Calvino:

„Carlo Emilio Gadda cercò per tutta la sua vita di rappresentare il mondo come un garbuglio, o groviglio, o gomitolo, di rappresentarlo senza attenuarne affatto l’inestricabile complessità, o per meglio dire la presenza simultanea degli elementi più eterogenei che concorrono a determinare ogni evento.“

Nachweis: Italo Calvino: Molteplicità. In: Italo Calvino: Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millenio. Con uno scritto di Giorgio Manganelli. Milano, Mondadori 2023, Seite 103-122, hier Seiten 103 und 105

Foto: Tagliatelle con ragù alla bolognese – ein unentwirbarer Knaul. Gesehen, gegessen, genossen am 18. Januar 2024 im Talea, Botanisches Bistro, Ebersstr. 27A, Berlin-Schöneberg

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Die Schrift ein Knaul

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Jan 132024
 

„Dasjenige, was von meinen Bemühungen im Drucke erschienen, sind nur Einzelnheiten, die auf einem Lebensboden wurzelten und wuchsen, wo Thun und Lernen, Reden und Schreiben unablässig wirkend einen schwer zu entwirrenden Knaul bildeten.“

Eine höchst merkwürdige Selbstaussage Goethes ist dies, die mir seit einigen Wochen nachschleicht und beschäftigt hält! Hatten wir uns nicht angewöhnt, in Goethe einen Zögling und Meister der Form zu erblicken? Wie konnte er so spät, nämlich im Jahr 1816, rückblickend auf sein eigenes Leben jede Form, jedes literarische Gestalten als vorläufigen, als tastenden Versuch des Ordnungsschaffens in der Wirrnis erklären?

Ist es nicht so: Allzu oft erwarten wir vom gedruckten Wort, vom wohlgeformten Werk eines Dichters oder Schriftstellers eine Botschaft über das, was das Leben ist und meint, was der Sinn ist oder sein könnte: und doch werden wir immer wieder enttäuscht! Ja, der Dichter selbst wird immer wieder enttäuscht. Die Schrift ist nichts Endgültiges: sie ist etwas Abgeleitetes, etwas aus dem unklaren Erfahren und Erleben buchstäblich Herausgesponnenes. Sie ist also kein Abbild dessen, was ist oder sein könnte, sondern ein Versuch, sich einen „Reim auf das Ungereimte“ zu machen. Die Literatur, die Schrift ist nichts Letztes, ist nicht der Weisheit letzter Schluss und wird es nie sein.

Möglicherweise waren es solche Gedanken, die Goethe im letzten Drittel seines Lebens wieder und wieder beschäftigten, die ihn dazu führten, sich selbst, sein ganzes vielbändiges Werk als einen Versuch zu sehen, Licht ins Dunkel zu werfen, Unerklärliches zu erklären und dann wieder im Dunklen, im Unerklärlichen stehen zu lassen – oder besser: verschwinden zu lassen.

Zitat:

Johann Wolfgang Goethe: Summarische Jahresfolge Goethe’scher Schriften. Über die Ausgabe der Goethe’schen Werke. Morgenblatt 1816. Nr. 101. Zitiert nach: Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 42. Band, Erste Abtheilung. Hermann Böhlaus Nachfolger, Weimar 1904, Seite 81

Foto:

Blick vom Goetheturm am Sachsenhäuser Landwehrweg auf die Stadt Frankfurt. Foto mit Skizzenbuch des Verfassers, 20. Oktober 2023

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Sahen sich die Dichter Homer und Dante als Schriftsteller?

 Dante, Homer, Italienisches, Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Singen  Kommentare deaktiviert für Sahen sich die Dichter Homer und Dante als Schriftsteller?
Sep 102020
 

Così vidi adunar la bella scola
di quel signor signor dell’altissimo canto
che sovra li altri com’aquila vola.

So Dante Alighieri, Commedia, Inferno, Canto IV, 94-96

„Mit Homer beginnt die europäische Literaturgeschichte.“ In jeder Literaturgeschichte wird man etwas in diesem Sinne finden können. „Dante ist der größte Schriftsteller italienischer Sprache.“ Wer wollte gegen diese Feststellungen etwas einwenden?

Nun, zunächst einmal Dante selbst. Bekanntlich bezeichnet er die 100 einzelnen Abschnitte seiner Commedia nicht als „Kapitel“, „Bücher“, „Texte“, „Schriften“, „Akte“, „Briefe“ oder ähnliches, sondern ausschließlich als Lieder, Gesänge, als „canti“. Die drei Großbauteile der gesamten Commedia wiederum nennt er „cantiche“, in etwa wiederzugeben als „Sangeswerke“, „Gesangsgruppen“. Gesang singt und klingt bei Dante allüberall, nicht stummer, zum Lesen geschriebener Text!

Im vierten Gesang des Inferno wiederum bezeichnet Dante Homer als den „signor dell’altissimo canto“, also als den Herrn, den Herrscher des höchsten Gesanges, den Fürsten des Singens.

Und von Homer – so es ihn denn als Person gegeben hat – wissen wir, dass er seine Gesänge nicht aufschrieb, sondern sie mündlich aus dem Gedächtnis vortrug, gesanglich darbot. Homer soll blind und des Schreibens unkundig gewesen sein. Wolfgang Schadewaldt schrieb mit guten Gründen sein Büchlein über „Die Legende von Homer, dem fahrenden Sänger“. Homer war nicht Literat, er war Sänger.

Kurzum: Wir verfehlen das von Homer und von Dante Gemeinte fundamental, wenn wir ihre aufgeschriebenen Texte, die uns ja unter ihrem Namen in der Tat vorliegen, als Endzweck sehen, als Literatur, die der Literaturwissenschaft als Gegenstand dienen sollte.

Nein, es waren – und sind! – zum singenden klingenden Vortrag gedachte, rhythmisch durchgebildete, sich nicht im geschriebenen oder gedruckten Wort erschöpfende Kunstgebilde. Es sind Gesänge.

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Handschrift – du holde Kunst, ich danke dir!

 Eigene Gedichte, Freude, Georgien, Griechisches, Platon, Schriftlichkeit, Technik, Tugend, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Handschrift – du holde Kunst, ich danke dir!
Jan 242019
 
Abschnitt der Inhaltsangabe (fabula) zum Gefesselten Prometheus des Aischylos, unbekannte Entstehungszeit. Enthalten bereits in der ältesten vorhandenen Handschrift, die uns den Gefesselten Prometheus überliefert, dem Codex Mediceus M (Handschrift) aus dem 9./10. Jahrhundert. 2019 durch den hier Schreibenden erneut handschriftlich entnommen der 1972 im englischen Oxford erschienenen Druckausgabe der Tragödien des Aischylos (ed. Denys Page, Oxonii 1972)

Gestern begingen wir den Tag der Handschrift. Anlass, mich ungescheut hier an dich, die Handschrift, zu wenden!

Welche Lust bereitet es mir, nach Jahren des Handschrift-Fastens mit dem Füllfederhalter zu schreiben, die Feder Zeile um Zeile hinwandern zu lassen über das leicht angerauhte Papier meiner Tages-Kladde! Die Mühsal des Kindes nachzuempfinden, das über die harte Schulbank gebeugt mit der Bewegung der Hand sich unauslöschlich einprägt den Schlüssel zum ungeheuren Schatz, den die Menschheit sich mit einer winzigen Anzahl Zeichen geschaffen hat.

Was wären wir ohne dich, o Handschrift! Wir wären unendlich ärmer. Wir stünden vor der Geschichte der letzten 3000 Jahre wie vor den milliardenjahrealten Granitsteinen. Dann gölte, dass –

Gebirgesmasse blieb‘ uns edel-stumm
Wir fragten nicht woher und nicht warum.

Wir bissen uns die Zähne am Granitgestein der Vergangenheit aus. Wir hätten keinen Aischylos, keinen Platon, keinen Thukydides, keine Bibel. Keinen Koran, keinen Newton, keine Hildegard von Bingen, keine Sappho, keinen Messiah von Händel mit dem Berliner Figuralchor am kommenden Sonntag um 19.30 Uhr im Kammermusiksaal der Philharmonie! Denn komponiert wurde und wird mit der Handschrift. Händel hat so komponiert, Bach auch, Mozart auch.

Wir hätten die Prometheus-Hymne von Goethe nicht. Denn Goethe schrieb sie eines uns unbekannten Tages im Zeitraum ab Oktober 1773 bis vielleicht 1775 von Hand. Gäbe es die Handschrift nicht, hätte Goethe die Prometheus-Hymne mit Sicherheit ganz anders gedichtet. Wir wären um so vieles ärmer! Wir wären um so vieles stummer!

Handschrift, du holde Kunst,
In wievielen trüben Stunden,
Hab ich durch dich beglückt mich erst empfunden,
Aufgerichtet, gewärmt, geborgen!
In dich hinein, da flossen alle Sorgen,
Du nahmst sie alle auf, du gabst sie weiter,
In dir entstand die Himmelsleiter,
Durch dich erst sprach zu uns der Raum,
In dir gewann Gestalt der Traum.
Handschrift, du ew’ge Kunst, du Schenkerin der Menschheit –
ich danke dir.

Der oben handschriftlich wiedergegebene griechische Text lautet übersetzt: „Das Bühnenbild der Handlung liegt im Skythenland am Kaukasischen Gebirg; der Chor wiederum wird durch Okeaniden-Nymphen gebildet. Aisch“[ylos?] (Handschrift bricht unvollendet ab)

 Posted by at 16:15

„Lautes Lesen, das sich wie ein Singsang anhört“

 Donna moderna, Einzigartigkeiten, Frau und Mann, Hebraica, Heiligkeit, Katharina, Mündlichkeit, Schriftlichkeit  Kommentare deaktiviert für „Lautes Lesen, das sich wie ein Singsang anhört“
Mrz 082018
 

Die hebräische Bibel, so schreibt es zutreffend Eckhard Nordhofen, ist „kein Lesebuch, sondern in den meisten Passagen eine Rezitationsvorlage.“ Die der Bibel angemessene Darbietung sei somit nicht das stumme Nachlesen, sondern das Vorlesen, „lautes Lesen, das sich nicht wie normales Sprechen anhört, sondern eher wie ein Singsang„. In diesem Singsang, schreibt Nordhofen, werde die Heiligkeit des „Namens“ hörbar gemacht.

Und „der Name“ ,“ha-schem“ ist eben genau dasjenige Seiende oder vielmehr dasjenige Werdende, welchem die Bibel das Merkmal der „Einzigkeit“ beilegt. Der Einzige ist das Einzigartige, zu dem kein aussprechbarer Name hinreicht.

Gute weiterführende Anmerkungen sind dies. Ich denke sie stumm durch im Anblick der Katharina von Alexandrien, dieser großartigen Frau aus Ägypten. Stark, klug, mutig gegenüber männlicher Vorherrschaft, unbeugsam, unerschrocken, nicht dem Willen des Mannes untertan, von hoher philosophischer und theologischer Bildung, so stand sie gestern vor mir in der Hauptkirche St. Katharinen am Hamburger Hafen.

Ihr, dieser vorbildlichen, gewaltlosen Vorkämpferin der Frauenrechte sei mein heutiger Internationaler Frauentag, der 8. März gewidmet. Unser Bild zeigt sie in St. Katharinen in einer figürlichen Darstellung, mutmaßlich aus Süddeutschland, 15. Jahrhundert.

Zitat:
Eckhard Nordhofen: Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus. Freiburg 2018, S. 125

 Posted by at 11:35

Fordern die „heiligen Texte“ der „drei monotheistischen Religionen“ in besonderer Weise zur Gewalt auf?

 31. Oktober 1517, Kanon, Mündlichkeit, Schriftlichkeit  Kommentare deaktiviert für Fordern die „heiligen Texte“ der „drei monotheistischen Religionen“ in besonderer Weise zur Gewalt auf?
Feb 162015
 

Gewalt im Namen Gottes – dieses Thema brennt buchstäblich auf den Nägeln Europas.

„Nun, Kreuzberger, hast du denn deine Wittenberger Thesen an die Schlosskirchentür oder an den Durchgang zur Leukorea geheftet?“ So fragte mich eine Zuhausegebliebene in Berlin, kaum dass ich dem Regionalexpress  von Wittenberg nach Berlin-Südkreuz entstiegen war. Es war der Reformationstag des Jahres 2014.

„Nein“, erwiderte ich. „Die Schlosskirche in Wittenberg ist weiterhin durch einen Bauzaun eingerüstet, und am Durchgang zur Leukorea hatten zahllose Besucherinnen aus aller Welt bereits ihre Thesen angepinnt. Es war kein Platz für weitere schriftliche Thesen mehr vorhanden. So beschränkte ich mich darauf, einige mutige Antithesen zu Jan Assmanns 5 gewagten Thesen über den Zusammenhang von Religion und Gewalt in der mündlichen Aussprache vorzutragen.“

Sind die drei „monotheistischen Religionen“ besonders zur Gewaltausübung geneigt? Man könnte es meinen! Dazu lesen wir heute schwarz auf weiß in der FAZ gedruckt in einem Text aus der Feder von drei Mitgliedern des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster:

„Die heiligen Texte aller drei monotheistischen Religionen enthalten Passagen, die wörtlich genommen die unnachgiebige Vernichtung von Gottesfeinden, Gottesfrevlern, und -lästerern fordern, dies als Befehl Gottes an seine Auserwählten deklarieren und verheißen, dass diesbezüglicher Eifer durch Gott reich belohnt werde.“ 

Was ist über diese und ähnliche Behauptungen zu sagen?

Was haben wir aus Kreuzberger Sicht gegenüber diesen und ähnlichen Behauptungen der Wittenberger Disputanten gesagt?

Prima antithesis Kreuzbergensis contra professores
Der Begriff des „heiligen Textes“ ist mindestens für das Christentum in hohem Maße irreführend.

In der Nachfolge Jesu Christi gibt es strenggenommen keinen unantastbaren, unveränderlichen, heiligen Text und kein heiliges Buch. Zwar gibt es – oder gibt er, nämlich Jesus Christus – das gesprochene oder gesungene Wort Gottes. Es gibt in der Gemeinde Jesu Christi kanonische Schriften – namentlich die Bücher des Alten und des Neuen Testaments. Aber es gibt – oder Jesus gibt – keinen heiligen, unveränderlichen, maßgeblichen Text. Kein einziges Wort, kein Eigengut Jesu Christi ist im aramäischen Original erhalten.

Es gibt – oder Jesus Christus gibt – nur noch fundamental auslegungsbedürftige, grundsätzlich übersetzungsbedürftige, zu verdolmetschende, wandelbare und verwandelnde Worte. Die Bibel der Christen, der Gott Jesu ist kein feste Burg!

In einem lateinisch verfassten Brief schreibt der Bibelübersetzer Martin Luther an den Bibelübersetzer Johannes Lange aus der Burg Eisenach nach Erfurt am 18. Dezember 1521: Möge doch ein jede Burgfeste ihren eigen Dolmetscher haben, damit dies Buch in Sprach, Hand, Aug und Ohr jedes Menschen wandle und ihn verwandle.

Belege:

Gerd Althoff, Thomas Bauer, Perry Schmidt-Leukel: Wie auch Christen und Buddhisten metzeln. Das Gewaltpotenzial von Religionen steht nach den Anschlägen in Paris und Kopenhagen im Zentrum der Aufmerksamkeit und prägt die Wahrnehmung des Islams. Aber die anderen Weltreligionen stehen nicht zurück. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Februar 2015, S. 12

Jan Assmann: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. Carl Hanser Verlag, München 2003.

 Posted by at 14:12

Beziehungen sind das A und O

 Integration, Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Türkisches  Kommentare deaktiviert für Beziehungen sind das A und O
Okt 102010
 

Trotz allem – die Debatte geht weiter, Bülent Arslan hat einige sehr gute Dinge gesagt, die sicherlich auch für Berlin gelten, nicht nur für NRW. Seh ich fast alles genauso. Lest selber:

Wie ticken die Türken in Deutschland, Herr Arslan? – Politik – Berliner Morgenpost – Berlin
Einen Integrationsvertrag abzuschließen, nützt wenig. Die türkische Kultur ist beziehungsorientiert, die deutsche dagegen sachorientiert. Das heißt, eine mündlich getroffene Vereinbarung hat eine größere Wirkung. Das ist auch so ein kultureller Unterschied.

 Posted by at 23:15
Jul 202010
 

Ein harter Brocken, was hier in der Überschrift steht! Dennoch gefällt mir dieser philosophisch-theologische Brocken. Immer wenn ich, der sehr schwach praktizierende, der sehr schlechte Knecht des Christentums mit Muslimen spreche oder mit ihnen bildhaft gesprochen zusammenrumple, wird mir das sofort klar, ebenso auch beim Studium der Hadithe, des Talmud oder der paulinischen Briefe.

Mehr oder minder zufällig finde ich daneben immer wieder Bundesgenossen in dieser Sicht, so etwa seit Jahren in Jacques Attali, oder neuerdings (?) auch in Angelika Neuwirth.

Angelika Neuwirth (FU Berlin) hat sich nämlich aufsehenerregend bei der Tagung „Beyond tradition“ in Münster hervorgetan.  Thema „Aufgeklärte islamische Theologie möglich in Deutschland?“ (FAZ, 16.07.2010, S. 34). Sie sagt,

der Koran sei sowohl in seiner überlieferten Textform als auch in seiner mündlichen Vorform vor allem als „europäisches Vermächtnis, als Auslegung und Neuformulierung bereits bekannter biblischer und nachbiblischer Traditionen zu betrachten. Inhaltlich handle es sich um eine ergebnisoffene Mitschrift von Diskussionen zwischen dem Propheten Mohammed und seinen Hörern. Es gelte demnach, den Koran als europäischen Grundtext in die (westliche) Spätantike-Vorstellung aufzunehmen.

Wow! Das entspricht genau meinem Empfinden, das entspricht genau meinem bildungspolitischen Programm für Berlins Grundschüler. Koran ist also Bestandteil der europäischen Überlieferung ebenso wie frühchristliche Literatur, da sowohl Christentum wie später Islam aus der
Verschmelzung von „Jerusalem“ und „Athen“ hervorgehen.

Welch ungeheure Chance böte sich den Berliner Grundschulen, wenn sie altgriechische, jüdische, islamische und christliche Geschichten in ihren Lesestoff aufnähmen! Ulysses meets Mohammed. THAT is IT. Sie, die Berliner Stadtgesellschaft, erwürbe sich nahezu ewigen Ruhm, wenn sie die unselige Spaltung zwischen muslimischen und nichtmuslimischen („christlichen“) Kindern überwände.

Aber sie tut es nicht. Sie scheut die Grundtexte der europäischen Überlieferung wie der Teufel das Weihwasser.

Koran kann gelesen werden wie die Vorlesungsmitschriften etwa des Aristoteles. Und in der Tat gab es im 11. bis 12. Jahrhundert eine Hochblüte arabischer Gelehrsamkeit, die genau das versuchte – die Synthese koranischen und aristotelischen Wissens.

Spannend, spannend … aber noch nicht Allgemeingut.

Bild: Sowjetisches Ehrenmal für den „Ewigen Ruhm“ in russischer Sprache, Ort: Erkner, Neu-Zittauer Straße.

 Posted by at 11:35
Mrz 252008
 

Erneut stoße ich auf einige Aussagen zum Gegensatz zwischen dem alten Perserreich und dem „Rest der Welt“, aus europäischer Sicht also den griechischen Stadtstaaten. Gebräuchlich seit etwa 2.500 Jahren und bis in die neueste Zeit hinein weiterverwendet ist die Entgegensetzung: dort „orientalisches Großreich mit despotischer Willkürherrschaft“, hier „europäisch-westliches freies Gemeinwesen mit starker Bürgerbeteiligung“. Perikles, Aischylos, Herodot, das Buch Ester der Bibel – sie gehören zu den frühen Belegen für diese schroffe Behauptung eines unversöhnlichen West-Ost-Gegensatzes; die neueren Begründungen für Aktionen gegen die jeweiligen Machthaber im Mittleren Osten reihen sich nahtlos in diese Deutungskette ein. Dies gilt übrigens auch für die Protestaktionen gegen das „blutige Schah-Regime“, deren amtliche Niederprügelung ja am 2. Juni 1967 einer der Auslöser der Studentenbewegung wurden, aber es gilt auch für die jüngsten militärischen Unternehmungen gegen die Nachfolgerstaaten des antiken Persien, also insbesondere die heutigen Staaten Iran, Irak und Afghanistan. Aber auch gegenüber der heutigen Türkei werden immer wieder ähnliche Vorbehalte geäußert, die letztlich in einer Linie mit der Ablehnung der orientalischen Staatsformen überhaupt liegen. Der britische Historiker Anthony Pagden hat in seinem neuen Buch „Worlds at War: The 2,500-Year Struggle Between East and West“ ganz offenbar noch einmal dieses Deutungsmuster als Konstante der europäisch-asiatischen Geschichte aufgearbeitet und im wesentlichen als zutreffend verteidigt, jedenfalls laut Rezension im Economist, (March 22nd-28 2008, p.87-88):

„It is hardly a coincidence, he [i.e., Pagden] suggests, that ancient Athens found itself doing battle with the Persian tyranny of Xerxes, while the modern Western world faces a stand-off with the mullahs‘ Iran. In his view of history, these are simply related chapters in a single narrative: the contest between liberal and enlightened societies whose locus is Europe (or at least European culture) and different forms of Oriental theocracy and authoritarianism.

Even where the enlightened West did bad things, these were aberrations from a broadly virtuous trajectory; where the tyrannical east (from Darius to Osama bin Laden) committed sins, they were no better than anybody could expect—that is what Mr Pagden implies. He broadly accepts the argument of the al-Qaeda propagandists that today’s global jihad is a continuation of the civilisational stand-off which began in the early Middle Ages and which is doomed to rage on.“

Helfen solche Vereinfachungen, die immer noch das politische Handeln und das Selbstbild des Westens leiten, weiter? Eine Schwierigkeit liegt darin begründet, dass unser Geschichtsbild der orientalischen Großreiche fast ausnahmslos aus der Außensicht „vom Westen her“ gespeist ist. Wir besitzen schlechterdings keine ausgearbeitete Geschichtsschreibung aus dem Inneren des Perserreiches, ebensowenig wie aus dem alten Ägypten. Was nun das antike Persien angeht, das sich ja im 6. Jahrhundert v.d.Z. von der Donau bis an den Indus erstreckte, also das erste, von den Zeitgenossen viel bestaunte Weltreich überhaupt darstellte, so tut man ihm offensichtlich unrecht, wenn man es einzig und allein als despotische, ungeregelte Willkürherrschaft bezeichnet. Im Gegenteil: Unter Dareios (550-486 v.Chr.) wurde eine effiziente Verwaltung aufgebaut. Der Altertumswissenschaftler Philipp Meier schreibt:

„Galt Kyros als der Begründer, so war Dareios der Ordner des Reiches. Er hat das Riesenreich bis auf den letzten Weiler hin durchorganisiert. Das Ergebnis war eine Verwaltung, die selbst nach heutigen Maßstäben als vorbildlich gelten darf. Dareios war der fähigste Organisator der alten Welt. Von diesem Erbe zehrt der Iran noch heute.“

Weit schwerer als der Vorwurf mangelnder Organisation wiegt jedoch der ständige Vorwurf mangelnder Freiheit, den wir im Westen landauf landab hören und wiederholen. Die östlichen Großreiche – ob nun das antike Perserreich oder das spätere Osmanische Reich – werden aus dem Westen meist stereotyp als Bastionen der Unfreiheit, der gesetzlosen Willkür gesehen, in denen der Einzelne und die einzelne Volksgruppe nichts, der Wille des Mannes an der Spitze alles gelte. Doch auch hier sind erhebliche Korrekturen angebracht! Ich zitiere noch einmal Philipp Meier, der die bis heute allseits umjubelten Siege der Griechen über die Perser bei Salamis und Plataiai in den Jahren 480-479 v. Chr. wie folgt kommentiert:

„Ob das allerdings für die Griechen ein Glück war, mag bezweifelt werden. Denn während die Perser eine relativ liberale Herrschaft über ihre Provinzen ausübten, versuchte Athen, die übrigen hellenischen Territorien in beträchtlich radikalere Abhängigkeit zu zwingen, die binnen 100 Jahren zum totalen Bedeutungsverlust der Stadt führten. ‚Es steht fest, dass die Staatsgewalt der griechischen Stadtstaaten über ihre Bürger in gewisser Hinsicht die des [persischen] Großkönigs über seine Untertanen überstieg. So hatten beispielsweise die den persischen Monarchen unterworfenen ionischen Städte keine andere Verpflichtung, als einen mäßigen Tribut zu zahlen, der ihnen überdies häufig erlassen wurde, während sie sich im übrigen selbst regierten.‘ (Jouveuel, S. 172) Athen dagegen versuchte, die angestrebte, aber nie verwirklichte hellenische Einheit durch eine Tyrannis durchzusetzen, die die Wehrfähigkeit der Städte derart herabsetzte, dass sie Alexander von Makedonien mit nur wenig Gegenwehr in die Hände fielen.“

(zitiert aus: Philipp Meier: Das Perserreich. In: Aischylos. Die Perser. In neuer Übersetzung mit begleitenden Essays. Regensburg: Selbstverlag des Studententheaters 2005, S. 73-86, hier S. 78 und S. 86)

Was lernen wir daraus? Ich meine dreierlei: Zunächst, die festgeprägten Urteile des Westens über den angeblich so barbarischen, unfreien Osten haben sich seit 2500 Jahren als außerordentlich hartnäckig erwiesen. Sie entbehren zweitens jedoch oft einer sachlichen Begründung und lassen sich dann durch historische Forschung widerlegen oder zumindest einschränken. Als handlungsleitende Impulse für die Beziehungen zwischen den heute bestehenden Staaten sind sie schließlich nur mit äußerster Vorsicht zu gebrauchen. Sie führen wie schon in der Vergangenheit so auch heute oft in die Irre. Das zeigt sich in dem weitgehend konzeptionslos anmutenden politischen Handeln der westlichen Staaten in den heutigen Staaten des Mittleren Ostens.

 Posted by at 13:46