Angst, Antike, Koran, Singen, TheaterKommentare deaktiviert für „Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben…“ Die „Last Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht
Feb152023
„…Und siehe, dunkler Rauch wird verhüllen die Sonne, verlassen werden verrotten die letzten Gerätschaften der verschwundenen Menschheit.“ Ist dies schon das Weltenende? Aufnahme vom 25.12.2022, Natur-Park Schöneberger Südgelände
„Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben …“ Ich lese summend, klingend, eben rezitierend wie ich auch die Bibel der Juden und die der Christen lese, die Sure 99 im Koran – in der sehr eindrücklichen Übersetzung von Hartmut Bobzin. Diese mekkanischen Suren sind ja „beherrscht von der Thematik des nahenden Weltenendes“, wie dies Bobzin treffend ausdrückt.
Wie leicht schlägt sich da der Verständnisbogen zur heutigen Zeit!
Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen galten damals wie heute als ein Anzeichen des Weltenendes! Ähnlich wie die Zeit Jesu von Nazareth, ähnlich wie die Zeit Martin Luthers war das 7. Jahrhundert ganz offenkundig eine Epoche der „Naherwartung“. So waren bekanntlich auch Martin Luther (gegen Ende seines Lebens) und Jesus von Nazareth selbst – wie die Last Generation unserer Zeit, die sich angsterfüllt an Autobahnen festklebt – zutiefst erfasst und durchzittert von der Erwartung des in Bälde bevorstehenden Untergangs dieser Welt „wie wir sie kennen“.
Ich meine: Die „Letzte Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht auch heute noch zu uns. Ähnlich wie die „Last Generation“ unserer Tage waren damals viele Menschen überzeugt, dass es hienieden keine Zukunft mehr geben würde – durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsre übergroße Schuld.
Ich werde am 17. Februar mit großer Freude erneut das Korano-Drama, diesmal den 2. Teil, besuchen. Das Leben hienieden, das Erkennen, das Erfahren, Staunen, Summen und Singen – es geht ja weiter!
Lesehinweis:
Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. C. H. Beck Verlag, 4. Aufl., München 2022, Sure 99, sowie auch bsd. S. 602 im Anhang
Veranstaltungshinweis:
Artistic Enactment of Quran. Eine künstlerische Aufarbeitung der Koransure 99 zum Mitmachen und Miterleben. Katholische Akademie in Berlin, Hannoversche Straße 5, 10115 Berlin, 17.02.2023, 14.00-19.00 Uhr
Angst, CoronaKommentare deaktiviert für Der Mensch – unterwegs zur Unsterblichkeit? Das süße Gift der Rhetorik
Jul072021
„Deutschlandweit wurden nach den neuen Angaben binnen 24 Stunden 48 Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche waren es 56 Tote gewesen.“
Innerhalb 24 Stunden 48 Todesfälle! Diese Meldung aus dem Robert-Koch-Institut verzeichnet wörtlich so die FAZ heute, am 7. Juli 2021. Wir besinnen uns: Ja, früher, da war alles schlimmer! Denn früher, da gab es in Deutschland regelmäßig über 2200 Todesfälle! Etwa 2.200-2.600 Menschen starben jeden Tag in Deutschland. Wer erinnert sich noch daran?
Ist die Menschheit unterwegs zur Unsterblichkeit? Schreiben wir den vom RKI vorgezeichneten Trend fort, dann müsste sich die Zahl der Todesfälle allmählich der Null nähern. Der Mensch würde sich in Deutschland asymptotisch der Unsterblichkeit nähern!
Auch der aktuelle Economist setzt größte Hoffnung darauf, dass dank der Impfung jede Art von schwerer Krankheit und Tod überwunden werden könnte. Wir lesen im neuesten Heft der angesehenen Zeitschrift:
„Today’s variants are spreading even among the vaccinated. No mutation has yet put a dent in the vaccines’ ability to prevent almost all severe disease and death. But the next one might. None of this alters the fact that the pandemic will eventually abate, even though the virus itself is likely to survive.“
Wir übersetzen: „Die heutigen Varianten verbreiten sich sogar unter den Geimpften. Noch hat keine Mutation die Fähigkeit der Impfstoffe beeinträchtigt, fast alle schweren Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Aber die nächste Mutation könnte genau dies bewirken. Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass die Pandemie schließlich abebben wird, auch wenn das Virus selbst wahrscheinlich überleben wird.“
Verhinderung fast aller schweren Erkrankungen und Todesfälle! Brave New World! Traumhafte, glänzende neue Welt! Durch derartige Formulierungen, wie sie beispielsweise tagein tagaus das RKI, die FAZ oder der Economist bringen, wird unterschwellig die Hoffnung genährt, wir könnten uns nach und nach gegen jede Art von schwerer Krankheit wappnen, wir könnten dem Tod ein Schnippchen schlagen. Denn es wird auf geradezu tolldreiste Weise der Eindruck erweckt, nur an COVID-19 stürben die Menschen.
Eine wahnhafte Selbsttäuschung, finde ich. Denn selbstverständlich sterben in Deutschland auch weiterhin an den verschiedensten Krankheiten und in Unglücksfällen mehr als 2200 Menschen jeden Tag. Nur spricht man von denen nicht. Immer nur und ausschließlich von COVID-19 als möglicher Todesursache zu sprechen und alle anderen Todesursachen zu beschweigen, ist ein rhetorischer Kniff, ein süßes Gift, ist in höchstem Maße unredlich, so meine ich jedenfalls. Es schürt im Volk die irrationale Angst vor dem Tod durch COVID-19 und nährt andererseits die Hoffnung, man könnte sich endgültig den Stricken des Todes entwinden.
Das Ziel bleibt es offenbar, im Volk den trügerischen Anschein der Unsterblichkeit zu nähren. Und die erträumte Unsterblichkeit, die wird uns geschenkt durch — ?
Angst, SeuchenKommentare deaktiviert für „Wir sollten die Angst überwinden“ – der mutige Weckruf der Mazarine Pingeot
Jan132021
Il faut dépasser la peur – tolles, ermunterndes Gespräch vom 12. Januar 2021 auf TV5 Monde mit Mazarine Pingeot, der Verfasserin des Buches „Et la peur continue“. Patrick Simonin stellt die richtigen Fragen an die Schriftstellerin! Klasse gemacht!
Ihre Botschaft: Angst gehört zwar dazu. Sie ist ein wichtiges Signal vor etwas, was nicht stimmt. Aber wir, wir haben derzeit ein Zuviel an Angst. Angst vor herabfallenden Ziegelsteinen, vor ich weiß nicht was, vor dem Tod, vor dem Sterben, vor dem Leben, und vor allem möglichen sonst auch noch…! So eine Stimme bräuchten wir in Deutschland, bräuchten wir in ganz Europa öfter! Wo sind sie denn, diese mutigen Stimmen in all den Todestabellen, Sterbezahlen, Inzidenzwerten, in dieser unfassbaren, ungeheuerlichen Angstbesessenheit, die in diesen Wochen, diesen Monaten ganze Gesellschaften durchrüttelt…?
Angst, CoronaKommentare deaktiviert für Es ist Zeit, daß wir wissen, dass wir zeitlich sind
Nov262020
Zu den bittersten Kränkungen der jetzigen Zeit gehört es, dass wir uns der eigenen Begrenztheit bewusst werden. Wir haben schlechterdings dies und das nicht in der Hand! Zum Beispiel – die Zeit. Zum Beispiel – den Zeitpunkt des eigenen Todes. Wir erleiden die Einsicht zum Beispiel – von der Unplanbarkeit zahlreicher Verläufe. Auch die allesbesorgende Politik hat es nicht in der Hand. Der Staat kann den Menschen nicht mehr das Erreichen der natürlichen Altersgrenze von so und so vielen Jahren (70? 80? 86? 100? 120? Unsterblichkeit?) zusichern, wie er dies noch vor einem Jahr vorgab. Ein trügerisches Vorgeben, wie wir jetzt erneut erfahren!
Schlägt man heute die Zeitungen auf, so weht einen überall der Todesgedanke an, Fallzahlen, Sterbetafeln, Infektionsinzidenzen haben die Aktienkurse, Wechselkurse und Targetsalden ersetzt, die früher das unerbittliche Schicksal bedeuteten. – Ein psychotischer, barocker Pesthauch der Vergänglichkeit wallt uns an! Von Geburten, Geburtenzahlen (die muss es doch auch geben?), von Zuversicht, von der Schönheit des Lebens erfährt man nichts mehr aus den Massenmedien und aus den Verlautbarungen – während echte, gute, wahre barocke Kunst (die Musik J. S. Bachs z.B.) bei aller intimen Nähe zum Tod doch immer wieder die überschäumendste Freude feierte! Eine ganze Gesellschaft zieht sich schon mal das Leichentuch übers Gesicht. Es steht 0:6 für den Tod bei uns in Deutschland. Wie die Nationalelf es gegen Spanien so rekordverdächtig herausgespielt hat. Da war kein Aufbäumen mehr zu erkennen.
In der ersten Auflage eines 2020 neu erschienenen Buches hingegen strahlt uns taufrisch und unverwelklich folgendes Gedicht entgegen, als wäre es für heute, den 26. November 2020, geschrieben – oder als wäre es am vergangenen Sonntag, dem Totensonntag des Jahres 2020 geschrieben:
CORONA
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde. Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn: Die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag, im Traum wird geschlafen, der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten: wir sehen uns an, wir sagen uns Dunkles, wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis, wir schlafen wie Wein in den Muscheln, wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße: es ist Zeit, daß man weiß! Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt, daß der Unrast ein Herz schlägt. Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
Zitat: Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020, S. 45
Angst, SeuchenKommentare deaktiviert für SCHOCK!!! Und gestern gab es wieder 62 COVID-Tote!! (…von wie vielen Todesfällen gestern insgesamt?)
Nov162020
Rationale Überlegungen werden nicht durch supertolle, zweifellos geniale Propagandaspots der Bundesregierung, sondern durch Sterbefallzahlen, akute Erkrankungszahlen, Durchschnittszahlen des Alters der Verstorbenen erleichtert. Fakten sollten (sollten!) mehr als Ängste zählen.
Was ist Sache? Was sagen die Zahlen?
Jeden Tag sterben in Deutschland durchschnittlich etwa 2400 Menschen. Gestern starben laut offiziellen Angaben des Robert-Koch-Instituts 62 (zweiundsechzig) mit COVID-19 infizierte Menschen.
Das heißt, dass gestern bei etwa 2,6% der Verstorbenen eine nachgewiesene COVID-19-Infektion vorlag. Bei den meisten Verstorbenen konnte keine COVID-Infektion nachgewiesen werden.
Die anderen etwa 97,4% der Verstorbenen, woran starben oder litten sie? Nun, auch hier geben die Zahlen Auskunft, in diesem Fall die Angaben des Statistischen Bundesamtes. Die meisten Menschen in Deutschland litten, leiden, starben und sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, danach kamen und kommen die Krebserkrankungen, an dritter Stelle standen und stehen verschiedene Erkrankungen des Atmungsapparates wie etwa Lungenentzündung oder andere bakterielle oder virale Infektionen.
In der Zahl der Todesursachen und der schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten spielt COVID-19 also in der Gesamtbevölkerung nach wissenschaftlich gesichertem Erkenntnisstand eine zwar nicht zu vernachlässigende, aber doch geringfügige Rolle. Es ist eine Krankheit, die für Morbidität (Erkrankungshäufigkeit) der Bevölkerung und Mortalität (Sterbewahrscheinlichkeit) der Bevölkerung eine untergeordnete, wenn auch keineswegs zu vernachlässigende Rolle spielt.
Hilary Mantel: The Waterstones Interview – Wolf Hall Trilogy 24.02.2020
„Werden wir die nächsten paar Atemzüge überleben?“
In unseren durch und durch gesicherten Zeiten fällt es uns wohl zunehmend schwer, das Grundgefühl zu verstehen, das die Menschen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder überfiel, sie beherrschte, sie zum Glauben trieb und vom Glauben abfallen ließ: das Gefühl der gestundeten, der aufgeschobenen Sterbestunde, der Gedanke an den eigenen Tod als ständigen Wegbegleiter, das Ringen um jeden Atemzug, der der letzte sein konnte.
Hilary Mantel, die in der Grafschaft Derbyshire geborene Schriftstellerin, fasst dieses alle Jahrhunderte, alle Jahrtausende der bisherigen Menschheitsgeschichte durchziehende Grundgefühl in einem Gespräch über den dritten Teil ihrer Cromwell-Trilogie in die folgende brillante Formulierung: „Are we going to survive our next few breaths?“
Der unzeitige, der vorzeitige Tod, die Todesgefahr war dieser Schatten, der die Menschen im Alltag begleitete. Man starb früher vor allem an Infektionskrankheiten aller Art – Atemwegserkrankungen wie Tuberkulose und Lungenentzündugen zuvörderst -, an bakteriellen und viralen Seuchen, Epidemien, „Plagen“, Pest, Pandemien, man starb an Verletzungen und Unfällen, man starb in Kriegen, in Raubüberfällen, Brandschatzungen, Feuersbrünsten, Vergiftungen, Hungersnöten.
Man erreichte fast nie das Ablaufdatum der biologischen Uhr, also jene Altersgrenze, an der der menschliche Organismus nicht mehr die Kraft zum Weiterleben – und das heißt: zum Weiterkämpfen – hat.
Die heute so pandemisch verbreiteten Wohlstandskrankheiten wie Übergewicht aufgrund von zu reichlicher Ernährung und Bewegungsmangel – oder auch zahllose vermeidbare chronische Erkrankungen wegen des Tabakrauchens – gab es nur in der winzigen Schicht des begüterten Adels.
Normal dagegen waren plötzlich hereinbrechende Unglückslagen, Pest, Infektionen, Hunger, Krieg. Raffael starb mit 37 Jahren, Mozart mit 35. Überrascht war man trotz aller Trauer durch derartige „vorzeitige“ Sterbefälle nicht. Sie waren die Norm.
Die derzeit in aller Munde diskutierte Corona-Pandemie vermag einen schwachen Eindruck, einen milden Abklatsch davon zu geben, in welcher fundamentalen Unsicherheit die Menschen zu Zeiten eines Cromwell, eines Thukydides, eines Achilles oder auch eines Napoleon lebten.
Unser heutiger Ausnahmezustand war früher der Normalzustand.
Heute, in unseren von unvergleichlicher Sicherheit geprägten reichen Gesellschaften (in der reicheren Hälfte der Weltbevölkerung wohlgemerkt, nicht in den armen Staaten!) sterben die meisten Menschen erst in hohem Alter an Herz-Kreislauferkrankungen und an Krebs, während infektiöse Erkrankungen wie Lungenentzündung oder COVID-19 nur mehr 3-5% der Todesursachen ausmachen und gewaltsames Sterben nahezu verschwunden ist – selbst wenn jeder Sonntagabend mit der Unzahl an seriell gefertigten Krimis das Gegenteil zu verkünden scheint.
Nach den und zusätzlich zu den Pandemien der vermeidbaren Wohlstandserkrankungen (überwiegend durch menschliches Fehlverhalten bedingt) haben wir nun eine weitere Pandemie zu bewältigen – die Corona-Pandemie. Nach Dimension, Wucht, Dauer, statistischer Relevanz kommt sie bisher den bereits vorhandenen nicht-infektiösen Pandemien noch nicht nahe, an die wir uns gewöhnt haben. Denn weiterhin sterben die allermeisten Menschen und werden die meisten Menschen an ganz anderen Ursachen sterben – nämlich an Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs, ferner auch weiterhin an opportunistischen Infektionen wie Lungenentzündung, COVID-19 oder Noro-Viren. Die Todesfälle durch COVID-19 laufen derzeit als kleiner statistischer Zusatz mit. Sie werden durch eine gigantische mediale Überhöhung freilich rund um die Uhr buchstäblich ins Volk gepeitscht und getrommelt.
Ihre Unvermeidbarkeit und ihre vermeintliche Neuartigkeit sind es, die zunächst einmal Angst vor COVID-19 machen und das gesamte staatliche Gefüge durcheinander wirbeln! Politics of fear! Angst vor Kontrollverlust als Triebfeder der Politik! Die Allmachtsfantasien der modernen, risikoarmen Wohlstandsgesellschaften werden durch COVID-19 gebrochen. Der unzeitige, der nicht planbare, der nicht erwartbare Tod tritt wieder als ständiger Begleiter an die Seite des Menschen, so wie er dies in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden auch gewesen ist. Es tritt wieder eine Art Normalzustand der Menschheitsgeschichte ein.
In der Muttersprache Hilary Mantels, der ich an dieser Stelle von Herzen danke, möchte man sagen:
Buck up, come on, things aren’t that bad. They aren’t that new, either. We will survive our next few breaths, in all likelihood.
Gutes, lauschendes, tief einsaugendes Lauschen auf die Landleute beim Viehtrieb in Kreuth! Das ist ja genau die Sprache, die mir in die früheste Kindheit hineinschallte, meiner Mutter Sprache – Bairisch, ein Idiom, dessen ich mich bei meinen gelegentlichen Aufenthalten in meinem Herkunftsland gern auch selbst befleißige.
Vergessen wir nicht, wir sind hier am Tegernsee auf ältestem deutschem Kulturboden. Der älteste erhaltene deutsche Roman überhaupt, der berühmte Ruodlieb – ein lateinisch verfasstes Versepos – stammt aus dem Kloster Tegernsee! Er wurde gut 9 Jahrhunderte vor Thomas Manns Doktor Faustus verfasst, diesem Schicksalsroman, dessen letzte, dramatisch zugespitzte Szenen ebenfalls im oberbayrischen Voralpenland spielen. Ja, die in Pfeiffering ausgemalten Schlussbilder, der gutmütige Dr. phil. Serenus Zeitblom hätte sie auch hier ansiedeln können.
Bild: eine Kreuther Ziegenherde am 23. Mai 2017, wenige Momente nach dem Austrieb aus dem Stall. Unsicher taumelnd tollen die Ziegen umher. Nach der Sicherheit des Stalls, wo ihnen Tag um Tag das Futter gereicht wurde, löst die Freiheit des Graslandes einen rauschartigen Tanz aus. Die Herde bleibt sicherheitshalber vorerst zusammen. Die Herde bietet Schutz angesichts des Neuen, das da kommen mag.
Angst, Mieten, SeuchenKommentare deaktiviert für Vogelgrippe, Faulbrut, Ebola, Botulin-Neurotoxine: Leben im Verdachtsgebiet
Jun102017
Achtung, Achtung! Wir leben in einem VERDACHTSGEBIET! Eine wichtige Warnung erreichte uns gestern von seiten des Bezirksamtes Tempelhof-Schöneberg: Unser Wohnbezirk ist zu einem Verdachtsgebiet erklärt worden.
Die Frage drängt sich auf: Was ist ein Verdachtsgebiet?
Antwort: Verdachtsgebiete werden überall dort erklärt, wo erste Anzeichen auf das Vorhandensein einer Seuche hinweisen: das kann die Vogelgrippe sein, das kann die Maul- und Klauenseuche sein, das kann der chronische viszerale Botulismus als Tierseuche sein, das kann Ebola sein. Das war noch zu Hegels Zeiten die Cholera in Berlin, zu Boccaccios Zeiten war es die Pest in Florenz. Die Behörden verhängen dann im Verdachtsgebiet Maßnahmen wie etwa Sperrbezirke, Zugangskontrollen, Freilaufverbote, Stallpflicht, Desinfektionsmaßnahmen und ähnliches.
Als derartige Seuchensymptome werden ganz offenkundig in Berlins Bezirken auch Wohnungssanierungen, Modernisierungen, Einbau von Wannenbädern und übermannshoch gefliesten Badezimmern, Einbau von behindertengerechten Aufzügen, ja überhaupt Baumaßnahmen in bestehenden Wohnungen und ähnliches betrachtet. Treten gehäuft derartige Symptome auf, dann kann die Verwaltung eine Erhaltungsverordnung nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BauGB erlassen, um die Ausbreitung der Seuche zu verhindern.
Folgerichtig werden immer mehr Wohngebiete zu Verdachtsgebieten erklärt. Jetzt hat es auch uns erwischt! Wir Bürger wurden gestern durch ein Anschreiben des Bezirksamtes aufgerufen, verdächtige Symptome auf einem vierseitigen Fragebogen an das Büro TOPOS Stadtforschung zu melden. Wir kommen dieser Aufforderung selbstverständlich nach. Schließlich lebt niemand gern dauerhaft in einem Verdachtsgebiet. Man möchte ja schließlich Gewissheit haben, dass die Seuche der Sanierungs-, Modernisierungs-, Erhaltungs- und Baumaßnahmen in Wohngebieten sich nicht weiter ausbreitet. Man möchte wieder ruhig schlafen können, wie man es tat, als man noch nicht wusste, in einem Verdachtsgebiet zu leben. Die Bezirkspolitik und die Behörden werden uns schon vor der Seuche schützen, das ist immerhin ein Trost.
Gleichwohl fällt nunmehr ein Schatten auf das Wohnen im Verdachtsgebiet. Der seuchenkundige Bürger wird verunsichert und aufgeschreckt, mehr noch: es entsteht ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Wandel, eine allgemeine Kultur des Verdachts durch derartige behördliche Maßnahmen.
Spät am Abend ist’s. Der Supermond hat sein trübes Gesicht schon wieder hinter dem Nebelschleier verzogen. Ein paar Fußwanderer suchen eilig den Nachhauseweg. Der grauenhaft wühlende, schmerzhafte Film aus dem Jahr 1960 klingt noch machtvoll nach. Was muss das für eine Existenz gewesen sein für die arme Mutter, an den Rollstuhl gefesselt kauernd seine Tage zu verbringen, nur gelegentlich von dem nur scheinbar dienstfertigen, in Wahrheit kalt berechnenden Sohn hinunter in die Puppenstube, in den anheimelnden Keller getragen zu werden wie eine Puppe! Hinunter zu den Müttern, – ja, die Mütter, die Mütter sind’s dort unten! Und die junge Frau suchte den Weg hinunter und sprach sie an mit ihrem Namen: „Mrs. Bates!“ Zum ersten Mal seit langen Jahren, eine teilnehmende Seele spricht zu der alten Mutter —
Die wend’t sich –
Und hinter dem Rücken der Mutter hat er dann sogar noch eine ganze Filmcrew mit einem weltberühmten Regisseur angeheuert, um seine, ja seine, allerdings sehr besondere Fassung der Geschichte kunstvoll ins Bild zu setzen. Und die Welt? Glaubt ihm sein ganzes kunstvolles Lügengebäude, ihm, dem Sohn, dem Regisseur, allen! Und dabei könnte ich nicht einmal einer Fliege etwas zuleide tun!
Kalt ist’s da draußen. Da – ein paar Schritte voraus kauert auf dem Rollstuhl eine alte Frau, das Gesicht zur Mauer gewandt. Eine Kopfbedeckung trägt sie nicht. So spät allein kauert sie da, auf dem Rollstuhl, das Gesicht zur frisch gekalkten Wand gewandt. Um die Schultern trägt sie nur ein gehäkelt Gewand.
Die Wanderer gehen vorbei. Da, nach 20 Schritten, tippte der Zweifel an die Schultern. „Kann man denn diese Frau so alleine in der Nacht des Supermondes lassen?“
„Nein. Wir können es nicht! Wir dürfen es nicht!“ Wir wenden uns um. Wir grüßen die Sitzende: „Guten Abend! Kann ich Ihnen helfen?“
Es entspann sich ein Gespräch über diese Lage. Unsere Mrs. Bates war allerdings ein Mann. „Wie heißen Sie? Was wollen Sie?“, fragte er vorsichtig; ich nannte meinen Vornamen. Der Mensch mir gegenüber hatte einen Namen, eine Geschichte, ein Anliegen. Ich reichte ihm die Hand, und er nahm sie an.
Wir lösten ihn von der Hauswand ab, brachten ihn auf den Weg nachhause. Seine Bitte in der Supermondnacht: „Die parkenden Autos an den Straßenecken sollen endlich die abgesenkten Schwellen freimachen.“ Für einen alleinfahrenden Rollstuhlfahrer bedeuten die Autos, die in seiner Straße die Ecken mit den abgesenkten Schwellen versperren, ein unüberwindliches Hindernis. „Gebt diese Bitte ans Ordnungsamt weiter!“
Die Begegnung mit einem Menschen in Fleisch und Blut löste für mich gestern den Bann der Schreckensbilder. Das Sich-Kümmern um einen Menschen, der Druck einer einzigen Hand hatte eine befreiende, angstabschüttelnde Wirkung. Und ich bitte hiermit das Ordnungsamt, die vielen Falschparker, welche den Rollstuhlfahrern das Leben schwermachen (siehe das Bild unten), verstärkt zu ahnden.
AngstKommentare deaktiviert für Neukölln leuchtet und klingt so wohlig düster
Okt232016
Eine große Angstlust, ein wohliges Entsetzen, ein süßer Schauder strömt aus der Musik zu Alfred Hitchcocks „Psycho“. Erst durch die Musik erhält der Film seine unglaubliche Wucht. Komponiert hat sie Bernard Herrmann. Man stelle sich „Psycho“ einmal ohne Musik vor – es wäre ein mattes Abziehbildchen, das durch die bannende Macht der Schwarz-Weiß-Photographie zweifellos noch eine gewisse Beklemmung auszulösen vermöchte. Doch es wäre – NUR Photographie!
Wie wäre es umgekehrt – die Musik ohne die Bilder? Antwort: Die Musik ohne die Bilder erzeugt, so meine ich, ohne weiteres eine ähnlich fesselnde Macht wie der Film insgesamt. Die Musik behauptet den Vorrang vor der Photographie. Sie ermöglicht es, den Film oder auch einen anderen Film ablaufen zu lassen, seinen Film, deinen Film.
Wir, die Neuköllner Serenade, spielen am kommenden Sonntag die Filmmusik zu „Psycho“ von Bernard Herrmann, das Klavierkonzert Nr. 13 C-Dur von Mozart KV 415 und das Konzert von Alfred Schnittke für Klavier und Streicher. Am Klavier der Pianist Georgy Gromov. Dirigent ist Martin Dehli.
Sonntag, 30. Oktober 2016, 18 Uhr, Konzert in der Nikodemus-Kirche, Nansenstr. 12, 12047 Neukölln,
Eintritt frei, Spende erbeten