Deutsche Angst und deutsche Unfähigkeit zu echter Trauer. Die nüchterne Diagnose Miki Sakamotos

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Sep 272023
 

Ihr Befremden über deutsche Ängste, deutsche Tatenarmut drückt die japanisch-deutsche Autorin Miki Sakamoto in ihrem schönen Gedichtband „Lichtwechsel“ aus, der während der Alpenüberquerung in meinem Rucksack mitwanderte.

Sie führt folgende Tatsachen aus:

Etwa zwanzigtausend Japaner kamen am 11. März 2011 durch einen Tsunami ums Leben, eine jener Naturkatastrophen, jener Stürme und Erdbeben, die für die Japaner von Kindestagen an zur Lebenswirklichkeit gehören. Und eben weil dies so ist, bauen die Japaner heute ihre Häuser nach den höchsten Normen der Erdbebensicherheit, so dass gleich starke Erdbeben in anderen Ländern viel verheerendere Folgen haben als in Japan.

In Deutschland schwappte infolge der durch den Tsunami verursachten Reaktorhavarie von Fukushima, die bekanntlich keine Menschenleben forderte, eine riesige Woge der Angst vor den Atomkraftwerken hoch, und so beschloss die Bundesregierung eiligst „aus diesem Anlass“, bereits drei Tage später, am 14. März 2011 das Atommoratorium, also die Rückkehr zum 2002 erstmals beschlossenen Atomausstieg. Es kam zum Ausstieg aus dem am 5. September 2010 beschlossenen Ausstieg vom 2002 beschlossenen Atomausstieg.

Die Angst vor einer ähnlichen Havarie eines deutschen AKW überwog also bei weitem die Trauer um die japanischen 20.000 Opfer des See- und Erdbebebens, die bekanntlich nicht durch das AKW von Fukushima, sondern durch das Erd- und Seebeben ums Leben gekommen waren.

Miki Sakamoto erwähnt auch in ihren Betrachtungen die Flutkatastrophe im Ahrtal vom 14. und 15. Juli 2021, die 134 Menschen das Leben kostete. Auch dies war eine Naturkatastrophe mit Ansage, denn bereits am 21. Juli 1804, 24. Juni 1888, am 12./13. Juni 1910, am 16. Januar 1918 und am 11. Januar 1920 sowie an zahlreichen anderen Tagen der vergangenen Jahrhunderte hatten sich ähnlich heftige Überflutungen im Ahrtal ereignet.

Heute wissen wir, dass die Ahrtal-Flut des Jahres 2021 vorhersehbar war und dass die Todesopfer bei rechtzeitigen Maßnahmen des Hochwasserschutzes, bei rechtzeitiger Warnung und Evakuierung der Bevölkerung hätten vermieden werden können.

Sakamoto drückt ihr Befremden über diese vollkommen irrationalen Ängste der Deutschen bei gleichzeitiger Vernachlässigung der konkreten Gefahrenabwehr so aus: „Denn die politischen Reaktionen auf die großen Hochwasser, die hier so viele Schäden anrichteten und mehr Menschen das Leben kosteten als die Reaktorhavarie von Fukushima, fielen so schwach aus, als ob es sich doch bloß um Versicherungsfälle handelte.“

Miki Sakamoto: Lichtwechsel. Gedichte und Miniaturen. Deutsch / Japanisch. Weissbooks, Berlin 2021, S. 68-69

Liste der Hochwasserereignisse an der Ahr – Wikipedia

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Schön ist deiner Erfindung Pracht

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Apr 022023
 

Sandstrohblume, Habichtskraut, Eberesche, Hartriegel, Rispenflockenblume, Rainfarn, Nachtkerze, Weinrosen – diese Pflanzenarten und noch viele mehr, nämlich über 350 Pflanzenarten sind hier im Schöneberger Südgelände nachgewiesen!

Friedrich Gottlieb Klopstock fasst die staunenswerte Fülle, die die natürliche Umwelt uns bietet, mit folgenden Worten:

Schön ist, Mutter Natur, deiner Erfindung Pracht,
Auf die Fluhren zerstreut ; schöner ein froh Gesichte,
Das den großen Gedanken
Deiner Schöpfung noch einmahl denkt.

Die Natur – so erlebt der Dichter dies 1750 bei seiner Fahrt auf der Zürcher See – ist eine prachtvolle Erfinderin, deren Einfallsreichtum uns immer wieder in Staunen versetzt. Nicht der Mensch hat die Natur geschaffen, sie ist vor ihm da und wird ihn auch überdauern. Die Natur ist zunächst einmal nicht unser Gegenstand, sondern das uns Ergreifende, uns Entzückende.

Von der schimmernden See weinvollen Ufer her,
Oder, flohest du schon wieder zum Himmel auf,
Komm im röthenden Strale,
Auf den Flügeln der Abendluft ;

Komm, und lehre mein Lied jugendlich heiter seyn,
Süße Freude, wie du ! gleich dem aufwallenden
Vollen Jauchzen des Jüngelings!
Sanft, der fühlenden Sch — inn gleich.

Während für das heutige besorgende, verwaltende Denken und Rechnen die Natur wie auch das Klima im wesentlichen nur noch als Lebensgrundlage des Menschen, als Menschendienliches, als eine Art gewaltige berechenbare Maschine erscheint, die es am Laufen zu halten gilt, gerät der Dichter außer sich, – er denkt über das reine Menschsein hinaus, er denkt – nach. Er weiß, dass er über die Natur (wie auch über das Klima) keine Gewalt hat.

Dies, so meine ich, sollten wir heute ebenfalls beherzigen.

Und wir Menschen – dürfen das mit Herz und Sinn, mit Verstand und Gefühl genießen. Für die durch die Medien maßlos hochgepeitschte, apokalyptische Angst vor dem vielbeschworenen Untergang der Welt, wie wir sie kennen, besteht, so meine ich, kein Anlass, nicht der geringste Anlass!

Der Natur-Park Südgelände ist ein prachtvolles Zeugnis für den Erfindungsreichtum der Natur – hier hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte fast ohne Zutun des Menschen auf einer verlassenen Eisenbahnbrache eine Lebensgemeinschaft herausgebildet, die artenreich, widerständig, lebensstrotzend, klimawandelresistent und wandelbar ist.

Gedruckte Erstfassung hier zitiert nach:
1750. Friedrich Gottlieb Klopstock: Zweyte Ode von der Fahrt auf der Zürcher See. In: Gedichte 1700-1770. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Jürgen Stenzel. [=Epochen der deutschen Lyrik in 10 Bänden. Herausgegeben von Walther Killy. Band 5], 2. Auflage, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1977, S. 243-245, hier: S. 243

Bild: Ein Blick in den Natur-Park Schöneberger Südgelände am heutigen 2. April 2023

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Kann das Volk überhaupt verstehen, was es gefragt wird und worüber es morgen im „Volksentscheid“ entscheiden soll?

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Mrz 252023
 

Morgen steht bei uns in Berlin der „Volksentscheid über einen Gesetzentwurf zur Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes“ an. Selbstverständlich werde ich hingehen, selbstverständlich werde ich eine Entscheidung treffen. Doch welche soll ich treffen?

Hierzu vertiefe ich mich in die 48 Seiten starke engbedruckte Broschüre, die der Landesabstimmungsleiter Berlin allen etwa 2,5 Millionen Wahlberechtigten zugesandt hat. Zusammen sind dies etwa 120 Millionen Seiten engbedruckten Papiers, die dem Volk zur Entscheidungsfindung verhelfen sollen.

Doch werden die 2,5 Millionen Wahlberechtigten auch verstehen, was sie gefragt werden? Hierzu lohnt sich ein Blick auf die Sprache dieser Entscheidungshilfe.

Mein Befund: Die Sprache des Heftes ist eine kunstvolle, alle Schichten der Seele ansprechende Mischung aus

a) angsteinflößenden Pauschalaussagen über die unmittelbar drohende Zerstörung, die Vernichtung, den bevorstehenden Untergang der Lebensgrundlagen, die Seuchen, die Schädigungen, die Verheerungen, die von uns zu verantwortenden menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, unsere koloniale, rassistische Vergangenheit, die Ausbeutung der Frauen, Kinder und ethnischen Minderheiten, die der „globale Norden“ (also wir) uns haben zuschulden kommen lassen und auch weiterhin verüben (man lese hierzu beispielhaft etwa Seite 16 des Pamphlets),

b) einem flickenteppichartigen Sammelsurium unterschiedlichster z.T. wissenschaftlicher, z.T. pseudowissenschaftlicher, auf subjektiven Einschätzungen und höchst zweifelhaften Computersimulationen beruhender Behauptungen über die fernere Zukunft einerseits und interessengeleiteter politischer Quellen andererseits, die wohl mit dem Ziel aneinandergefügt werden, das akademisch nicht vorgebildete Volk zu verwirren und ohnmächtig zu stimmen. Wichtige Belege werden zudem nur in englischer Sprache nachgewiesen – wie viele der 2,5 Millionen Menschen im Berliner Volk sind imstande, diese englischen Quellen auf Stichhaltigkeit nachzuprüfen?

Eine hammerartig eingebleute Angst vor dem Weltuntergang, Einschüchterung des Volkes, Demütigung der Nichtakademiker im Volk, bewusst eingejagte zermürbende Schuldgefühle, eine blasenartig verkapselte, pseudointellektuelle, pseudowissenschaftliche Sprache zeichnen diese ins Berliner Volk gefeuerten 120 Millionen Seiten Papier aus – es ist ein Artilleriebeschuss mit generell weder widerlegbaren noch nachprüfbaren Behauptungen, ein Trommelfeuer, ein dumpfes Dröhnen am Horizont, das einem jede Handlungszuversicht nimmt.

Jede einzelne Aussage in dem Heftchen lässt sich bezweifeln und muss bezweifelt werden!

Ich werde deshalb morgen mit NEIN stimmen.

Bibliografischer Quellenhinweis: Amtliche Mitteilung zum Volksentscheid über einen Gesetzentwurf zur Änderung des Berliner Klimaschutz- und Energiewendegesetzes am 26. März 2023. Herausgeber: Der Landesabstimmungsleiter Berlin, Klosterstraße 47, 10179 Berlin

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„Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben…“ Die „Last Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht

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Feb 152023
 
„…Und siehe, dunkler Rauch wird verhüllen die Sonne, verlassen werden verrotten die letzten Gerätschaften der verschwundenen Menschheit.“ Ist dies schon das Weltenende? Aufnahme vom 25.12.2022, Natur-Park Schöneberger Südgelände

„Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben …“ Ich lese summend, klingend, eben rezitierend wie ich auch die Bibel der Juden und die der Christen lese, die Sure 99 im Koran – in der sehr eindrücklichen Übersetzung von Hartmut Bobzin. Diese mekkanischen Suren sind ja „beherrscht von der Thematik des nahenden Weltenendes“, wie dies Bobzin treffend ausdrückt.

Wie leicht schlägt sich da der Verständnisbogen zur heutigen Zeit!

Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen galten damals wie heute als ein Anzeichen des Weltenendes! Ähnlich wie die Zeit Jesu von Nazareth, ähnlich wie die Zeit Martin Luthers war das 7. Jahrhundert ganz offenkundig eine Epoche der „Naherwartung“. So waren bekanntlich auch Martin Luther (gegen Ende seines Lebens) und Jesus von Nazareth selbst – wie die Last Generation unserer Zeit, die sich angsterfüllt an Autobahnen festklebt – zutiefst erfasst und durchzittert von der Erwartung des in Bälde bevorstehenden Untergangs dieser Welt „wie wir sie kennen“.

Ich meine: Die „Letzte Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht auch heute noch zu uns. Ähnlich wie die „Last Generation“ unserer Tage waren damals viele Menschen überzeugt, dass es hienieden keine Zukunft mehr geben würde – durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsre übergroße Schuld.

Ich werde am 17. Februar mit großer Freude erneut das Korano-Drama, diesmal den 2. Teil, besuchen. Das Leben hienieden, das Erkennen, das Erfahren, Staunen, Summen und Singen – es geht ja weiter!

Lesehinweis:

Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. C. H. Beck Verlag, 4. Aufl., München 2022, Sure 99, sowie auch bsd. S. 602 im Anhang

Veranstaltungshinweis:

Artistic Enactment of Quran. Eine künstlerische Aufarbeitung der Koransure 99 zum Mitmachen und Miterleben. Katholische Akademie in Berlin, Hannoversche Straße 5, 10115 Berlin, 17.02.2023, 14.00-19.00 Uhr

Artistic Enactment of Quran – Katholische Akademie in Berlin e.V. (katholische-akademie-berlin.de)

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Paul&Johann, euch setz ich auf die Playlist des Jahres 2021!

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Dez 302021
 
Die Krippe in der Kirche Heilig Kreuz am 26.12.2021, Hildegardstraße, Berlin-Wilmersdorf, frei zugänglich bis 2. Februar 2022

Luciano & Ezhel: „Benim Hayaller”, The Rolling Stones: „Paint It Black“, The Kid Laroi und Miley Cyrus: „Without you“, Nilüfer Yanya: „Stabilise“ – das sind nur einige der vielen guten Lieder, die möglichen Songs des Jahres 2021, die man am Ende des Jahres auf seine Playlist setzen könnte, um sich immer damit beschallen zu lassen oder vielleicht auch mitzuträllern. Gewählt haben diese Songs ein paar Journalisten einer bekannten, in Frankfurt erscheinenden Tageszeitung.

„Benim hayaller“ heißt „Meine Träume“, und Träume sind es doch, die man inmitten von allumfassender Schwarzmalerei („Paint it black“) angesichts des Verlustes eines geliebten Menschen („Without you“) unbedingt hegen und pflegen sollte, um sich einigermaßen zu stabilisieren („Stabilise“).

Gute, okayische Vorschläge! Ich mach mir trotzdem meine eigene Playlist. Auf Platz 1 setze ich dieses Jahr den Song „Fröhlich soll meine Herze springen“. Lyrics von Paul Gerhardt, Arrangement/Setting by Johann Crüger. Die beiden ergänzen sich klasse, was Rhythm und Harmonics angeht. Der Mood ist vorwärtsdrängend, spicy, guter Counterpart zu der gruftigen Paint-it-black-Atmosphäre, die ansonsten in Europe in diesem Jahr vorherrscht.

Cool auch die Wortwahl – ich hör da ein klares Ja zu Massenveranstaltungen, zum Eingehen von Risiken auch in wahnsinnig schwierigen Zeiten wie den unsrigen heraus. Während unsere Gesellschaft alles daran setzt, die Risiken im Alltag zu minimieren, haben Paul&Johann offenbar was Größeres, was Tolleres erlebt. PAINT IT BLACK, wie es 1964 die Stones sangen, ist das Motto von Paul&Johann fast 60 Jahre später, am Jahresende 2021, nicht. Angst vor Krankheit, vorzeitigem Tod, Angst vor einem unverschuldeten Unglück, Angst vor Irrtum hält sie nicht ab, das zu tun, wozu es sie drängt:

„Ei so kommt und lasst uns laufen,
Stellt euch ein, groß und klein, eilt mit großen Haufen!
Liebt den, der vor Liebe brennet;
Schaut den Stern, der euch gern Licht und Labsal gönnet.“

Licht und Labsal„, „liebt den, der vor Liebe brennet“, das sind fantastische Kombinationen von Wörtern, das drückt den Spirit aus, Überfließendes, hat was Exzessives – gute Sache, dass Paul&Johann sich das heute noch zu sagen und zu singen trauen! Cool, so cool. Paul kennt sich gut aus mit der deutschen Sprache, drechselt Binnenreime, wechselt den Rhythmus innerhalb eines Verses, um das Hüpfen des Herzens auszudrücken. Krasser Typ. Ist offenbar in die Schule der Deutsch-Rapper gegangen. Oder die Deutsch-Rapper könnten auch was von dem Duo Paul&Johann lernen.

Hab grade einen Jahresrückblick im German Free-TV angeschaut. Channel? Egal. Glaubt man dem Free-TV in Germany, dann ist sowieso alles schlimm, alles geht den Bach runter, nicht nur im Ahrtal, sondern auch sonst, wir sind fest im Würgegriff der Seuche, und sofern wir die Pandemie überleben, werden uns die reißenden Fluten des Klimawandels fortreißen. Mausetot. PAINT IT BLACK, das ist der Grundton der deutschen Mainstream-Medienlandschaft, gerade jetzt zum Jahresende.

Gut, das Paul&Johann noch einen anderen Ton finden. Gut, dass es ihnen noch nicht die Beine weggehaut hat. Gut, dass es ihnen noch nicht die Sprache verschlagen hat.

Paul&Johann, euch setz ich 2021 auf die Playlist. Weil alles nicht so schlimm ist. Weil wir noch Träume haben. Weil es ist Mist, alle Zuversicht und Freude zu begraben.

Die Songs des Jahres 2021 der FAZ-Redaktion

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Der Mensch – unterwegs zur Unsterblichkeit? Das süße Gift der Rhetorik

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Jul 072021
 

Deutschlandweit wurden nach den neuen Angaben binnen 24 Stunden 48 Todesfälle verzeichnet. Vor einer Woche waren es 56 Tote gewesen.“

Innerhalb 24 Stunden 48 Todesfälle! Diese Meldung aus dem Robert-Koch-Institut verzeichnet wörtlich so die FAZ heute, am 7. Juli 2021. Wir besinnen uns: Ja, früher, da war alles schlimmer! Denn früher, da gab es in Deutschland regelmäßig über 2200 Todesfälle! Etwa 2.200-2.600 Menschen starben jeden Tag in Deutschland. Wer erinnert sich noch daran?

Ist die Menschheit unterwegs zur Unsterblichkeit? Schreiben wir den vom RKI vorgezeichneten Trend fort, dann müsste sich die Zahl der Todesfälle allmählich der Null nähern. Der Mensch würde sich in Deutschland asymptotisch der Unsterblichkeit nähern!

Auch der aktuelle Economist setzt größte Hoffnung darauf, dass dank der Impfung jede Art von schwerer Krankheit und Tod überwunden werden könnte. Wir lesen im neuesten Heft der angesehenen Zeitschrift:

„Today’s variants are spreading even among the vaccinated. No mutation has yet put a dent in the vaccines’ ability to prevent almost all severe disease and death. But the next one might. None of this alters the fact that the pandemic will eventually abate, even though the virus itself is likely to survive.“

Wir übersetzen: „Die heutigen Varianten verbreiten sich sogar unter den Geimpften. Noch hat keine Mutation die Fähigkeit der Impfstoffe beeinträchtigt, fast alle schweren Erkrankungen und Todesfälle zu verhindern. Aber die nächste Mutation könnte genau dies bewirken. Das alles ändert nichts an der Tatsache, dass die Pandemie schließlich abebben wird, auch wenn das Virus selbst wahrscheinlich überleben wird.“

Verhinderung fast aller schweren Erkrankungen und Todesfälle! Brave New World! Traumhafte, glänzende neue Welt! Durch derartige Formulierungen, wie sie beispielsweise tagein tagaus das RKI, die FAZ oder der Economist bringen, wird unterschwellig die Hoffnung genährt, wir könnten uns nach und nach gegen jede Art von schwerer Krankheit wappnen, wir könnten dem Tod ein Schnippchen schlagen. Denn es wird auf geradezu tolldreiste Weise der Eindruck erweckt, nur an COVID-19 stürben die Menschen.

Eine wahnhafte Selbsttäuschung, finde ich. Denn selbstverständlich sterben in Deutschland auch weiterhin an den verschiedensten Krankheiten und in Unglücksfällen mehr als 2200 Menschen jeden Tag. Nur spricht man von denen nicht. Immer nur und ausschließlich von COVID-19 als möglicher Todesursache zu sprechen und alle anderen Todesursachen zu beschweigen, ist ein rhetorischer Kniff, ein süßes Gift, ist in höchstem Maße unredlich, so meine ich jedenfalls. Es schürt im Volk die irrationale Angst vor dem Tod durch COVID-19 und nährt andererseits die Hoffnung, man könnte sich endgültig den Stricken des Todes entwinden.

Das Ziel bleibt es offenbar, im Volk den trügerischen Anschein der Unsterblichkeit zu nähren. Und die erträumte Unsterblichkeit, die wird uns geschenkt durch — ?

Das frage du dich selbst, o Leser!

Quellenangaben:

FAZ, 07.07.2021:

RKI meldet 985 neue Corona-Fälle, R-Wert erstmals seit April über 1 (faz.net)

The Economist, 3. Juli 2021:
The long goodbye to covid-19 | The Economist

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„Wir sollten die Angst überwinden“ – der mutige Weckruf der Mazarine Pingeot

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Jan 132021
 

Il faut dépasser la peur – tolles, ermunterndes Gespräch vom 12. Januar 2021 auf TV5 Monde mit Mazarine Pingeot, der Verfasserin des Buches „Et la peur continue“. Patrick Simonin stellt die richtigen Fragen an die Schriftstellerin! Klasse gemacht!

Ihre Botschaft: Angst gehört zwar dazu. Sie ist ein wichtiges Signal vor etwas, was nicht stimmt. Aber wir, wir haben derzeit ein Zuviel an Angst. Angst vor herabfallenden Ziegelsteinen, vor ich weiß nicht was, vor dem Tod, vor dem Sterben, vor dem Leben, und vor allem möglichen sonst auch noch…! So eine Stimme bräuchten wir in Deutschland, bräuchten wir in ganz Europa öfter! Wo sind sie denn, diese mutigen Stimmen in all den Todestabellen, Sterbezahlen, Inzidenzwerten, in dieser unfassbaren, ungeheuerlichen Angstbesessenheit, die in diesen Wochen, diesen Monaten ganze Gesellschaften durchrüttelt…?

Wo bleibt die Freude am Leben?

TV5MONDE – L’invité – Mazarine Pingeot

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Es ist Zeit, daß wir wissen, dass wir zeitlich sind

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Nov 262020
 

Zu den bittersten Kränkungen der jetzigen Zeit gehört es, dass wir uns der eigenen Begrenztheit bewusst werden. Wir haben schlechterdings dies und das nicht in der Hand! Zum Beispiel – die Zeit. Zum Beispiel – den Zeitpunkt des eigenen Todes. Wir erleiden die Einsicht zum Beispiel – von der Unplanbarkeit zahlreicher Verläufe. Auch die allesbesorgende Politik hat es nicht in der Hand. Der Staat kann den Menschen nicht mehr das Erreichen der natürlichen Altersgrenze von so und so vielen Jahren (70? 80? 86? 100? 120? Unsterblichkeit?) zusichern, wie er dies noch vor einem Jahr vorgab. Ein trügerisches Vorgeben, wie wir jetzt erneut erfahren!

Schlägt man heute die Zeitungen auf, so weht einen überall der Todesgedanke an, Fallzahlen, Sterbetafeln, Infektionsinzidenzen haben die Aktienkurse, Wechselkurse und Targetsalden ersetzt, die früher das unerbittliche Schicksal bedeuteten. – Ein psychotischer, barocker Pesthauch der Vergänglichkeit wallt uns an! Von Geburten, Geburtenzahlen (die muss es doch auch geben?), von Zuversicht, von der Schönheit des Lebens erfährt man nichts mehr aus den Massenmedien und aus den Verlautbarungen – während echte, gute, wahre barocke Kunst (die Musik J. S. Bachs z.B.) bei aller intimen Nähe zum Tod doch immer wieder die überschäumendste Freude feierte! Eine ganze Gesellschaft zieht sich schon mal das Leichentuch übers Gesicht. Es steht 0:6 für den Tod bei uns in Deutschland. Wie die Nationalelf es gegen Spanien so rekordverdächtig herausgespielt hat. Da war kein Aufbäumen mehr zu erkennen.

In der ersten Auflage eines 2020 neu erschienenen Buches hingegen strahlt uns taufrisch und unverwelklich folgendes Gedicht entgegen, als wäre es für heute, den 26. November 2020, geschrieben – oder als wäre es am vergangenen Sonntag, dem Totensonntag des Jahres 2020 geschrieben:

CORONA

Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.

Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Es ist Zeit.

Zitat:
Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020, S. 45

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Vermeidbare nichtinfektiöse Pandemien: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht. Die unbequemen Wahrheiten der Querdenker Jens Spahn und Horst Seehofer

 Angst, Beweg dich, Corona, Seuchen  Kommentare deaktiviert für Vermeidbare nichtinfektiöse Pandemien: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht. Die unbequemen Wahrheiten der Querdenker Jens Spahn und Horst Seehofer
Nov 172020
 

Diabetes Typ 2, Bluthochdruck, Übergewicht. Diese drei Symptomkreise sollten wir, so meine ich und schlage es hiermit vor, als „nichtinfektiöse Pandemien in Wohlstandsgesellschaften“ bezeichnen. Als drei der vier wichtigsten Ursachen für schwere und schwerste Erkrankungen – zugleich als drei der vier nachweislich entscheidenden Risikofaktoren bei Verlauf und Schweregrad von COVID-19-Infektionen – haben denn auch zwei unerschrockene Politiker, die Bundesminister Jens Spahn und Horst Seehofer, auf einige minder beachtete, kaum bekannte und doch unbestreitbare Wahrheiten hingewiesen. Die NDR-Infonachrichten berichten am 09.11.2020:

Bis zu 40 Prozent der Menschen in Deutschland zählen in der Corona-Krise nach Einschätzung von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn zur Risikogruppe. „Bei uns sind 23 Millionen Deutsche über 60“, sagte der CDU-Politiker am Sonntagabend im Politik-Talk „Die richtigen Fragen“ auf „Bild live“. „Wir sind ein Wohlstandsland mit Zivilisationskrankheiten: Diabetes, Bluthochdruck, Übergewichtigkeit. Alles Risikofaktoren für dieses Virus, wie für viele Infektionskrankheiten übrigens auch.“ Spahn warnte: „Wenn Sie nach der Definition gehen, sind 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung Risikogruppe.“ Die Bundesrepublik sei nach Japan das zweitälteste Land der Welt.

Soeben hat Ministerpräsident Woidke im rbb-Inforadio vom harmlosen Verlauf seiner Corona-Erkrankung berichtet, die sich im wesentlichen auf milde Erkältungssymptome beschränkt habe. Am schlimmsten sei eigentlich die Angst gewesen, was noch alles habe passieren können. Das habe ihm tiefen Respekt vor der Krankheit eingeflößt. Das dürfte ins Bild passen! Wir lernen daraus: Die Angst vor der Krankheit ist am schlimmsten.

Die Berliner Morgenpost berichtet am 16.11.2020:

Ob es zu einem schweren Krankheitsverlauf kommt und die Patient*in sogar verstirbt, darauf nehmen vor allem Alter und Vorerkrankungen Einfluss. Laut RKI waren 85 Prozent aller bisher verstorbenen Infizierten über 70 Jahre alt.

Als weiteren deutlichen Risikofaktor erkennen wir somit zunehmend die Lebensalterstufe ab 70 Jahren. Vor dem Lebensalter 70 Jahre (nicht 60) liegen die schweren und schwersten Verläufe der Corona-Infektion, wie die der anderen Infektionen auch, deutlich unter der Höchstgefahr! Einzelne schwere oder schwerste Verläufe kommen zwar auch bei jüngeren, fitten, ansonsten gesunden Menschen vor. Sie haben aber nirgendwo pandemische Ausmaße! Man überprüfe doch einmal alle öffentlich verfügbaren Zahlen aus den Ländern dieser Welt.

Diabetes, Übergewichtigkeit, Bluthochdruck, hohes Lebensalter über 70. Das sind weltweit die entscheidenden Risikofaktoren für gefährliche Verläufe von COVID-19.

Denn nur bei Vorliegen von einem oder mehreren der vier genannten Risikofaktoren besteht – rein statistisch gesehen! – eine hohe Gefahr, dass die Corona-Infektion einen schweren oder sehr schweren Verlauf nimmt.

Man kann und muss nicht NICHTS tun!

Am Fortschreiten des Lebensalters kann man zwar nichts ändern, sehr wohl aber kann man etwas gegen die drei anderen wichtigen Risikofaktoren tun: das Auftreten von Diabetes 2, Bluthochdruck und Übergewicht. Und zwar durch Umstellung der Ernährung und der Lebensweise. Diese vier vorbeugenden Maßnahmen lassen sich sofort umsetzen:

Jeden Tag reichlich Bewegung in frischer Luft bei jedem Wetter!
Gesunde, selbst zubereitete, leckere, frische Speisen in Maßen und mit Genuss essen!
Zahl der Mahlzeiten beschränken!
Keine oder wenige Süßigkeiten, wenig Zucker, wenig oder kein verarbeitetes Fleisch essen!

Epidemiologisch gesehen, und das heißt natürlich statistisch gesehen, spricht alles dafür, dass seuchenbekämpfende Maßnahmen sich zielgenauer auf die vier genannten Risikofaktoren konzentrieren und beschränken sollten. Erneute flächendeckende Stilllegungen des öffentlichen Lebens, weitere tiefe, grundrechtsverletzende Eingriffe in das Privatleben sind meines Erachtens nicht nötig.

https://www.welt.de/vermischtes/article218591880/Anne-Will-Wir-verletzen-im-Grunde-alle-Grundrechte-von-Artikel-1-bis-Artikel-19.html

Der Philosophieprofessor Julian Nida-Rümelin, die Bundesminister Jens Spahn und Horst Seehofer, diese drei unerschrockenen Querdenker, wie wir sie nennen dürfen, weisen mit ihren Worten den Weg zu mehr Selbstverantwortung, zu vorsorgender Pandemiebekämpfung, zur Bekämpfung all der infektiösen und nichtinfektiösen Pandemien in unseren Wohlstandsgesellschaften.

Daneben sind selbstverständlich die vier anderen universalen Maßnahmen AHA+L völlig richtig und sollten meines Erachtens auch weiterhin durchgesetzt werden:

Abstand zu anderen Personen halten!
Hygieneregeln beachten!
Alltagsmaske im engeren Kontakt mit anderen Personen außerhalb des eigenen Haushaltes tragen!
Innenräume regelmäßig gründlich lüften!

Belege:

https://www.ndr.de/nachrichten/info/meldungen/nachrichten313_con-20x11x09x06y45.html

https://www.morgenpost.de/vermischtes/article230922830/Droht-Deutschland-neue-Dimension-bei-Corona-Todesfaellen.html

Ringer-Weltmeister Frank Stäbler, der nach überstandener Corona-Infektion noch sehr weit von seiner besten Kondition entfernt ist


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SCHOCK!!! Und gestern gab es wieder 62 COVID-Tote!! (…von wie vielen Todesfällen gestern insgesamt?)

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Nov 162020
 

Rationale Überlegungen werden nicht durch supertolle, zweifellos geniale Propagandaspots der Bundesregierung, sondern durch Sterbefallzahlen, akute Erkrankungszahlen, Durchschnittszahlen des Alters der Verstorbenen erleichtert. Fakten sollten (sollten!) mehr als Ängste zählen.

Was ist Sache? Was sagen die Zahlen?

Jeden Tag sterben in Deutschland durchschnittlich etwa 2400 Menschen. Gestern starben laut offiziellen Angaben des Robert-Koch-Instituts 62 (zweiundsechzig) mit COVID-19 infizierte Menschen.

Das heißt, dass gestern bei etwa 2,6% der Verstorbenen eine nachgewiesene COVID-19-Infektion vorlag. Bei den meisten Verstorbenen konnte keine COVID-Infektion nachgewiesen werden.

Die anderen etwa 97,4% der Verstorbenen, woran starben oder litten sie? Nun, auch hier geben die Zahlen Auskunft, in diesem Fall die Angaben des Statistischen Bundesamtes. Die meisten Menschen in Deutschland litten, leiden, starben und sterben an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, danach kamen und kommen die Krebserkrankungen, an dritter Stelle standen und stehen verschiedene Erkrankungen des Atmungsapparates wie etwa Lungenentzündung oder andere bakterielle oder virale Infektionen.

In der Zahl der Todesursachen und der schweren, lebensbedrohlichen Krankheiten spielt COVID-19 also in der Gesamtbevölkerung nach wissenschaftlich gesichertem Erkenntnisstand eine zwar nicht zu vernachlässigende, aber doch geringfügige Rolle. Es ist eine Krankheit, die für Morbidität (Erkrankungshäufigkeit) der Bevölkerung und Mortalität (Sterbewahrscheinlichkeit) der Bevölkerung eine untergeordnete, wenn auch keineswegs zu vernachlässigende Rolle spielt.

Quelle: RKI COVID-19 Germany

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1118856/umfrage/monatliche-sterbefaelle-in-deutschland/#:~:text=Im%20September%202020%20gab%20es,beurkundete%20Kriegssterbef%C3%A4lle%20und%20gerichtliche%20Todeserkl%C3%A4rungen.

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„Are we going to survive our next few breaths?“ Hilary Mantels befreiende Grundeinsicht

 Angst, Ausnahmezustand, Corona, Europas Lungenflügel, Seuchen, Verwöhnt  Kommentare deaktiviert für „Are we going to survive our next few breaths?“ Hilary Mantels befreiende Grundeinsicht
Apr 172020
 
Hilary Mantel: The Waterstones Interview – Wolf Hall Trilogy 24.02.2020

„Werden wir die nächsten paar Atemzüge überleben?“

In unseren durch und durch gesicherten Zeiten fällt es uns wohl zunehmend schwer, das Grundgefühl zu verstehen, das die Menschen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder überfiel, sie beherrschte, sie zum Glauben trieb und vom Glauben abfallen ließ: das Gefühl der gestundeten, der aufgeschobenen Sterbestunde, der Gedanke an den eigenen Tod als ständigen Wegbegleiter, das Ringen um jeden Atemzug, der der letzte sein konnte.

Hilary Mantel, die in der Grafschaft Derbyshire geborene Schriftstellerin, fasst dieses alle Jahrhunderte, alle Jahrtausende der bisherigen Menschheitsgeschichte durchziehende Grundgefühl in einem Gespräch über den dritten Teil ihrer Cromwell-Trilogie in die folgende brillante Formulierung: „Are we going to survive our next few breaths?“

Der unzeitige, der vorzeitige Tod, die Todesgefahr war dieser Schatten, der die Menschen im Alltag begleitete. Man starb früher vor allem an Infektionskrankheiten aller Art – Atemwegserkrankungen wie Tuberkulose und Lungenentzündungen zuvörderst -, an bakteriellen und viralen Seuchen, Epidemien, „Plagen“, Pest, Pandemien, man starb an Verletzungen und Unfällen, man starb in Kriegen, in Raubüberfällen, Brandschatzungen, Feuersbrünsten, Vergiftungen, Hungersnöten.

Man erreichte fast nie das Ablaufdatum der biologischen Uhr, also jene Altersgrenze, an der der menschliche Organismus nicht mehr die Kraft zum Weiterleben – und das heißt: zum Weiterkämpfen – hat.

Die heute so pandemisch verbreiteten Wohlstandskrankheiten wie Übergewicht aufgrund von zu reichlicher Ernährung und Bewegungsmangel – oder auch zahllose vermeidbare chronische Erkrankungen wegen des Tabakrauchens – gab es nur in der winzigen Schicht des begüterten Adels.

Normal dagegen waren plötzlich hereinbrechende Unglückslagen, Pest, Infektionen, Hunger, Krieg. Raffael starb mit 37 Jahren, Mozart mit 35. Überrascht war man trotz aller Trauer durch derartige „vorzeitige“ Sterbefälle nicht. Sie waren die Norm.

Die derzeit in aller Munde diskutierte Corona-Pandemie vermag einen schwachen Eindruck, einen milden Abklatsch davon zu geben, in welcher fundamentalen Unsicherheit die Menschen zu Zeiten eines Cromwell, eines Thukydides, eines Achilles oder auch eines Napoleon lebten.

Unser heutiger Ausnahmezustand war früher der Normalzustand.

Heute, in unseren von unvergleichlicher Sicherheit geprägten reichen Gesellschaften (in der reicheren Hälfte der Weltbevölkerung wohlgemerkt, nicht in den armen Staaten!) sterben die meisten Menschen erst in hohem Alter an Herz-Kreislauferkrankungen und an Krebs, während infektiöse Erkrankungen wie Lungenentzündung oder COVID-19 nur mehr 3-5% der Todesursachen ausmachen und gewaltsames Sterben nahezu verschwunden ist – selbst wenn jeder Sonntagabend mit der Unzahl an seriell gefertigten Krimis das Gegenteil zu verkünden scheint.

Nach den und zusätzlich zu den Pandemien der vermeidbaren Wohlstandserkrankungen (überwiegend durch menschliches Fehlverhalten bedingt) haben wir nun eine weitere Pandemie zu bewältigen – die Corona-Pandemie. Nach Dimension, Wucht, Dauer, statistischer Relevanz kommt sie bisher den bereits vorhandenen nicht-infektiösen Pandemien noch nicht nahe, an die wir uns gewöhnt haben. Denn weiterhin sterben die allermeisten Menschen und werden die meisten Menschen an ganz anderen Ursachen sterben – nämlich an Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs, ferner auch weiterhin an opportunistischen Infektionen wie Lungenentzündung, COVID-19 oder Noro-Viren. Die Todesfälle durch COVID-19 laufen derzeit als kleiner statistischer Zusatz mit. Sie werden durch eine gigantische mediale Überhöhung freilich rund um die Uhr buchstäblich ins Volk gepeitscht und getrommelt.

Ihre Unvermeidbarkeit und ihre vermeintliche Neuartigkeit sind es, die zunächst einmal Angst vor COVID-19 machen und das gesamte staatliche Gefüge durcheinander wirbeln! Politics of fear! Angst vor Kontrollverlust als Triebfeder der Politik! Die Allmachtsfantasien der modernen, risikoarmen Wohlstandsgesellschaften werden durch COVID-19 gebrochen. Der unzeitige, der nicht planbare, der nicht erwartbare Tod tritt wieder als ständiger Begleiter an die Seite des Menschen, so wie er dies in früheren Jahrhunderten und Jahrtausenden auch gewesen ist. Es tritt wieder eine Art Normalzustand der Menschheitsgeschichte ein.

In der Muttersprache Hilary Mantels, der ich an dieser Stelle von Herzen danke, möchte man sagen:

Buck up, come on, things aren’t that bad. They aren’t that new, either. We will survive our next few breaths, in all likelihood.

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Ist der Populismus eine Massenvergiftung der Nation?

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Okt 202017
 

HASS SCHADET DER SEELE. HATE HARMS THE SOUL. RECHTSPOPULISMUS SCHADET DER SEELE.

Dies sind Aussagen, die ich in den letzten Tagen, in den Tagen nach der Bundestagswahl, als moralisch-politische Tiefenanalyse an den Fassaden monumentaler evangelischer Kirchen lesen konnte. Das Foto zeigt beispielhaft zwei dieser Merk- und Denk-Sprüche am Eingang des Berliner Doms in einer Aufnahme vom 10.10.2017. Hier, in dieser Kirche, wirkte bekanntlich der Hofprediger Adolf Stoecker (1835-1909), ein Theologe, der unermüdlich vor den Gefahren des Großkapitalismus und des Judentums warnte und die Trennung von Staat und Kirche ablehnte. Stoecker, ein Spitzenvertreter des durch und durch politisierten deutschnationalen Christentums, darf als einer der Begründer der antisemitischen Bewegung im deutschen Sprachraum gelten. Sein besonderer Hass richtete sich bekanntlich gegen das Judentum, dem er in Schriften, Pamphleten und zahllosen Eingaben beredten Ausdruck verlieh; die von ihm unterzeichnete Antisemitenpetition  von 1880/81 verdient auch heute noch besonderes Interesse. Stoecker verlangte unter anderem die Entfernung der Juden aus dem Staatsdienst. Er muss als unmittelbarer Anreger und Vorbereiter der nationalsozialistischen Ideologie gelten.

Hate harms the soul, wer wollte dem widersprechen? Der Hass auf die Juden, der Hass auf die politischen Gegner hat der Seele der Christen geschadet, das ist sicher auch richtig. Aber zu dieser Aussage vermag sich die Kirche nicht durchzuringen. Schade.

In ihrer Plakatkampagne spricht sich die ev. Kirche unverbindlich gegen den Hass im allgemeinen und sehr verbindlich gegen den Rechtspopulismus im besonderen aus. Rechtspopulismus und Hass sind austauschbar, wenn man die Plakate hintereinander liest. Mehr noch: In der Darstellung der ev. Kirche  IST der Rechtspopulismus der hervorgehobene Träger des Hasses, den es zu bekämpfen gilt. Der Rechtspopulismus gefährde das Seelenheil, er schade der Seele, er sei eine Art psychische Krankheit, die im Hass wurzele, so die Botschaft der deutschen, in diesem Sinne allzu Deutschen Kirche.

Ganz ähnlich wie die ev. Kirche äußert sich heute auf S. 4 in der Berliner Zeitung der an der FU lehrende Historiker Paul Nolte. Auch er verwendet ganz offen die Metaphern der Krankheit, auch er sieht den Rechtspopulismus als eine Art Seuche an, vor der es den gesunden demokratischen Volkskörper zu schützen gelte. Die AfD bezeichnet er ganz offen als Seuchenträger dieser gefährlichen Krankheit. Er bekennt sich zustimmend zu dem bisher geltenden „Dogma, dass es rechts der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben darf“. Er untermauert diese dogmatische Lehre mit der Begründung, „weil die AfD eine Partei ist, die auch rechtsextrem und bis in den Bereich der Mandatsträger nationalsozialistisch verseucht ist.“

Ein paar Sätze weiter vergleicht er die populistische Bewegung in den USA mit Schmarotzern, sie habe sich wie ein Parasit auf ein Wirtstier gesetzt. „Dort ist ja zu beobachten, dass sich eine populistische Bewegung wie ein Parasit auf ein Wirtstier, in diesem Fall eine existierende Partei, die Republikaner, gesetzt hat.“ 

Parasiten“ und „Wirtstiere„, „kranker Populismus“ und gesunde „demokratische Parteien“, – diese Bezeichnung des politischen Gegners als Ungeziefer, als Gefahr, als Schädling ist etwas, was sich auf Schritt und Tritt auch im nationalsozialistischen Schrifttum findet. Ein Blick in den Artikel „Juden“ in Knaurs Lexikon von 1938, aber auch in das Buch „Mein Kampf“ von Adolf Hitler beweist dies schlagend. Die Angst vor „Verseuchung“, „Zersetzung“ und „Massenvergiftung der Nation“ durchzieht teils versteckt, teils völlig offen das gesamte Buch.  Dort heißt es beispielsweise: „So wie man zur Heilung einer Krankheit nur zu kommen vermag, wenn der Erreger derselben bekannt ist, so gilt das gleiche auch vom Heilen politischer Schäden.“

Der geradezu hasserfüllte Feldzug der evangelischen Kirche und teilweise auch der Kath. Kirche gegen den Rechtspopulismus, die ebenfalls nahezu hasserfüllte Bezeichnung der AfD als  „verseucht“ durch den Historiker Nolte sind Hinweise darauf, wie stark der Kampf gegen den Rechtspopulismus in der ungebrochenen, unseligen Metaphern-Tradition des Kampfes gegen die Juden, gegen die „inneren Feinde“ steht. Beide Male wird ein echter oder vermeintlicher Gegner zum inneren Feind erklärt, der zersetzend und unterwühlend im „eigentlich gesunden“ Volk wirke. Wie anders sollte es sonst zu erklären sein, dass ein anerkannter Neuzeithistoriker sich völlig ungehemmt in der Lingua Tertii Imperii (LTI), im Wörterbuch des Unmenschen bedient?

Nachweise:

Knaurs Lexikon A-Z. Berlin Verlag von Th. Knaur Nachf., Berlin 1938, vor allem Artikel „Juden“ (dort der Ausdruck „Wirtsvolk“), „Seuchen“, „Adolf Stöcker“, „Sozialismus“, „Nationalsozialismus“
„Weder ausgrenzen noch ignorieren“. Der Historiker Paul Nolte über den richtigen Umgang mit Populisten und die Erosion der Volksparteien. Berliner Zeitung, 20. Oktober 2017, S. 4
Adolf Hitler: „Die Massenvergiftung der Nation“, in: Mein Kampf : eine kritische Edition / Hitler ; herausgegeben von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger, Roman Töppel unter Mitarbeit von Edith Raim, Pascal Trees, Angelika Reizle, Martina Seewald-Mooser ; im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München – Berlin; vierte, durchgesehene Auflage, 2016, hier Band I, S. 643 [S. 256]; Zitat:  S. 605 [S. 238]
Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. 2. Aufl., München 1965, darin besonders: Weltkampf um „Gesundung“, S. 502-505

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„Auffi gehts! Schaugst waida! Gehts aussi!“

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Sep 192017
 

23. Mai 2017, Kreuth am Tegernsee, abends.

Gutes, lauschendes, tief einsaugendes Lauschen auf die Landleute beim Viehtrieb in Kreuth! Das ist ja genau die Sprache, die mir in die früheste Kindheit hineinschallte, meiner Mutter Sprache – Bairisch, ein Idiom, dessen ich mich bei meinen gelegentlichen Aufenthalten in meinem Herkunftsland gern auch selbst befleißige.

Vergessen wir nicht, wir sind hier am Tegernsee auf ältestem deutschem Kulturboden. Der älteste erhaltene deutsche Roman überhaupt, der berühmte Ruodlieb – ein lateinisch verfasstes Versepos – stammt aus dem Kloster Tegernsee! Er wurde gut 9 Jahrhunderte vor Thomas Manns Doktor Faustus verfasst, diesem Schicksalsroman, dessen letzte, dramatisch zugespitzte Szenen ebenfalls im oberbayrischen Voralpenland spielen.  Ja, die in Pfeiffering ausgemalten Schlussbilder, der gutmütige Dr. phil. Serenus Zeitblom  hätte sie auch hier ansiedeln können.

Bild: eine Kreuther Ziegenherde am 23. Mai 2017, wenige Momente nach dem Austrieb aus dem Stall. Unsicher taumelnd  tollen die Ziegen umher. Nach der Sicherheit des Stalls, wo ihnen Tag um Tag das Futter gereicht wurde, löst die Freiheit des Graslandes einen rauschartigen Tanz aus. Die Herde bleibt sicherheitshalber vorerst zusammen. Die Herde bietet Schutz angesichts des Neuen, das da kommen mag.

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