Sep 292021
 

Say something back

How do you think dying thoughts
when finally  the wind
between silence and echo
kisses you with promises of tomorrow?
When suddenly the rose in the front garden
freed from the hollow of winter laughs yellow?
Who thinks about shovels digging black earth
when in the park couples linger
lying on sun warmed grass    not beneath?
When children clap at the sight of a swan
not twisting its neck    not plucking it naked?
By the window overlooking the garden
where you buried a kit fox last summer
you’re thinking of making home
making love    checking his heart beat

*In response to Cardiomyopathy by Denise Riley in Say Something Back

Entnommen aus: Petra Hilgers: The heart neither red nor sweet.
erbacce-press, Liverpool UK 2021, ISBN: 978-1-912455-21-8

Mich erreichte im Juli aus Immenstadt die Anfrage, ob ich wohl einige Gedichte der Autorin Petra Hilgers aus dem Englischen übersetzen möchte. Ich las die beigelegten Texte durch und war auf der Stelle stark beeindruckt von diesen Gedichten! Sie schlugen sofort verschiedene Saiten in mir an. Eine Übersetzung ins Deutsche wäre ein Versuch, diese verschiedenen Saiten in einen Zusammenklang zu bringen und damit auch das englische Original zu stärkerem Schwingen zu bringen. Ich war sofort und ohne Einschränkung bereit, zu dem Vorhaben beizutragen, diese auf Englisch verfassten Gedichte der in Deutschland geborenen Petra Hilgers ins Deutsche zu übersetzen.

Nach einigen Stunden, Tagen, Wochen des Sinnens, Nachsinnens, Singens entstand folgende Übersetzung, die ich der Autorin vorlegte, und der sie mit einigen wenigen Änderungen ihren Segen gab:

Sag etwas zurück

Wie denkst du sterbende Gedanken
wenn schließlich    der Wind
zwischen Stille und Echo
dich küsst mit Verheißungen von morgen?
Wenn die Rose im Vorgarten
befreit von der Höhlung des Winters     plötzlich gelb auflacht?
Wer denkt an Schaufeln die sich in schwarze Erde graben
wenn müßige Paare im Park
auf sonnwarmem Gras liegen      nicht darunter?
Wenn Kinder beim Anblick eines Schwans klatschen
ihm nicht den Hals umdrehen      ihn nicht nackt rupfen?
Am Fenster mit Blick auf den Garten
in dem du letzten Sommer einen Fuchswelpen begraben hast
denkst du daran ein Zuhause zu schaffen
Liebe zu machen    seinen Herzschlag zu prüfen

*Als Antwort auf Cardiomyopathy von Denise Riley in Say Something Back

Das Bild oben zeigt den Hl. Hieronymus in der Schreibstube. Kupferstich entstanden um 1435-1440. Als Urheber gilt der sogenannte Meister des Todes Mariae. Staatliche Museen Berlin, Kupferstichkabinett. Das Blatt ist noch bis 3. Oktober zu sehen in der Ausstellung: Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Berliner Gemäldegalerie

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„Incerti quo fata ferant…“ Über Nichtplanbarkeit angesichts der Epidemie

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Jun 202020
 
Marcantonio Raimondi: „Die Pest in Phrygien“ (Il morbetto). Gesehen gestern in der Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts „Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett“

Von größter Planungssicherheit zeugen wieder und wieder die gegenwärtig laufenden Gespräche zur Zukunft der Europäischen Union. Alles wird berechnet, die Staaten müssen sich nur noch einigen, wie sie all das Geld zu verteilen haben. Mithilfe des Geldes übernimmt die Union die Gestaltungsmacht über die Zukunft bis ins Jahr 2050. So ist man sicher, den Wohlstand zu sichern, die Klimaneutralität zu erreichen. Man, also die Europäische Union, plant es ja so. Großartig, diese Gewissheit, dieser Glaube an die Planbarkeit und Berechenbarkeit der Zukunft! Mit so und so viel Geld ist man gewiss, dieses und jenes Ziel bis zu einem bestimmten Datum zu erreichen.

Wie im Großen, so auch im Kleinen! So ist man auch gewiss, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf die deutschen Straßen zu bringen. Man, also die Bundesregierung, hat es ja im Jahr 2013 so geplant und festgeschrieben. Und dann wird es auch so kommen. (Aktuell fahren allerdings nach den Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes Flensburg weniger als 200.000 Elektroautos auf deutschen Straßen, doch diese Tatsache spielt für den Glauben an die Pläne keine Rolle). Und dann wird man auch bei richtiger Planung und mit den entsprechenden Geldbeträgen die Klimaneutralität im Jahr 2050 erreichen. Man muss nur planen, muss glauben, muss folgen, muss mittun!

Um wieviel anders dachten die Menschen doch früher in all den Jahrhunderten vor unserem großmächtigen, stolzen und selbstbewussten europäischen 21. Jahrhundert! Vieles war eben nicht planbar, so die grundlegende Einsicht unserer europäischen Vorfahren, von der die Politiker der Europäischen Union sich ganz offensichtlich verabschiedet haben. Einer der kulturellen Väter Europas, Publius Vergilius Maro, legt seinem Helden Aeneas zu Beginn des dritten Buches der Aeneis folgende Worte in den Mund:

… incerti quo fata ferant ubi sistere detur …

„Wir waren ungewiss, wohin die Schicksale uns tragen würden, wo uns anzuhalten gegeben würde“

Aeneas sagt diese Worte im Rückblick auf die verheerende Pandemie in Phrygien oder eigentlich auf Kreta, die sich grauenhaft bei ihrem ersten Halt nach ihrer Flucht aus dem zerstörten Troja entgegenstellt: Von Tieren auf den Menschen sprang die Infektion über, Mütter starben vor ihren Kindern, die Leichen stapelten sich in rasch ausgehobenen Gräbern. Den entsetzten Augen der fliehenden Trojaner bot sich also eine Szene dar, wie sie schlimmer nicht hätte sein können.

Raffael stellte diese Szenerie in einem packenden zeichnerischen Entwurf dar, den Marcantonio Raimondi in Kupfer stach, und fügte einige Verse aus dem dritten Buch der Aeneis hinzu.

Angesichts dieser verheerenden Epidemie mussten sich die Trojaner um Aeneas von jedwedem Hirngespinst der Planbarkeit ihres Geschicks verabschieden.

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τίς μείζων, Μαντέγνα ή Μπελίνι;

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Mrz 022019
 


ἐπηρώτα αὐτούς· τί ἐν τῇ ὁδῷ διελογίζεσθε; πρὸς ἀλλήλους γὰρ διελέχθησαν ἐν τῇ ὁδῷ τίς μείζων

„Er fragte sie: worüber habt ihr euch unterwegs auseinandergesetzt? Sie hatten sich nämlich auseindergesetzt, wer größer ist.“

Nun, an einem Stehtisch lauschte ich kürzlich, genüßlich eine Focaccia kauend, einer gelehrten Unterhaltung zweier Kunstfreunde. Das Thema lautete: Wer ist größer, Mantegna oder Bellini?

Diese Frage – „Wer ist größer?“ ist wohl alt, sehr alt. Der Evangelist Marcus, aus dem wir eingangs zitierten, hat uns ein hübsches kleines Gespräch mehrerer Wanderer überliefert. Er rahmt dieses Gespräch sehr passend ein in eine Rahmenhandlung. Framing, also Rahmung, nennt sich das heute bekanntlich, obwohl die Sache alt ist und schon einen Bart hat. Ich selber weiß die Antwort auf die Frage nicht, wer von den beiden der größere ist, Mantegna oder Bellini. Sehr wohl aber haben wir Hinweise darauf, was die Menschen meinen, wenn sie sagen: Dieser oder jener war ein großer Mann.

Was ist das eigentlich, ein großer Maler, ein großer Mann, ein großer Mensch? Die soeben glanzvoll eröffnete Ausstellung „Mantegna und Bellini“ bietet reichlich Gelegenheit, über diese Frage nachzudenken.

Wer ist ein großer Mann? Gaius Julius Caesar? Ja! Nach allem, was wir wissen, galt Gaius Julius Caesar als der größte Mann unter allen Lebenden seiner Zeit. Nicht zufällig wurde er als einer der wenigen Menschen zu Lebzeiten bereits durch Senatsbeschluss zum Gott erklärt. Wir haben steinerne Belege dafür spätestens seit seinem Sieg bei Thapsus im Jahr 46 vor Christus. Inschriften nennen ihn MP·C·IVLIVS·CAESAR·DIVVS: Imperator Gaius Iulius Caesar Divus.

So haben wir eine erste eindeutige Antwort auf die Frage, wer ein großer Mann ist: Gaius Julius Caesar ist in mancherlei Hinsicht der größte Mensch seiner Zeit gewesen. Dafür haben wir zahlreiche Zeugnisse.
Dass an der Größe Caesars keine Zweifel bestehen konnten und können, kann als ausgemacht gelten. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Eine andere Frage ist, ob der Evangelist Marcus dem so zustimmen würde. Gewusst hat er es sicher, dass die Menschen weltweit so denken.

Und so sahen ihn, so hörten, sie verehrten die Römer mit Trompeten diesen großen, den größten Mann seiner Zeit: mit pausbäckigen Musikanten, dickbauchigen Krügen, schmetterndem Schall, wogendem Gedränge:

„Divo Julio Caesari“. Holzschnitt von Andrea Andreani nach der Bilderserie von Mantegna: „Der Triumphzug Caesars“. Kupferstichkabinett Berlin. Derzeit zu sehen in der Gemäldegalerie Berlin in der Ausstellung „Mantegna und Bellini“.

Das griechische Zitat zu Beginn dieser Betrachtung haben wir dem Evangelium des Markus entnommen (Mk 9,34).

https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/mantegna-und-bellini.html

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Schwebende Schwere. Jahreszeitenlosigkeit

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Jan 052019
 
Wassily Kandinsky: Schweres Schweben. 1924. Gesehen gestern in der Ausstellung Bestandsaufnahme Gurlitt. Gropius Bau Berlin

Lieber Sohn, draußen dunkelt es schon. Der vorübergehende Schneefall war nur ein Zwischenspiel. Nun herrschen wieder 5 bis 6 Grad, wodurch das Gefühl einer merkwürdigen Jahreszeitenlosigkeit entsteht. Weder herrscht Winter noch leben wir im Herbst, denn keine Blätter fallen mehr von den Bäumen. Der Sommer ist nur eine Erinnerung, und bis zum Frühling dauert es noch eine unermesslich lange Weile. Also ist das Wetter eine einzige Langeweile. 

Gestern hatte ich einen freien Tag und besuchte gleich zwei Ausstellungen, die beide sehr fesselnd waren: „Bestandsaufnahme Gurlitt“, eine Übersicht über wertvolle Kunstwerke, die während der Nazizeit ihren Besitzern entwendet wurden und die jetzt ihren rechtmäßigen Eigentümer suchen, und die „Bewegten Zeiten“ – eine üppige Tiefenbohrung über die Früh- und Vorgeschichte des Landes, das wir heute Deutschland nennen.

Am meisten beeindruckt hat mich die Zeichnung „Schweres Schweben“ von Wassily Kandinsky, die er 1924 angefertigt hat. War dankbar, dass man in dieser Ausstellung alles fotografieren darf!

Schwebende Schwere! Morgen, Sonntag, werde ich ab 18.45 Uhr als Geiger an einem Webinar mitwirken. Ich bin gespannt, was daraus wird.

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Jan 042019
 
Charles-Joseph Natoire: Die Ruinen des römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, 6. Mai 1760. Kupferstichkabinett Berlin. Gesehen in der Ausstellung: Rendezvous. Die französischen Meisterzeichnungen des Kupferstichkabinetts. Ausstellung von 07.12.2018 bis 03.03.2019


ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. So das Wort Jesu laut Lukas 13,35. Also geht euch verloren euer Haus, dürfen wir grobschlächtig übersetzen. Eine Klage über den Verlust des Hauses, in dem sie zu leben glaubten, eine Voraussage über die Zerstörung des Tempels, über das „Ende der Welt, wie sie sie kannten.“ Jesus lebte in der Naherwartung, er glaubte, das Ende der Welt, wie er sie kannte, stehe unmittelbar bevor. Das Ende seines Lebens wurde später von den Überlebenden, die sich zu ihm bekannten, als Vorwegnahme des Endes der Pracht und Herrlichkeit des alten Israel gedeutet, wie es dann als große Katastrophe im Jahr 70 eintrat.

Die Perikope aus dem Lukasevangelium kommt mir immer wieder in den Sinn, sobald ich an den Ruinen der großen Welt vorbeikomme. Nacherleben der verlorenen großen Welt!

Ob es nun der unter Kaiser Titus zerstörte Jerusalemer Tempel oder die Ruinen des Palatinspalastes sind: Die neue Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin bietet reichlich Gelegenheit, dieses Vorher und Nachher zu bestaunen, nachzuerzählen, nachzuerleben.

Große Kunst – wie sie hier an den französischen Meisterzeichnungen zu erfahren ist – geht häufig aus der Erfahrung der Zerstörung des Großen hervor, aus der Erfahrung des Nachher. Sie ist Nachhall eines unersetzlichen Verlustes.

Aber sie, diese Zeichnung, verbürgt auch den Neuanfang. Sie legt Zeugnis davon ab, dass es auch ein Leben nach dem Zeitenbruch gibt. Friedlich weidende Kühe, die melkende Hirtin, nicht zuletzt aber die an einen Flußgott erinnernde, vorne lagernde Gestalt bekunden die Erwartung des Neuanfanges. Es ist, als raunte es uns aus der Zeichnung zu: „Das Leben geht ja weiter.“ Das Göttliche, der Gott ist vielleicht doch nicht ganz tot.

Nur das Haus des Großen, der Tempel des Göttlichen ist verloren, ist verworfen. Unser Haus ist zur Wüste geworden. Wir sind – die Unbehausten. Aber die Erinnerung daran lebt fort. Sie, Mnemosyne, spendet Kraft und schließt uns unter freiem Himmel zur Gedächtnisgemeinschaft zusammen.

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Von Sokrates zu Jesus. Eine Wanderung mit großartiger Rundumsicht

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Dez 182018
 

Mich erreichte vor einigen Wochen die folgende Einladung zu einem Bibeltag in der Katholischen Akademie in Berlin – eine Einladung, der ich selbstverständlich aus vielen Gründen mit großer Wissbegierde Folge geleistet habe:

Bibeltag mit Prof. Dr. Michael Theobald am Samstag, dem 15. Dezember 2018, von 10.00-17.00 Uhr:
 
Von Sokrates zu Jesus.
Erzählungen vom Tod großer Männer in der Antike
 
Platons Darstellung vom Tod des Sokrates im Phaidon hat in der Antike gewaltigen Eindruck gemacht. Noch der vom Kaiser erzwungene Suizid des Seneca im 1. Jh. n.Chr. fand im Bericht des Tacitus eine Platon nachempfundene Stilisierung. Aus der alten Tradition der Erzählungen vom Tod großer Männer, zu denen auch die jüdischen Märtyrererzählungen aus den Makkabäerbüchern gehören, schöpften nicht zuletzt die neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu. Deren Besonderheit liegt darin, dass sie dank vieler Zitate und Anspielungen vor allem auf den Psalter in biblische Sprache gekleidet sind. Der Grund hierfür ist ihr ursprünglich liturgischer „Sitz im Leben“: Die Erzählungen dienten in den frühchristlichen Pesachfeiern der rituellen Erinnerung an Jesus.

Der Bibeltag möchte anhand der neutestamentlichen Erzählungen vom Tod Jesu auf dem Hintergrund ausgewählter paganer und jüdischer Texte einen Eindruck vom Ringen der ersten Christen um ihren Glauben an den Gekreuzigten vermitteln. Im Römischen Imperium sich zu einem wegen politischen Aufruhrs schändlich Hingerichteten zu bekennen, war ein Wagnis und zugleich eine Provokation herkömmlicher Gottesbilder. Angesichts heutiger Verharmlosung des Kreuzes lässt die Beschäftigung mit diesen Texten – gerade kontrapunktisch zur Weihnachtsseligkeit – ein wenig von der ursprünglichen Kraft des christlichen Glaubenserahnen.

Prof. Dr. em. Michael Theobald war Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen und ist Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V. Die Moderation des Bibeltages hat Pfarrer Dieter Wellmann.

Bild: Caspar David Friedrich: Ostermorgen. Öl auf Leinwand, Museo Nacional Thyssen-Bornemisza, Madrid

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Der Gott Abrahams, Hagars und Ismaels

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Okt 272018
 


Die erste unmittelbare Benennung Gottes durch einen Menschen, wo finden wir sie in der Bibel? Welcher Mensch wagt es als erster, den unmittelbar geschauten, alle Erfahrung übersteigenden Gottesbezug in einen Namen zu gießen, lange ehe sich das alte Israel entschied, den Gottesnamen zu entziehen?

Es ist eine Frau, die diesen ungeheuerlichen Griff wagt, die in äußerster Not errettet wird und zum Zeichen der Rettung ihren Retter mit einem Namen belegt. Ein Mensch gibt seinem Gott einen Namen. Durch die Namensgebung wird Gott zum Du, zum Gegenüber!

Erzählt wird dieser ursprüngliche Vorgang der Namengebung Gottes durch einen Menschen im 1. Buch Mose, Kap. 16.

Rembrandts Zeichnung, derzeit in einer grandiosen Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts zu sehen, wirft ahnungsvoll einen Blick auf diese Urszene.

Hagar, die Frau, wird hineingezogen, hinaufgezogen in ein sie übersteigendes Geschehen. Ihr verdurstendes Kind Ismael liegt am Bildrand, hingezeichnet in kräftigen Zügen. Er wird leben! Der Bote Gottes schwebt in einer Lichtwolke.

Rembrandt fasst das Geschehen in der Wüste als Begegnung des Übermächtigen mit der Ohnmächtigen, ein ungleiches Geschick, das seine Lösung im Aussprechen des ersten menschenerfundenen Gottesnamens anstrebt.

4 völlig unterschiedliche Darstellungen Hagars zeigt derzeit diese Ausstellung „Zeichnungen der Rembrandtschule“ des Berliner Kupferstichkabinetts, die nur noch bis 18. November läuft. Das Hingehen, das Hinschauen lohnt sich vierfach.

Unser Bild zeigt die Legende der erwähnten Zeichnung: „Der Engel erscheint Hagar und Ismael in der Wüste. Feder in Braun, mit Deckweiß stellenweise korrigiert. Hamburg, Kunsthalle, Kupferstichkabinett“. Unten am Bildrand: Schatten des Haarkranzes und zweier Finger des hier Schreibenden. Aufnahme vom 26.10.2018, 15.24 Uhr, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

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Analı babalı büyüsün (4), oder: Welch ein Wunder ist ein neugebornes Kind

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Jul 102018
 

„Welch ein Wunder ist ein neugebornes Kind!“, mit diesem Gedanken verabschiede ich mich heute von Jamal, dem 7 Tage alten Jungen. Jamal, das heißt Schönheit, und schön ist er, wie er da so liegt, umhegt und umsorgt von Mama und Papa. Welches Leben wartet auf ihn, was wird er bringen in seinem Leben? Uns bringt er jedenfalls schon Freude aus seinem Bettchen entgegen. Ich spreche seinen Namen nach, und er scheint darauf zu reagieren, denn ich nehme bei dem schlafenden Kind eine Lidbewegung war.

Obwohl Jamals Eltern aus Libanon und Palästina stammen, bringe ich – für  Jamal unsichtbar, aber doch deutlich hörbar –  meinen türkischen Segenswunsch an: Analı babalı büyüsün, und – wieder ein kleines Wunder! – eine türkische Bekannte, die Zeuge unserer kleinen Begrüßungszeremonie wird, übersetzt meinen türkischen – im Arabischen unbekannten – Spruch in fließendes Deutsch: „Das Kind möge mit Mama und Papa aufwachsen, und das ganze Leben lang mögen Mama und Papa mit dem Kind zusammen sein. Der Wunsch erstreckt sich auf das ganze Leben!“

Im arabischen Sprachraum sagt man eher: Möge Gott dich auf allen deinen Wegen begleiten.

Ein Bild kommt mir dazu in den Sinn. Ich sah es vor ein paar Tagen in der Münchner Alten Pinakothek. Den Besuchern – darunter der hier schreibende – werden seit dem 3. Juli 2018 in den restaurierten Räumen die Augen geöffnet! Gemalt hat dieses Mutter-Kind-Bildnis ein gewisser de’Santi, ein aus Urbino stammender Maler. Es öffnet die Augen für das Wunder des Auf-der-Welt Seins. Morgen der Welt, Welt des Morgens!

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Völker Europas, schaut auf diesen Platz!

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Mai 192018
 

Hier, auf allen diesen Bildern, sehen wir den Europaplatz in Berlin, aufgenommen in diesen herrlichen Tagen des Mai 2018. Ein Vergleich mit dem Europaplatz in Moskau drängt sich geradezu auf.

Über den 2002 gestalteten Europaplatz Moskau schrieb ich am 11. Mai 2018:
Aus dem europäischen Uccle stammte der Bildhauer Olivier Strebelle. Für den Europaplatz im europäischen Moskau schuf er 2002 diese kraftvolle, raumbeherrschende und doch spielerische Metallplastik „Die Entführung der Europa“. Den städtebaulichen Entwurf für diesen Platz Europas gestaltete der europäische Architekt Jurij Platonov.

Heute schreibe ich über den Europaplatz Berlin:
Kein Bildhauer schuf irgendeine Plastik für den Europaplatz in Berlin. An diesem Platz findet sich kraftvoll, und raumsperrend der Nachrückverkehr der Taxifahrer. PKWs, schimpfende Droschkenkutscher. Nachrücker. Ängstliche Fußgänger rennen in die Abfertigungshalle des Hauptbahnhofs. Eilig huschen Reisende vorbei. „Nur fort von hier“, sagen ihre Schritte. „Überall ist es besser als an diesem Europaplatz!“ Ein städtebaulicher Entwurf ist nicht erkennbar. Berlins Europaplatz ist ein Nicht-Ort.

Über den Europaplatz Moskau schrieben wir dagegen:
Wir erreichten heute nach einer Stunde Radtour diesen heiteren, sonnenbeschienenen Platz vor dem Kiewer Bahnhof im Moskauer Bezirk Dorogomilovo. Junges europäisches Volk belebte den Platz mit bunten Kleidern, munterem Wortwechsel und lässiger Muße.“

Am düsteren, 2005 angelegten Europaplatz Berlin lädt nichts, aber auch gar nichts zum Verweilen ein. Im Gegenteil, die Leuchttafel mit den Bus-Abfahrtzeiten fordert dazu auf, möglichst rasch das Weite zu suchen. Es wird nichts erzählt, es wird nichts vorgestellt, es wird nicht gelacht in Europa! So also stellt sich Deutschlands Hauptstadt Europa vor.

 

„Fröhlich flatterten die Fahnen aller 49 Staaten Europas im Hintergrund“, notierten wir in unser Moskauer Reisetagebuch.

Hier in Berlin notiere ich:

Europaplatz Berlin:
Sprachlos und kalt
stehn die Gefängnismauern in Moabit.

Nachts klirren die Fahnen im Winde.
Falsch: Nicht einmal Fahnen gibt es hier.
Fahrpläne um wegzukommen? Ja!
Hier herrscht Frost im Frühling.
Der Tod aller europäischen Symbolik,
Er zelebriert sich hier.

Ganz leise, heimlich und unbemerkt ritze ich in trüber Stunde folgende Bronzetafel in meiner Phantasie ein:

ZUM ZEICHEN DER ABWESENHEIT DER FREUNDSCHAFT
UND DER GEDANKENLEERE SOWIE
DES AUSEINANDERDRIFTENS DER MENSCHEN EUROPAS
HAT DER SENAT BERLINS 2005 BESCHLOSSEN
IN DER HAUPTSTADT DEUTSCHLANDS
DIESEN NICHT-ORT ANZULEGEN
UND IHN EUROPAPLATZ ZU NENNEN
WIR HABEN NICHTS ZU SAGEN ZU EUROPA
WIR GLAUBEN NICHT AN DIE EINHEIT EUROPAS
MIT SEINEN 49 STAATEN
WIR GLAUBEN ZWAR NOCH AN DEN EURO
UND AN DIE MACHT DES GELDES
UNS FÄLLT ABER NICHTS SINNVOLLES ZU EUROPA EIN

ES TUT UNS LEID EUROPA
EHRLICH

 

 

 

 

 Posted by at 17:59

Wo hat Europa Platz? Wo greift Europa Raum?

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Mai 112018
 

Aus dem europäischen Uccle stammte der Bildhauer Olivier Strebelle. Für den Europaplatz im europäischen Moskau schuf er 2002 diese kraftvolle, raumbeherrschende und doch spielerische Metallplastik „Die Entführung der Europa“.

Den städtebaulichen Entwurf für diesen Platz Europas gestaltete der europäische Architekt Jurij Platonov.

Wir erreichten heute nach einer Stunde Radtour diesen heiteren, sonnenbeschienenen Platz vor dem Kiewer Bahnhof im Moskauer Bezirk Dorogomilovo. Junges europäisches Volk belebte den Platz mit bunten Kleidern, munterem Wortwechsel und lässiger Muße.

Fröhlich flatterten die Fahnen aller 49 Staaten Europas im Hintergrund.

Die Bronzetafel am Rand des Platzes klärte uns in französischer, russischer und englischer Sprache auf:

 

 

 

 

ZUM ZEICHEN DER STÄRKUNG DER FREUNDSCHAFT
UND
DER EINHEIT DER LÄNDER EUROPAS
HAT DIE REGIERUNG MOSKAUS BESCHLOSSEN
IN DER HAUPTSTADT RUSSLANDS
DIESES GEMEINSCHAFTSWERK ANZULEGEN
DEN PLATZ EUROPAS

 

 Posted by at 18:28
Mai 082018
 

Was mochte wohl die rätselhafte Zeile Petrarcas bedeuten:

I‘ vidi angelici costumi e bellezze celesti

Unklar dürfte hier vor allem das Substantiv „costumi“ sein. Im heutigen Sprachgebrauch könnte das Wort Gewohnheiten, Gebräuche, Gebärden, aber auch Gewänder, Anzüge oder Kostüme bedeuten.

Also zu deutsch etwa:
Ich sah engelhafte Gewänder und himmlische Schönheiten

Da aber im älteren Italienisch, etwa bei Dante oder Ariost, „costume“ auch „Eigenschaft“, „Kraft“, „Macht“, ja sogar „Wesen“ meint, scheint auch folgende Übersetzung erlaubt:

Ich sah englische Mächte und himmlische Schönheiten —

Was galt? So sang und sann ich endlos und wunderte mich beim erneuten Lesen und Singen von Liszts meisterhafter Vertonung des Petrarca-Sonetts.

Heute nun löste sich das Rätsel beim Besuch des Puschkin-Museums in Moskau. In der Sonderausstellung „Das Zeitalter Vermeers und Rembrandts. Meisterwerke aus der Leiden Collection“ fand ich das Gemälde Hagar und der Engel von Carel Fabritius.

Die Schau erregt einen Riesenandrang, wie es üblich ist, sobald einer der ganz großen Namen der Kunstgeschichte auf dem Titel steht.

Immer wieder drängten sich Betrachter vor mein gebanntes Auge. Wie sollte man da zur Besinnung kommen!

Und doch: Wie in einer plötzlichen Erscheinung fügten sich da sämtliche 14 Zeilen des Sonetts in eine einheitliche Schau! Gezeigt wird hier die wunderbare Errettung der von Abraham in die Wüste verstoßenen zweiten Ehefrau Hagar und ihres Sohnes Ismael. Dort drohen sie zu verschmachten, da errettet sie aus tiefer Not der Erzengel. Hagar und Ismael überleben, und Ismael wird Stammvater unserer heutigen „Ismaeliten“, also unserer heutigen Moslems.

Ich sah: alles hat hier der niederländische Maler Carel Fabritius hineingemalt:
Die Tränen der Hagar – bei Petrarca: lagrimar –
Das Weh und die Wehen einer Mutter, die ihr sterbendes Kind beweint – bei Petrarca: doglia
die plötzlich hinzutretenden Gewänder eines Engels – angelici costumi
die wunderbaren Kräfte eines göttlichen Boten – angelici costumi
die sprechenden Gebärden eines Verkünders der Rettung – angelici costumi
die urplötzlich aufstrahlende, aus dem Himmel fallende Schönheit Gottes – celesti bellezze

Und genau so etwas, oder so etwas Ähnliches, muss auch Petrarca und Franz Liszt vorgeschwebt haben. Oder auch etwas ganz anderes. Wer weiß dies?

Ich sah die ungeheuerliche, hereinbrechende Macht der Errettung aus Ausweglosigkeit, Hungertod, Verzweiflung! Das ist Schönheit, das ist das Gute, das ist Liebe, die die Angst und den Schmerz verschlingt, das ist unermessliche Gelöstheit und Heiterkeit.

Tanta dolcezza avea pien l’aere e `l vento!

 Posted by at 21:22

„The healing Sounds dispel his Cares“. David gibt den Ton an

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Jul 272017
 

 

 

 

 

 

Ein erneuter Besuch in der Sommerausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts führte uns gestern bei herbstlichem, trübstem Regenwetter zu diesem Chiaroscuro-Holzschnitt von oder nach Frans Floris. Dargestellt ist eine Szene aus dem 1. Buch Samuel (Kapitel 18): Der strahlende Sieger David spielt vor dem König Saul, den ein böser Geist überfallen hat. In ihm lodern Verdacht, Eifersucht und Neid auf. Voller Ingrimm packt er den Speer und fasst den Beschluss, David an die Wand zu spießen. Nur mühsam gelingt es seinen Angehörigen und Hofbeamten, ihn davon abzuhalten.

Doch Davids Harfenspiel und sein Gesang üben immer wieder eine heilende Wirkung auf den König aus. Die abgrundtiefe Schwermut, der Verfolgungswahn und der Jähzorn Sauls werden durch den Klang der Musik vertrieben. Vertrieben? Nicht ganz, aber doch vorerst „zerstreut“.

In mir stiegen die Nachklänge jener großartigen Aufführung des Oratoriums „Saul“ von George Frideric Handel auf, der ich am 15. Januar 2017 im Kammermusiksaal der Philharmonie lauschen durfte.

Dort sang die Sopranistin Marie Luise Werneburg betörend schön als Sauls jüngere Tochter Michal die folgenden Worte zu dieser im Holzschnitt dargestellten Szene:

Fell Rage and black Despair possesst
With horrid Sway the Monarch’s Breast;
When David with Celestial Fire struck,
Struck the sweet persuasive Lyre:
Soft gliding down his ravish’d Ears,
The healing Sounds dispel his Cares;
Despair and Rage at once are gone,
And Peace and Hope resume the Throne.

So tritt denn das überwältigende Erlebnis jenes Konzerts im Kammermusiksaal durchscheinend hinter die Auffrischung in der Darbietung für die Augen  durch den flämischen Meister. Das ist Musik in den Augen! Das Kupferstichkabinett erweist sich so als der Kammermusiksaal der bildenden Künste; und so wurde es ja auch völlig zu recht schon bei der Eröffnung der diesjährigen Sommerausstellung bezeichnet.

Bezüge:

Die Bibel. 1. Buch Samuel, Kapitel 18

Georg Friedrich Händel: SAUL. HWV 53. Berliner Figuralchor, Cantores minores. Berlin Baroque. Leitung: Gerhard Oppelt. Aufführung am 15. Januar 2017. Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin. Textzitat aus dem Programmheft

Wir geben den Ton an. Bilder der Musik von Mantegna bis Matisse. Eine Sommerausstellung im Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin. 21. Juli – 5. November 2017. Katalog Nr. 38

 

 

 

 

 Posted by at 16:30
Mai 082017
 

Neben den Märchen der Gebrüder Grimm, den Gedichten und Dramen Goethes, den Chorälen und Passionen Bachs und den drei Kritiken Kants zählten die Grafiken und Gemälde Dürers früher zum Kernbestand der kulturellen Leitwerke, die in Deutschland und weltweit in anderen Ländern von Generation zu Generation weitergegeben wurden.  Sie waren lebendiger Teil der europäischen Leitkulturen und folglich auch Teil der wie immer wandelbaren, aber doch weithin bekannten und geschätzten deutschen Leitkultur.

Jeder, der länger als 4 Jahre die Schule besucht hatte, war mit ihnen irgendwie in Berührung gekommen, hatte einige Gedichte Goethes oder Schillers gelernt, einige Märchen der Grimms gehört, einige Grafiken Dürers erklärt bekommen, und, soweit er das Gymnasium besucht hatte, ein paar Sätze aus den Kritiken Kants gelesen.

Wie schaut es heute aus? Außer den Märchen der Gebrüder Grimm kann heute nichts mehr davon zum Allgemeinwissen eines deutschen Schülers gerechnet werden. Es gibt in Kunst und Kultur gar keinen Kanon mehr, an dem man sich abarbeitet, stößt, den man bezweifelt, befragt, abklopft – und endlich wohl auch gar liebt.

Unsere Schüler verlassen heute in Deutschland in aller Regel die Schule, ohne eine lebendige Beziehung zu den Gedichten und Dramen Goethes, den Grafiken Dürers oder zu den Chorälen und Passionen Bachs aufgebaut zu haben. Bezeichnend etwa, dass bei einer Befragung für Plasbergs Fernsehsendung „Hart aber fair“ die älteren Schüler des Berliner Goethe-Gymnasiums mit einigen  der berühmtesten Zeilen Goethes nichts verbinden konnten, ja sie nicht einmal erkannten.

Von einem Stillstand des kulturellen Gedächtnisses spricht zu Recht Ellen Euler heute in der FAZ auf S. 11. Ich würde noch weitergehen: Wir erleben eine echte Entkernung des deutschen, ja des europäischen kulturellen Gedächtnisses. Es gibt schlechterdings keine Leitwerke oder Leitvorbilder mehr, auf deren Kenntnis man sich bei der Mehrheit der in Deutschland Aufwachsenden verlassen kann.

Sowohl die Fibel als auch die Bibel haben in Deutschland ausgedient. Man macht heute alles neu, alles besser, das Alte ist oder war so schlecht. Man dient sich in der pädagogischen Arena den neuen Medien an, statt sie sich weise zunutze zu machen.

Was ich bei den Schülern heute noch in Berlin und anderen deutschen Städten wahrnehme, was ich etwa den in den Schulen verwendeten Lesebüchern entnehme, das  sind kümmerliche Restbestände einer deutschen Leitkultur, aber keine echte Befassung, keine tiefe Auseinandersetzung mehr mit den jahrhundertelang gepflegten, jahrhundertelang gesammelten und errungenen Vorbildern der europäischen Leitkulturen. Und die Schuld daran tragen nicht die Schüler, sondern wir!

Dabei wäre es so wichtig, auf kulturelle Leitbilder zu setzen! „Grimms Märchen waren meine Integration!“, derartiges konnte man immer wieder hören von Menschen, die in Deutschland angekommen sind.

Das gemeinsame Erzählen, das gemeinsame Hören, das gemeinsame Nachspielen und Inszenieren von Grimms Märchen etwa wäre ein richtiger Ansatz zur „Integration durch Kultur“. Man kann sogar sagen: Kitakinder und Grundschüler, die ein paar Monate lang in Grimms Märchen gelebt haben, sie wieder und wieder gehört haben, sie nachgespielt haben, die sind angekommen in der deutschen Sprache, die brauchen keine Integrationslotsen mehr. Die sind hier zuhause. Und viele Dutzende Integrationskonferenzen –  (die der hier Schreibende besucht hat) – wären mit einem Schlag überflüssig, wenn man sich auf einen gewissen Grundbestand an zeitüberdauernden  kulturellen Leitbildern und Leitwerken geeinigt hätte, an die die Kleinen rechtzeitig herangeführt werden sollen.

Ellen Euler schlägt heute vor, die Jüngsten spielerisch an die Leitwerke der Kultur heranzuführen. So können etwa Kinder Grafiken Dürers als Ausmalbildchen bekommen. Und das ist, so meine ich, goldrichtig! Sie sagt: „Je früher man ein solches Angebot machen kann, umso besser, denn dann bleiben die Sachen auch im gelebten Gedächtnis und sind nicht nur unabgerufene Fragmente im Speicher.“

Frühe Heranführung, frühe Befassung, spielerisches Hineinwachsen in die Werke und Bilder der europäischen Leitkulturen, das brauchen die Kinder, davon lebt der kulturelle Zusammenhang, das ist der Kitt der Integration.

 

 

 

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/republica-ellen-euler-sieht-kulturellen-stillstand-in-europa-15004621.html

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