Eine mit uns korrespondierende Kore übersandte uns gestern einige Bilder aus Athen: herrliche, unvergängliche Stadt, immer von neuem sprießen zu Füßen der Akropolis die Ginsterstauden auf! Eine Ahnung von Unsterblichkeit ergreift uns beim Betrachten dieses Ginsters.
Dieser große Atem der Jahrtausende erlaubt uns einen kühnen Sprung, einen Adler-Schwung zu tun. Wohin treibt unseren Adler auf seinem Flug heute der Frühlingswind?
Er treibt uns von Werner Heisenberg zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von Ferraris „Principe“ zu Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“! Wir erinnern uns: Heisenbergs Bemühen, der letzten, der kleinsten Teilchen der Materie habhaft zu werden, trieb ihn in eine Aporie hinein: die kleinsten Teilchen waren als Teilchen nicht durchgängig vorstellbar, ja sie waren als Teilchen unabhängig von ihrem Ladungszustand nicht einmal mehr messbar. Die Materie wurde damals, also in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der Weltgemeinde der Physiker zunehmend „dünner“, oder sogar „leerer“, sie, die Materie wurde im Grunde zu etwas Immateriellem. Die Materie ist – so Heisenbergs Einsicht – im Grunde nur noch als Nicht-Materie zu begreifen.
Hier ergreift Hegel das Wort: … und dieses Begreifen von etwas (zum Beispiel das Begreifen der Materie als Nicht-Materie) ist das Werden des Geistes. Aus diesem In-Eins-Denken des vorderhand einander Ausschließenden erwächst der Begriff des Geistes. So nennt es Hegel.
Sein Begriff des Geistes ist also ein relationaler, ein in Beziehungen sich entfaltender Begriff, so wie Heisenbergs Quantenbegriff ein relationaler, ein in Masse-Ladung-Relationen sich entfaltender Begriff ist. Heisenberg wird nachgerade durch Hegel besser verständlich!
Hegel schreibt beispielsweise unter der ersten Abteilung seiner Philosophie des Geistes in § 389 der Enzyklopädie:
„Die Frage um die Immaterialität der Seele kann nur dann noch ein Interesse haben, wenn die Materie als ein Wahres einerseits und der Geist als ein Ding andererseits vorgestellt wird. Sogar den Physikern ist aber in neueren Zeiten die Materie unter den Händen dünner geworden; sie sind auf imponderable Stoffe als Wärme, Licht usf. gekommen, wozu sie leicht auch Raum und Zeit rechnen könnten. Diese Imponderabilien, welche die der Materie eigentümliche Eigenschaft der Schwere, in gewissem Sinne auch die Fähigkeit, Widerstand zu leisten, verloren, haben jedoch noch sonst ein sinnliches Dasein, ein Außersichsein; der Lebensmaterie aber, die man auch darunter gezählt finden kann, fehlt nicht nur die Schwere, sondern auch jedes andere Dasein, wonach sie sich noch zum Materiellen rechnen ließe.“
Hegels Philosophie lässt sich mit einer unerschöpflichen, lebendigen Akropolis des Denkens vergleichen. Selbst die Erkenntnisse eines Werner Heisenberg, ja selbst noch der erbitterte Einspruch des aus dem schwäbischen Ulm stammenden Albert Einstein gegen Heisenbergs durch und durch relationales Denken der Materie dürfen bezogen werden auf den durch Hegel nachvollzogenen, ja vorvollzogenen Gang der europäischen Philosophie, dürfen eingeschrieben werden in diesen großartigen, in allen Teilen noch heute staunenswerten Versuch, das gesamte damalige und selbst noch das spätere Wissen in ein durch seine allseitige Offenheit beeindruckendes System einzutragen.
Quelle:
G.W.F. Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Hg. von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler. 7. Aufl. 1969, erneut durchgesehen 1975, Felix Meiner, Hamburg 1975, hier S. 319
Bild: Athen, am gestrigen Tage