Unliebsame Details über Lenin, die das Deutsche Historische Museum verschweigt

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Feb 272018
 

Geradezu in einen rauschhaften Personenkult um Lenin hat sich die großartige, noch bis 15. April 2018 laufende Revolutionsausstellung im Deutschen Historischen Museum hineingesteigert. Das DHM vollzieht gewissermaßen die sozialistische Wendung zum Leninkult nach, die schon bald nach Lenins Tod im Jahr 1924 einsetzte. Alle Schülerinnen und Schüler unseres Landes sollten nicht nur ein deutsches KZ, sondern auch diese hervorragende Ausstellung mit den bunten prachtvollen Ölgemälden besuchen!

Im Katalog heißt es zu Brodskis Lenin-Gemälde „Großer Oktober“: „Unliebsame biografische Details wie seine adlige Herkunft oder sein Verhältnis zu der Sozialistin Inessa Armand wurden verschwiegen.“

Konsequent unterschlägt das Deutsche Historische Museum zu Berlin Unter den Linden in der Ausstellung und den Bildlegenden wichtige Ergebnisse der historischen Forschung, die spätestens seit der Öffnung der sowjetischen Archive ab 1990 sowohl in russischer wie in englischer wie auch in deutscher Sprache mit hinreichender Gewissheit vorliegen. Befehle, Anordnungen, Erlasse Lenins zur systematischen Ermordung, Hinrichtung, Exekution von Feinden der Revolution, Klassenfeinden, bourgeoisen Elementen, Prostituierten usw. usw. Alles schon gut belegt aus den Jahren 1917 bis 1924. Wenn es je schon vor Stalin und Jeschow einen Schreibtischtäter in Fleisch und Blut gab, dann Lenin! Die Beweise sind vorhanden.

Das DHM bringt davon in der Ausstellung — nichts — vor Augen.

Dafür sei hier nur ein winziges biografisches Detail angeführt, nämlich die Erschießung von 500 Geiseln durch die Tscheka als Vergeltung für das am 30.08.1918 verübte Attentat auf Lenin.

Die Fakten hierzu sind unstrittig; sie lassen sich so umreißen:

Am 30. August 1918 wurde Lenin bei einem Attentat schwer verletzt. Die Sowjetmacht griff daraufhin verstärkt zum Mittel der exzessiven Vergeltung, zur systematischen Einschüchterung der Bevölkerung – zum Roten Terror.

In einer öffentlichen russischen Quelle aus dem Jahr 2008 finde ich folgende Feststellung: „Der Terror war massiv. Allein als Reaktion auf das Attentat auf Lenin erschoss die Petrograder Tscheka nach offiziellen Feststellungen 500 Geiseln.“

Erschießung von 500 Geiseln durch die sowjetische Geheimpolizei, die berühmte Tscheka! Nun, in den Augen des DHM offensichtlich ein unliebsames Detail, das man gerne verschweigt. Im gesamten Katalog wird dieses unliebsame Detail nicht erwähnt; und viele andere unliebsame Details fehlen ebenso. Das Motto lautet offenbar: Geheiligt werde sein Name – Lenins Name. Das schwere körperliche Leiden Lenins wird pflichtgemäß erwähnt, über das körperliche Leiden und das Sterben der 500 Geiseln wird nichts gesagt. Die Ermordung von 500 Menschen wird vom DHM schweigend übergangen. 500 geplante Morde in wenigen Minuten, ein kleines, ein winziges Detail, das das DHM nicht der Erwähnung wert befindet, das jedoch in Russland selbst heute allgemein bekannt ist. Man hätte es meines Erachtens durchaus als winzige, klitzekleine Fußnote zu Brodskis Heiligenporträt anfügen können. Ich meine: Den Ausstellungsmachern wäre doch kein Strick daraus gedreht worden, wenn sie dieses winzige biografische Detail aus dem Leben von 500 russischen Geiseln erwähnt hätten! Niemand wäre dem DHM bei seinem Leninkult in den Arm gefallen. Mögen sie im DHM doch weiterhin Lenin nach Lust und Laune beweihräuchern. Ein erbarmungsloser Massenmörder war er trotzdem.

Die adlige Herkunft Lenins sowie sein außereheliches Verhältnis mit einer Sozialistin wird hingegen ausdrücklich angemerkt. Damit glaubt sich das DHM wohl vom Personenkult um Lenin abzusetzen. Mutig, mutig!

Ich nenne es kuratierte Vergangenheitsunterschlagung. Ich nenne es Personenkult hoch 3 um Lenin, die Apotheose Lenins, die stillschweigende Apologie des roten Terrors.

Zitatnachweise:

1917. Revolution. Russland und Europa. Katalog. Herausgegeben von Julia Franke, Kristiane Janeke und Arnulf Scriba für das Deutsche Historische Museum. Sandstein Verlag, Dresden 2017, hier: S. 131

A.A. Danilow, L.G. Kosulina, M.Ju. Brandt: Istoria Rossii, 5., überarbeitete und ergänzte Ausgabe, Moskwa 2008, hier: S. 113
Erläuterung: Es handelt sich bei diesem Buch um ein weitverbreitetes, zum Geschichtsunterricht empfohlenes Schulbuch. Übersetzung aus dem Russischen durch den hier Schreibenden.

Bild:
Der Glaube an den Sozialismus, an Hammer und Sichel lebt! Graffito im Rathaus Kreuzberg, Yorckstraße 4-11, Treppenhaus. Aufnahme vom 27. Februar 2018

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„Bald werden wir Deutschland haben.“ Das DHM feiert ein festliches Hochamt für Lenin

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Feb 242018
 

Zwei Mal besuchte ich in den vergangenen Wochen die Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“, welche im Deutschen Historischen Museum zu Berlin noch bis zum 15. April 2018 ihre Tore geöffnet hält. Der Besuch dieser Ausstellung ist wärmstens zu empfehlen, zeigt er doch die ungebrochene Macht der Bilder, mit denen die Bolschewiki ihre Oktoberrevolution in Szene setzten. Durch eine höchst geschickte Auswahl der Objekte, durch subtile Blickführung, durch behutsam angefügte Kommentare, vor allem aber durch eine meisterhafte Bildregie verstehen es die Ausstellungsmacher, im unvoreingenommenen Betrachter Anteilnahme, Sympathie, ja Begeisterung für die Bolschewiki und ihren Menschheitstraum der klassenlosen Gesellschaft zu erzeugen.

Als überragendes Mittel der Bildsteuerung erweist sich die Entscheidung der Ausstellungsmacher, die Bolschewiki stets als Handelnde, als Schaffende, als gute treibende Kraft der Weltgeschichte darzustellen. Die andere Seite dagegen, also die Gegenspieler der Bolschewiki, werden vor allem durch ihre Opfer gezeigt. Diese Gegner der Bolschewiki sind – ausweislich der Bilder – Faschisten, Antisemiten, böse Kapitalistenknechte, üble Gesellen voller Menschenhass.

Wenn man sich ganz den vielen schönen und bunten Bildern der Revolution und der Sowjetunion hingibt und das Vorwissen, das man vielleicht mitbringt, beiseite legt, verlässt man die Ausstellung mit der fast rhetorisch zu nennenden Frage: „Ja, haben die Bolschewiki denn auch nur einer Fliege ein Haar gekrümmt? Ist denn auch nur ein einziger Mensch durch die Oktoberrevolution zu Schaden gekommen? Sollte dies so sein, dann ist hier zumindest nichts davon zu sehen!“

Ich habe gestern noch einmal einen Rundgang durch die Ausstellung gemacht und musste erstaunt feststellen, was mir schon beim ersten Mal aufgefallen war: alle Opfer, alle Leichen, alle Leichenberge, die in dieser Schau auf Fotos oder als Kunstwerk gezeigt werden, sind der Gegenseite, also den Feinden der Bolschewiki zum Opfer gefallen. Erschossen, ermordet oder hingerichtet durch die zarische Polizei, zum Beispiel hingemetzelt während der Demonstration beim Petersburger Blutsonntag (09.01.1905). Es sind die Terroropfer der „Weißen“ oder auch etwa Gustav Noskes, des Bluthundes von der SPD, gezeigt in der Zeichnung Conrad Felixmüllers aus dem Jahr 1919 sowie auch im Gemälde Max Pechsteins „Beerdigung der Revolutionsopfer“ von 1919.

„Irgendwelche Zweifel, Fragen nach den Fakten?“ Nein, die Kommunisten haben niemanden belästigt, niemanden umgebracht, niemanden vertrieben, zumindest nach den Bildern und Objekten der Ausstellung zu urteilen.

Das DHM erweist sich als idealer Spielboden und Theaterbühne für diese weltgeschichtliche Inszenierung; als überragenden Hauptdarsteller setzt das Museum unter den Linden Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt LENIN in Szene. Ihm huldigt sie uneingeschränkt, ihn bejubelt diese Ausstellung kritiklos mit fünf großen Kunstwerken und vielen Fotos, die von den Ausstellungsmachern monumental und theatralisch vorgeführt werden:

– das Lenin-Denkmal Matwej G. Manisers aus dem Jahr 1925, das den Betrachter bereits in der Vorhalle des DHM gefangen nimmt
– das riesige Monumentalgemälde „Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern“ von Isaak Brodski, das Lenin herrscherlich am 19. Juli 1920 bei der Rede zeigt, in der er die berühmten Worte sprach: „Jawohl, die Sowjettruppen stehen in Warschau! Bald werden wir Deutschland haben!“
– das monumentale Porträt Isaak Brodskis „Großer Oktober“, das Lenin als zukünftigen, leicht skeptischen Weltherrscher vor dem Smolny zeigt
– ein Foto: „Eine Arbeiterfamilie richtet ihre neue Wohnung ein“ (Moskau 1927). Ein Porträt LENINS wird an die Stelle gehängt, wo traditionell Ikonen hingen
– Georg Baselitz: Lenin on the Tribune, ein Bild aus dem Jahr 1999, das Lenin überlebensgroß – wenngleich umgekehrt – auf der Tribüne zeigt
– und schließlich die 2007 entstandene riesige Plastik „Hero, Leader, God“ von Alexander S. Kosolapov, wo Lenin zusammen mit Mickey Mouse und einem christlichen Heiligen verherrlicht wird.

Diese beiden Kunstwerke stehen als machtvolle Schlussakkorde am Ende des Rundgangs. Sie entlassen den Betrachter mit dem Gefühl, der Kommunismus sei doch eigentlich eine gute Sache, nur habe es bisher nicht so richtig geklappt.

Bündig und knapp fasst diesen Eindruck als einziger im Video zu Wort kommender deutscher Politiker schließlich in der Vorhalle der gute Dr. Gregor Gysi in Worte. Er äußert die Hoffnung, es möge nach all den militärisch zerstörten Anläufen zum Sozialismus doch irgendwann zu einem gelingenden Versuch kommen, wo der „freie, wirklich demokratische Sozialismus“ endlich verwirklicht werden könnte.

Und somit hätte Lenin mit seiner 1920 geäußerten Zuversicht doch irgendwie recht behalten: „Bald werden wir Deutschland haben“. Nun, ganz Deutschland haben sie, die Bolschewiki nicht bekommen. Aber das Deutsche Historische Museum haben sie, die Kommunisten unter Führung des nahezu unsterblichen, nahezu vergöttlichten Lenin, mit ihren bezaubernden Bildern, hinreißenden Mythen und phantastischen Märchen zweifellos in ihre Hand bekommen.

Das DHM bietet Fake News vom feinsten. Alternative facts, hier im Deutschen Historischen Museum sind sie alle da. Schöne bunte Welt des Kommunismus! Kommt, staunt, freut euch!

Die Ausstellung ist in all ihrer parteiischen Einseitigkeit großartig. Sie ist toll. Sie beweist die überragende Macht der Bilder. Sie verdient wirklich den Besucherstrom, den sie nach meinen Beobachtungen tatsächlich anzieht. Sie hätte den hier Schreibenden fast zum Bolschewiken und zum Verehrer Lenins gemacht.

Aber auch nur fast.

Das Lenin-Zitat vom 19.07.1920 wird hier wiedergegeben nach:
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, Seite 151, dazu das entsprechende Foto auf S. 152-153

Objekte hier zitiert nach den Angaben in:
1917. Revolution. Russland und Europa. Katalog. Herausgegeben von Julia Franke, Kristiane Janeke und Arnulf Scriba für das Deutsche Historische Museum. Sandstein Verlag, Dresden 2017

Bild: auch ein großer Mann der Weltgeschichte: die kolossale Statue von Friedrich Engels in Moskau, ul. Prechistenka, eigene Aufnahme des Verfassers vom 07.01.2018

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Denkmal der Ehre? Denkmal der Schande?

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Nov 232017
 

Versonnene Herbsttage am Landwehrkanal… drüben liegt ein fest vertäutes Schiff vor dem Urbankrankenhaus. Die Sonne gießt ein verklärendes Licht über dem ehemaligen Hafen aus. Langsam schlendere ich an der Promenade im Hans-Böckler-Park entlang. Mein Blick fällt auf eine Skulptur.

Wer mag hier dargestellt sein? Ein Verbrecher, ein Vorbild? Sicher ein Deutscher! Jemand hat den unverkennbaren, weltweit bekannten schwarzen Oberlippenbart angebracht, wirre Schmierereien, darunter Hammer und Sichel, weisen den Dargestellten als Geächteten aus. Der Deutsche trägt das Kainsmal! Ein typischer Ausgestoßener, einer, mit dem man besser nichts zu tun haben will. Ja, dies muss ein Deutscher sein! So sieht ein typischer Deutscher aus! Unverkennbar sind ihm die Züge des Verbrechers aufgetragen. Kreuzberg bleibt sich selbst treu.

Eine Plakette belehrt mich: Ja, es handelt sich in der Tat um einen Deutschen. Aber meine Annahme, dieser Deutsche mit dem typischen schwarzen Oberlippenbart sei ein Nazi und ein Verbrecher, entpuppt sich als fehlgeleitetes Vorurteil. Ich muss gestehen: Man sieht als zufälliger Passant, gestäupt und gepudert durch einige Jahrzehnte deutscher Gedächtniskultur, unwillkürlich in allen Deutschen der Vergangenheit zunächst einmal Nazis oder Verbrecher.

Dargestellt ist jedoch hier Hans Böckler, geb. am 26. Februar 1875, gestorben am 16. Februar 1951 in Köln. Von Beruf Metallarbeiter; ein führendes Mitglied der deutschen Gewerkschaftsbewegung, SPD-Abgeordneter im Deutschen Reichstag. Zu Lebzeiten zweifellos ein Vorbild, heute dem Vergessen und der Verachtung preisgegeben. Oder wissen die Kreuzberger Schüler etwas von Hans Böckler? Nein, sie wissen sicher nichts von ihm, an dessen Büste sie vorbeigehen.

Die Schmierereien auf dieser Büste sind der augenfällige Beweis der Art, wie die deutsche Öffentlichkeit mit Vorbildern umgeht. Es darf keine deutschen Vorbilder geben! So werden unsere Kinder und Jugendlichen heute erzogen!

Hitler und Konsorten rauf und runter, deutsche Verbrechen, deutsche Völkermorde ohne Ende, das wird den Kindern in den Schulen eingebläut, dieses tiefdüstere Bild der deutschen Geschichte prägt die Feuilletonspalten in den meinungsprägenden Zeitungen.

Ich meine hingegen: Hans Böckler ist ein Vorbild, von dem unsere heutige Jugend etwas erfahren sollte, aber in der Tat nichts erfährt.

So wie diese Büste behandelt Berlins Jugend und überhaupt Berlin, so behandelt Deutschland die mutigen Aufrechten, die Ungebeugten der deutschen Vergangenheit. Merke: Nichts Gutes darf aus der deutschen Vergangenheit erinnert werden! Ein Deutscher kann nicht Vorbild sein!

Die Misshandlung der Hans-Böckler-Büste im Hans-Böckler-Park, ihr jetziger Zustand ist ein Denkmal der Schande.

Foto aufgenommen am 20.11.2017

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Nov 072017
 

Bei meinen eigenen Reisen durch Italien, Russland, Großbritannien und Frankreich fällt mir immer wieder auf, wie unterschiedlich diese Länder Deutschland und die deutsche Geschichte im Vergleich zu uns Deutschen selbst wahrnehmen. Meine vielen Gespräche mit Russen, Italienern, Briten und Franzosen, aber auch das Lesen historischer Studien aus diesen Ländern lassen in meinen Augen nur einen Schluss zu:

Nirgendwo in Europa herrscht derzeit ein so negatives Deutschlandbild vor wie in der deutschen akademischen Historikerzunft. Während Italien, Frankreich, England und Russland sich sowohl ganz allgemein in der Gesellschaft wie auch bei den an den Universitäten lehrenden Neuzeithistorikern von einem hypermoralischen, rein negativen Deutschlandbild verabschiedet haben und die früher üblichen Schwarz-Weiß-Darstellungen rein deutscher, teuflischer Bestialität hinter sich gelassen haben, herrscht in der Zunft der deutschen Fachhistoriker ein stärker denn je düster gefärbtes Deutschlandbild vor. Deutsche Verbrechen, deutsche Schuld, deutsches Verhängnis, deutsche Vernichtungsfeldzüge geben nunmehr in den in Deutschland verfassten, meistverbreiteten Darstellungen der europäischen Geschichte den Grundton an. Das gilt heute – so meine ich –  für die meisten deutschen Historiker, die meisten deutschen Germanisten, die meisten deutschen Soziologen. Es gilt ferner auch mehrheitlich für den Deutschen Bundestag und die meisten deutschen Spitzenpolitiker, für die deutsche Klimapolitik, die in all ihrer Irrationalität kaum anders zu erklären ist denn als Ausblühung des hier beschriebenen düsteren schuldbedrückten Selbstverhältnisses.  Es gilt nicht zuletzt für die deutsche Gedächtniskultur allgemein, die sich bekanntlich vor allem als Erinnerung an deutsche Verbrechen sieht.

Jeder Gang durch die Hauptstadt Berlin oder durch eine gut bestückte europäische Bibliothek kann diese Analyse bestätigen. Man muss nur die Augen offen halten.

In lateinischer Sprache lässt sich mein Befund über das Deutschlandbild der meisten heutigen deutschen Historiker, Soziologen, Politologen und Germanisten so zusammenfassen: Germania omnis est indivisa unica origo mali. Deutschland insgesamt ist der Urquell des Bösen. Und wir fügen auf gut Deutsch hinzu:

So ist denn alles, was ihr Sünde, Böses nennt,
der Deutschen eigentlichstes Element.
Drum besser wär’s, es hätte Deutschland nie gegeben.

Aber trifft dieses in Deutschland vorherrschende Bild der deutschen Geschichte die Wirklichkeit? Oder entsteht es aus einer systematischen Verzerrung dessen, was geschehen ist?

Schwere Vorwürfe in genau diesem Sinne werden gegen die Zunft der Historiker im aktuellen SPIEGEL am Beispiel der im Ersten Weltkrieg begangenen deutschen Kriegsverbrechen  erhoben.

Der Kunsthistoriker Prof. Ulrich Keller spricht von der „Unterschlagung von Quellen“ in „verstörend häufigen Fällen“ sowie „systematischer Missachtung grundlegender akademischer Verfahrensregeln„. Gerd Krumeich, einer der anerkannten Spezialisten zur Erforschung des Ersten Weltkrieges, nehme diese Vorwürfe ernst, heißt es.

Denn man muss bedenken: Jeder Zweifel an der alleinigen deutschen Schuld an allen in Belgien begangenen Verbrechen wäre äußerst unbequem gewesen, weil dann eine Isolation „in der internationalen Scientific Community“ (sic!) gedroht hätte.

Spiegel-Autor Dr. Klaus Wiegrefe, seinerseits ein promovierter Zeithistoriker, schreibt: „Das klingt nach einem Schweigekartell unter Historikern„, und er äußert einen bohrenden Verdacht: „Es geht auch um die Glaubwürdigkeit der Branche, die zu lange scheinbare Gewissheiten nicht in Frage stellte.“

Ich hege die Vermutung: Dieses Schweigekartell gibt es wirklich; es herrscht tatsächlich in der deutschen Scientific Community vor, aber eben nur in der deutschen Scientific Community. Nur hier in Deutschland, nicht aber in den anderen europäischen Ländern, nicht einmal in Österreich oder in der Schweiz, gibt es derartig hartnäckig durchgehaltene Forschungs- und Erinnerungstabus, wie sie immer wieder in der öffentlich finanzierten deutschen Historikerbranche durchscheinen – oder buchstäblich handgranatenartig durchschlagen.

Mein Eindruck ist: In der deutschen Zeithistorikerindustrie lesen sie mehrheitlich nicht einmal mehr Herodot oder Thukydides, von Tacitus oder Friedrich Schiller ganz zu schweigen. Sie sind in einem hypermoralischen Sinn voreingenommen. Sie fällen heutigentags in ihrer Mehrheit ein gnadenloses Urteil über ihre Väter und ihre Großväter, ja über die gesamte Geschichte Deutschlands. Sie fallen damit hinter das Methodenbewusstsein eines Herodot, eines Thukydides, eines Friedrich Schiller zurück, die sich stets bemüht haben, bei den großen geschichtlichen Katastrophen beiden Seiten, oder eigentlich den vielen Seiten gerecht zu werden.

Unsere deutschen, allzu deutschen offiziösen Zeithistoriker  drücken ihren Forschungen stets den Stempel der moralischen, ja fast schon onto-theologischen Eindeutigkeit auf. Es fehlt mir bei den deutschen Zeithistorikern, Soziologen, Politologen und Germanisten – von Ausnahmen abgesehen – an den Zwischentönen, ich vermisse bei der Formierten Gesellschaft der deutschen Zeithistoriker, Politologen, Germanisten und deutschen Sozialwissenschaftler jedes Bewusstsein für das Changieren der Akteure zwischen Gut und Böse.  Ich vermisse ein Bewusstsein dafür, dass Gut und Böse nicht die einzigen Kategorien historischer Erkenntnis sein können.

Die anderen Länder, also insbesondere Italien, Frankreich, Russland und Großbritannien sind schon deutlich weiter. Sie haben das Schweigekartell gebrochen. Sie begnügen sich nicht damit, Deutschland stets und immer und vorrangig als Inkarnation des Bösen darzustellen. Dort, in den anderen Ländern, wird wirklich ernsthaft geforscht, sine ira et studio.

Klaus Wiegrefe: Furchtbare Reaktionen. Verschwiegen Historiker alliierte Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg? Eine Studie wirft einen neuen Blick auf die deutschen Massaker in Belgien 1914. DER SPIEGEL 45/2017, 04.11.2017, S. 44-46
Ulrich Keller: Schuldfragen. Belgischer Untergrundkrieg und deutsche Vergeltung im August 1914. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017

Bild:

Alltagsszene in Schöneberg 2017, jetzt und immerdar: „Orte des Schreckens, die wir nie vergessen dürfen“

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24. August 1939 – Beginn der zunächst einvernehmlichen Zerstörung Europas

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Aug 232017
 

Ein Tag der gesamteuropäischen Schande, ein Tag, der die Pforten zur Hölle auf Erden öffnete: so muss man wohl in der Rückschau den 24. August 1939 bezeichnen, den Tag, an dem der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt unterzeichnet wurde. Während sich vor diesem Tag die fünf großen, hochgerüsteten europäischen Militärmächte Italien, Frankreich, Sowjetunion, Großbritannien, Deutsches Reich gegenseitig belauerten und ein wirres Geflecht zahlloser wechselseitiger Beistandserklärungen mit kleineren Mächten vereinbart hatten, schafften die Sowjetunion und das Deutsche Reich jetzt die Weltsensation: ein sehr konkret ausverhandeltes Bündel an militärischen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen, mit denen sie den gesamten Kontinent untereinander aufzuteilen gedachten.

Damit wurden die mörderischen Pflöcke eingerammt, die in den folgenden Jahren unseren Kontinent mit seinen Menschen so unsäglich quälten und zerstörten. Es begann mit der Zerstörung Polens und der baltischen Staaten durch die beiden Hegemonialmächte Deutsches Reich und Sowjetunion.

Der gut dokumentierte Handschlag, das bei der gemeinsamen Parade der sowjetischen Armee und der Wehrmacht in Brest-Litowsk gezeigte lächelnde Einvernehmen der Generäle Mauritz von Wiktorin (eines Österreichers), Heinz Guderian (eines Deutschen)  und Semjon Moissejewitsch Kriwoschein (eines sowjetischen Juden) lässt einem in der Rückschau das Blut in den Adern gefrieren.

Diese dramatischen Tage im August und September 1939 und ihre bis heute ganz unterschiedliche Wertung in Russland, der Ukraine, Polen, Estland, Lettland, Litauen und in den westlichen EU-Staaten prägen bis heute die einander widerstrebenden Gedächtniskulturen der 47 europäischen Staaten, die unseren Kontinent Europa bilden.

Vielleicht ermöglicht es die Besinnung auf diesen deutsch-sowjetischen Pakt, die Gründe für das bis heute völlig zersplitterte Geschichtsbild der jetzt 47 europäischen Länder zu erhellen.

Erschütterndes Archivmaterial in russischer und englischer Sprache in Ton und Bild ist heute mühelos abrufbar. Zwei drastische Videos der an jenem Tag, dem 24. August 1939 besiegelten deutsch-sowjetischen Waffenbrüderschaft möchte ich heute hervorheben.

 

 

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„Im Auftrag der deutschen Besatzer“? Was ist die historische Wahrheit des Vél d’Hiv?

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Jul 172017
 

„Französische Polizisten hatten am 16. und 17. Juli 1942 im Auftrag der deutschen Besatzer 13000 Juden verhaftet, darunter 4000 Kinder. Ein Großteil von ihnen wurde in der Winter-Radsporthalle (Vélodrome d’Hiver) eingepfercht. Anschließend wurden sie von der SS in Sammel- und Konzentrationslager in Frankreich verschleppt, später in Vernichtungslager.“ So schreibt es heute, am 17. Juli 2017, die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf S. 5 (Fettdruck durch dieses Blog). Die Razzia und Deportation vom 16. und 17. Juli seien also nicht im Auftrag des Französischen Staates, nicht im Auftrag der Pariser Polizei, sondern im Auftrag der Deutschen erfolgt.

Ganz anders, ja geradezu im Gegensatz zu dieser Feststellung der bekannten deutschen Zeitung äußerte sich gestern der französische Präsident Macron bei der Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Razzia vom Vél d’Hiv. Kein einziger Deutscher sei an der Organisation der Razzia beteiligt gewesen. Die Verantwortung für die Razzia und Deportation liege beim Französischen Staat und bei Frankreich, nicht bei den deutschen Besatzern. Wir zitieren beispielhaft als Beleg zwei öffentlich zugängliche Quellen:

http://www.francetvinfo.fr/politique/emmanuel-macron/75e-anniversaire-du-vel-d-hiv-le-discours-tres-emouvant-d-emmanuel-macron_2285904.html

«Pas un seul Allemand» ne participa à l’organisation de cette rafle, a ajouté le chef de l’État, qui a dit être «ici pour que se perpétue le fil tendu en 1995 par Jacques Chirac», le premier président de la République à reconnaître la responsabilité de l’État français dans les persécutions antisémites. Le régime de Vichy, organisateur de la rafle, «ce n’était certes pas tous les Français mais c’était le gouvernement et l’administration de la France», souligne Emmanuel Macron.

http://www.lefigaro.fr/actualite-france/2017/07/16/01016-20170716ARTFIG00064-c-est-bien-la-france-qui-organisa-la-rafle-du-vel-d-hiv-declare-emmanuel-macron.php

Wer hat nun recht, die heutige FAZ mit ihrer Behauptung, Frankreich habe im Auftrag der deutschen Besatzer gehandelt, oder der französische Präsident, Frankreich habe damals am 16. und 17. Juli in eigener Verantwortung gehandelt? Wer hat die Deutungsmacht über die Geschichte?

Nun, eine kurze Internet-Recherche ergibt für mich am heutigen Tage folgendes Bild: Der unmittelbare Auftrag für die Razzia und Deportation stammt nachweislich vom Pariser Polizeidirektor Émile Hennequin; nachlesbar und dokumentiert als Rundschreiben Nr. 173-42, unterzeichnet von eben diesem französischen Polizeichef. Der mittelbare Auftrag, die Fachaufsicht für diesen konkreten Auftrag oblag wiederum den zuständigen Stellen des Französischen Staates, also der durch die Französische Nationalversammlung gewählten legitimen Regierung Frankreichs unter Führung des legitim zur Macht gekommenen Staatsoberhauptes Pétain. Hier ist als Fachaufsicht an erster Stelle der damalige französische Kabinettschef Pierre Laval zu nennen, der für seine eigenständig erteilten Weisungen und Befehle zur Verfolgung und Deportation der in Frankreich versteckten europäischen Juden oft, jedoch keineswegs immer die Zustimmung der deutschen Besatzer einholte.

FAZIT: Die deutsche FAZ verfälscht die historische Wahrheit, wenn sie behauptet, die französischen Polizisten hätten am 16. und 17. Juli „im Auftrag der deutschen Besatzer“ gehandelt.

Dem französischen Präsidenten Macron ist hingegen nach allem, was uns heute an Quellen und Forschungen zugänglich ist, zuzustimmen.

https://fr.wikipedia.org/wiki/Rafle_du_V%C3%A9lodrome_d%27Hiver

Bild: Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin, Aufnahme 17. Juli 2017

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„Jüdischer Bolschewismus“?

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Apr 252016
 

Eine schwere gedankliche Last stellten die folgenden drei Bücher dar, die mich in den letzten Tagen erneut beschäftigten:

Sonja Margolina: Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, Berlin 1992
Ulrich Herbeck: Das Feindbild vom „jüdischen Bolschewiken“. Zur Geschichte des russischen Antisemitismus vor und während der Russischen Revolution. Metropol Verlag, Berlin 2009
Johannes Rogalla von Bieberstein: „Jüdischer Bolschewismus“. Mythos und Realität. Mit einem Vorwort von Ernst Nolte. Ares Verlag, Graz 2010

Ihnen, den drei schwerlastenden Büchern, ist ein großes Thema gemeinsam, nämlich der große Anteil, den Juden (also Menschen jüdischer Abstammung) an der weltweiten marxistischen und kommunistischen Bewegung in Europa, vor allem jedoch an der bolschewistischen Bewegung in Russland  hatten, der nachweisbar besonders hohe Anteil, den Juden (also Sowjetbürger jüdischer Volkszugehörigkeit) an den militärischen und geheimpolizeilichen Terrororganisationen der jungen Sowjetunion, also an Tscheka, GPU, NKWD und Roter Armee hatten, sowie vor allem auch das daraus sich erklärende Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus“, das ja später bei den in Polen, den baltischen Gebieten, in Weißrussland und der Ukraine begangenen verheerenden Grausamkeiten und Metzeleien gegen Juden eine so entscheidende Rolle spielte. Wie sind all diese Tatsachen und Umstände, die keiner der drei Autoren bestreitet, zu erklären?

Die Antwort auf diese und verwandte Fragen hat wiederum einen nicht unerheblichen Einfluss auf die staatlich geförderte deutsche Erinnerungskultur, die deutsche Geschichtspolitik, ja sie erstreckt sich bis in die Tabubildungen, bis in strafrechtlich relevante Meinungsäußerungen hinein, sie ist prägend geworden für die offiziöse deutsche Staatsdoktrin von der absoluten Einzigartigkeit und Unvergänglichkeit ewiger deutscher Schuld und unverzeihlicher deutscher Schande.  Hat man diese Fragen vorurteilsfrei, tapfer und unbestechlich durchgearbeitet, dann dringt man bis in die Wurzelgeflechte deutschen Selbsthasses und deutscher Unterwürfigkeit vor.

 

 

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„Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts“. Trotzkis Absage an das Judentum

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Feb 192016
 

„Miteinander verwoben“, so lässt sich treffend das Schicksal der Russen, der Juden und der Deutschen im 20. Jahrhundert bezeichnen. Dafür gibt es Hunderttausende Geschichten, hunderttausende persönliche Erfahrungen, hunderttausende Fäden in diesem unzertrennlichen Gespinst an Fakten, Familiengeschichten, Mythen, Märchen und Wahrheiten.

Nehmen wir Lenin! Lenin war gewissermaßen „Halb-Deutscher“, seine Vorfahren waren mütterlicherseits deutscher Abstammung, er sprach fließend Deutsch. Die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reiches setzte große Hoffnungen auf diesen russischen Berufsrevolutionär, sie beförderte ab April 1917 aktiv den Oktober-Staatsstreich der Bolschewiki, da die demokratische Russische Revolution des Februars 1917 wider Erwarten nicht zur Kapitulation Russlands geführt hatte; die Deutschen schafften Lenin zusammen mit 30 weiteren Genossen in einem „Russentransport“, wie sie es nannten, ab 9. April 1917 von Zürich nach Petrograd und trugen somit proaktiv zum gewaltsamen Putsch der Bolschewiki gegen die legitime Regierung und zur Zerstörung der ersten Demokratie auf russischem Boden bei. Der ersten Republik auf russischem Boden waren also nur wenige Monate Existenz beschieden. Möglicherweise hätte sich die Demokratie in Russland halten können, wenn die deutsche Heeresleitung 1917 nicht alles daran gesetzt hätte, dem alten Russland mit viel Geld und der Hilfe Lenins den vernichtenden Todesstoß zu versetzen – und zwar von innen heraus.

Oder nehmen wir Trotzki, den Mann, der die Rote Armee zu einem scharfen Schwert des Terrors schmiedete und der sich brüstete, erst dann herrsche echter Hunger, wenn er „den Müttern befehlen würde, ihre eigenen Kinder zu verspeisen“! Seine Vorfahren waren sowohl auf Mutterseite wie auf Vaterseite Juden, die Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, der Vater, ebenfalls jüdischer Volkszugehörigkeit, hingegen war säkular eingestellt. Russisch und Jiddisch, also das im Osten Europas gesprochene Judendeutsch, hörte Leo Dawidowitsch Bronstein, der spätere Trotzki, von Kindesbeinen an; in Odessa besuchte er das Gymnasium der evangelischen St.-Pauls-Gemeinde, wo er zunächst einmal Hochdeutsch lernen musste, um dem Unterricht folgen zu können. An dieser deutschen Real-Oberschule legte er als Klassenbester das Abitur ab. Wie Lenin sprach auch Trotzki Deutsch, man kann im Internet heute noch eine in Wien gehaltene Ansprache Trotzkis in deutscher Sprache hören. Denn Deutsch war zunächst einmal die allgemeine Verhandlungssprache der internationalen kommunistischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent.

Oder nehmen wir Theophil Richter, den deutschen Vater des russisch-deutschen Pianisten Swjatoslaw Richter! Er wirkte ab 1916 an eben dieser genannten deutsch-lutherischen St.-Pauls-Gemeinde zu Odessa als Organist; 1941 wurde er wie vor ihm und nach ihm Hunderttausende andere deutsche, jüdische und russische Sowjetbürger und Sowjetbürger anderer nationaler Minderheiten ohne Gerichtsverfahren von der kommunistischen Geheimpolizei durch Erschießen hingerichtet. Swjatoslaw Richter beschloss daraufhin, den Kontakt zu seiner russischen Mutter einzustellen, und er sprach jahrzehntelang nicht mehr mit ihr.

Trotzkis Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, sein Vater war im russischen Reich der Volkszugehörigkeit nach ebenfalls Jude, also, wie alle russischen Juden vor dem Februar 1917, ein Staatsbürger zweiter Klasse. Die Eltern stellten die Unterhaltszahlungen an ihren Sohn ein, als Lew Davidowitsch Bronstein sich nach dem Abitur dem revolutionären Kampf anschloss und in die Illegalität ging.

War er, Trotzki, wie er sich nunmehr nannte, also selbst Jude, oder hatte er sich vom jüdischen Volk losgesagt? War er ein „Abtrünniger“? Er wurde dies tatsächlich einmal gefragt, ob er sich zum Judentum zähle. Seine historisch verbürgte Antwort, wie sie Sonja Margolina in ihrem noch heute erstaunlichen, auf Deutsch erschienenen Buch „Das Ende der Lügen“ wiedergibt: „Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts.“

Lesehinweise und Belege:
Sonja Margolina: „Der nichtjüdische Jude“, in: dieselbe, Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, Berlin 1992, S. 95-102, hier S. 100 (Trotzki-Zitat)
Leo Trepp: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999, S. 16 und S. 378 (zur Frage: Was ist denn ein Jude?)
Jan Brachmann: Schockstarre Ohren für diesen Heiligen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. März 2015 (über Theophil Richter, den deutschen Vater Swjatoslaw Richters)
Harald Haarmann: „Europasprachen“, in: derselbe, Soziologie und Politik der Sprachen Europas. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975, S. 240-248, hier S. 247 (Sprachkenntnisse Lenins)
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. dtv, München 1993, S. 32 (Mitteilung der OHL an Kaiser Wilhelm vom 12.04.1917 über den „Russentransport“)

http://pda.litres.ru/svetlana-aleksievich/vremya-sekond-hend/chitat-onlayn/, darin:
„Hungerzitat“ Trotzkis:
«Москва буквально умирает от голода» (профессор Кузнецов — Троцкому). «Это не голод. Когда Тит брал Иерусалим, еврейские матери ели своих детей. Вот когда я заставлю ваших матерей есть своих детей, тогда вы можете прийти и сказать: “Мы голодаем”» (Троцкий, 1919).

Robert Service: Trotsky. A biography. Pan Macmillan Books, London 2010, Abbildung Nr. 14, digitale Ausgabe Pos. 15528
(handschriftliche Selbstauskunft Trotzkis zu seiner Volkszugehörigkeit als Jude aus dem Jahr 1922 anlässlich des 10. Kongresses der Sowjets)

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„Polen, die in der Wehrmacht kämpften? Das gab es nicht! Niemals!“

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Polen, Unverhoffte Begegnung, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für „Polen, die in der Wehrmacht kämpften? Das gab es nicht! Niemals!“
Dez 072015
 

Aus dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge erreichte mich eine interessante Einladung, die ich hier unverändert wiedergebe:

Sehr geehrte Damen und Herren,

mehr als eine halbe Million Polen kämpften in der Wehrmacht: an allen
Fronten, von Afrika bis zum Nordpol. Ihre Rekrutenzeit dauerte vier Wochen
länger als die der deutschen Rekruten, sie mussten Befehle wie „schnell“
oder „laufen“ erst lernen. Dann wurden sie an die Front geschickt, die
meisten von ihnen wurden an der Ostfront getötet. Wer überlebte und es
zurück nach Hause schaffte, wurde als Volksverräter beschimpft – daher
erzählten sie ihren Familien am liebsten nichts.
Ein schwieriges Thema für Polen – in Deutschland kaum erinnert.

Wir konnten Prof. Ryszard Kaczmarek, Universität Katowice, für einen
Vortrag gewinnen, dessen Buch „Die Polen in der Wehrmacht“ derzeit ins
Deutsche übersetzt wird.
Alojzy Lysko berichtet über die Erfahrungen seiner Familie. Aus dem Film
„Großvater war in der Wehrmacht“ zeigen wir einen Ausschnitt; die
Regisseurin Wioletta Weiß ist anwesend.

Zu unserem Themenabend „Polen in der Wehrmacht“ laden wir Sie herzlich
ein. Mehr Informationen finden Sie hier.

Ort: Landesvertretung Niedersachsen, In den Ministergärten 10, 10117
Berlin
Zeit: Mi., 9. Dezember, 18.00 Uhr

Ihre Anmeldung erbitten wir an erinnerungskultur@volksbund.de, möglichst
bis zum 4.12.15

Eine Kooperation des Volksbundes mit dem Zentrum für Historische Forschung
der Polnischen Akademie der Wissenschaften (CBH PAN) und dem
Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen
Europa, Oldenburg.

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Dez 072015
 

„Und warum erfahren wir das erst jetzt?“ So geht es einem wieder und wieder, wenn man sich näher mit der Geschichte der Jahre 1914-1945 befasst. So mag es manchem ergehen, wenn er erfährt, dass gegen Ende des 2. Weltkrieges immerhin mehr als 1 Million sowjetische Kriegsgefangene bereit standen, um als Freiwilligenarmee unter der Führung des Generals Wlassow gegen Stalin in den Krieg zu ziehen. Was zum Teufel ritt sie denn? Wovor hatten die ehemaligen Rotarmisten Angst?

Früher, unmittelbar nach 1945 schob man zur eigenen Entlastung in beiden deutschen Staaten bisweilen alle Schuld von sich: „Das haben alles nur die Nazis gemacht, nicht wir!“

Und in Russland, Italien, Deutschland kann man umgekehrt seit 1956 bis zum heutigen Tage immer wieder hören: „Это была вина сталинизма. Это была не наша вина! Es war alles die Schuld des Stalinismus, nicht unsere!“ Man könnte diese Haltung gegenüber der eigenen Vergangenheit eine apologetische Erinnerungskultur nennen.

In Deutschland herrscht demgegenüber heute eine eindeutig auto-kategoretische, also selbst-anklagende Geschichtsbetrachtung vor. „Wir Deutschen tragen alleine die Schuld und die Verantwortung für die zweimalige Zerstörung Europas in den Jahren 1914-1945. Und wir Deutschen sind außerdem an dem bislang größten Menschheitsverbrechen schuld!“ Deutschland übernimmt tausendfach, stillschweigend oder ausdrücklich, die Alleinschuld oder doch die Hauptverantwortung für zwei Weltkriege und obendrein noch für die Shoah. Die Formulierung vom „größten Menschheitsverbrechen“, der Shoa (auch Holocaust genannt), ist mittlerweile in dieser Absolutsetzung geradezu offiziös geworden, sie findet sich beispielsweise auch bei H.A. Winkler im letzten Band seiner „Geschichte des Westens“ (München 2015, S. 597).

Von dieser autokategoretischen Haltung Deutschlands profitieren insbesondere Italien und Russland in ihrem vorwiegend apologetischen Geschichtsbild. Können sie doch zur eigenen Ehrenrettung stets darauf verweisen, dass die eigenen Verbrechen der Vergangenheit ausnahmslos früher oder später durch die Deutschen übertroffen oder mindestens verursacht worden seien. Weil die Deutschen überall so schlimm gewütet hätten, habe man auch selbst nicht unschuldig bleiben können.

Während sich also in Deutschland mittlerweile in vielen tonangebenden Medien – bis in den Bundestag hinein – diese selbstanklagende Geschichtsschreibung durchgesetzt hat, fördert die historische Forschung seit 1990 sehr viel mehr Zwischentöne heraus.

Die Stichworte dafür lauten: geteilte Verantwortung, Interdependenzen, Kausalketten, reaktive Eskalationsstufen der Verbrechen, „schwache Diktaturen“, Anomie-Prozesse in den Gesellschaften, „europäischer Bürgerkrieg“.

So hat Timothy Snyder etwa darauf hingewiesen, dass bis zum 01.09.1939 das Deutsche Reich unter nationalsozialistischer Herrschaft „nur“ etwa 20.000 Morde an Zivilisten begangen hatte. Deutschland wurde in den Jahren 1935-1939 überall hofiert. Die Tageszeitungen Amerikas, Frankreichs und Englands verfolgten nachweislich die ersten sechs Jahre der Hitlerregierung mit kritischem Wohlwollen oder auch mit Bewunderung.

Demgegenüber hatten die staatlichen Organe der Sowjetunion, also insbesondere die Rote Armee und die Tscheka/der NKWD, ab 1917 bis zum 01.09.1939 sicherlich mindestens das Hundertfache an Morden an Zivilisten begangen, während in der Buchhaltung der Massenmorde an zweiter Stelle das faschistische Italien folgte. Die Sowjetunion nahm also gemessen an der Zahl der Todesopfer bis 01.09.1939 mit großem Vorsprung den ersten Platz der verbrecherischen Regime in Europa ein, Italien den zweiten Platz. Das Deutsche Reich rangierte damals noch weit abgeschlagen auf dem dritten Platz in der europäischen Champions League der Massenverbrechen!

Die Angst vor einem kommunistischen Putsch beherrschte obendrein die Innenpolitik der westeuropäischen Staaten, hatten sich doch die Bolschewiki nicht durch eine Revolution, sondern alleine durch bewaffnete Kader an die Macht in Russland geputscht. Und das Deutsche Reich unter Hitler galt spätestens ab 1935 als eine Art Bollwerk gegen den drohenden kommunistischen Umsturz in den Staaten Westeuropas.

Man braucht nur beliebige Tageszeitungen westeuropäischer Länder jener Jahre aufzuschlagen, und man wird die Wahrheit dieser Thesen aus damaliger Sicht bestätigt finden.

Im großen und ganzen wird man aber sagen können, dass im Nachhinein die tiefe Überzeugung von der alleinigen Schuld der Deutschen erstens an den beiden Weltkriegen und zweitens an der absolut als das Böse an sich gesetzten Shoah eine doppelte Glaubenswahrheit geworden ist, ohne die die Völker Europas nicht friedlich zusammenleben wollen und können.

 Posted by at 19:35
Okt 312015
 

Eine Riesendebatte hatte, wie mir Bürger der wunderschönen lippischen Stadt erzählten, das reizvolle Blomberg erschüttert: Sollte der Hindenburgplatz umbenannt werden? Hatte Reichspräsident Hindenburg nicht als Steigbügelhalter und Wegbereiter Hitlers gedient?

Nun, ganz so war es nicht. Hindenburg war zwar sicher kein Anhänger der parlamentarischen Demokratie; er versuchte aber auch jahrelang, den berüchtigten „österreichischen Gefreiten“, mit seinen paramilitärischen Horden, von der Regierung fernzuhalten. Hindenburg wollte eine Art autoritäre, zentralistische Staatsführung, eine echte Präsidialverfassung mit Tolerierung durch den Reichstag. Heinrich August Winkler sagt, Hindenburg und seine Umgebung strebten einen „stillen Verfassungswandel“ an. Und das scheint mir eine sehr treffende Formulierung!

Die Blomberger haben sich für die Formulierung entschieden, Hindenburg habe die NS-Machtübernahme „aktiv unterstützt“, und sie haben die Umbenennung nach ausführlicher Debatte durchgesetzt. Der frühere Hindenburgplatz heißt nun „Am Martinsturm“. Dagegen habe ich nichts einzuwenden.

Sie, die Blomberger – oder irgendein Blomberger – sind aber noch ein paar Schritte weitergegangen, denn sie haben das Adjektiv „deutsch“ aus dem Denkmal zur Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 am ehemaligen Hindenburgplatz, dem jetzigen Platz „Am Martinsturm“ weggehämmert. Nur noch mit dem Fingern lässt sich das ehemalige Adjektiv „deutsch“ ertasten. Wo jetzt nichts mehr ist, stand einmal „deutsch“. Eine echte Gedächtnisauslöschung des Deutschen. Id est vere damnatio memoriae nationis germanicae! So machten es schon die Pharaonen und die Cäsaren der Antike! Was ihnen nicht mehr in den Kram passte, wurde vom neuen Herrscher aus den Stelen und Säulen weggehackt.

Und mit dem Weghacken des Deutschen aus der deutschen Geschichte, wie es hier durch die Denkmalshacker in Blomberg oder auch anderswo vorexerziert wird, hätte Hitler postum sein finales Ziel erreicht: die Vernichtung des deutschen Volkes. Denn Hitler war der Meinung: „If one day the German nation is no longer sufficiently strong or sufficiently ready for sacrifice to stake its blood for its existence, then let it perish and be annihilated…“ (Bemerkung vom 27.11.1941). Die antideutsche Ideologie der Jetztzeit („Nie wieder Deutschland, nie wieder Krieg!“) erweist sich einmal mehr als reinrassige Testamentsvollstreckerin Hitlers.

Belege:
H. A. Winkler, Der lange Weg nach Westen. Deutsche Geschichte 1806-1933. Bonn 2002, S. 489
Zweites Zitat (Hitler) hier in Übersetzung wiedergegeben nach: Martin Amis, The Zone of Interest, Verlag Jonathan Cape, London 2014, S. 307

Foto: das Kriegsdenkmal für den Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 im lippischen Blomberg, Aufnahme vom 24.10.2015Damnatio 20151024_092415

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Nuscheln, Murmeln, Schweigen: Das verstummende kulturelle Gedächtnis

 Deutschstunde, Entkernung, Goethe, Griechisches, Leitkulturen, Musik, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für Nuscheln, Murmeln, Schweigen: Das verstummende kulturelle Gedächtnis
Sep 082015
 

Manchmal frage ich mich, wie wohl Goethe seine Gedichte und Dramen vorgetragen hat. Seine „Regeln für Schauspieler“ aus dem Jahr 1803 liefern Hinweise darauf! Das heute so modische, lässig-unterkühlte Murmeln und Nuscheln, z.B. das silbische M, war ihm zuwider, das Verschlucken etwa von unbetonten Vokalen, das sich heute überall in Fernsehen und Vortrag – auch bei geschulten Bühnenschaupielerinnen – ausgebreitet hat, suchte er seinen Darstellern auszutreiben. Goethe schreibt etwa unter § 7 seiner Regeln:

Bei den Wörtern, welche sich auf e m und e n endigen, muß man darauf achten, die letzte Silbe deutlich auszusprechen; denn sonst geht die Sylbe verloren, indem man das e gar nicht mehr hört.

Z.B. folgendem, nicht folgend’m
hörendem, nicht hörend’m

Ganz offenkundig schrieben Goethe und all die anderen Dichter ihre Verse zu lautem, klingendem Vortrag nieder. Das geschriebene Wort diente nur als eine Stütze, die das klar, frei und deutlich erschallende Wort trug und vorgab, wie die gedruckte Stimme in der Musik – in Goethes Worten – als Anleitung „zum richtigen, genauen und reinen Treffen jedes einzelnen Tones“ hilft.

Die heutigen deutschen Kinder lernen die klingende, singende Sprache oder vielmehr Aussprache eines Goethe, eines Paul Gerhardt, eines Thomas Mann oder Friedrich Hölderlin nicht mehr kennen und nicht mehr schätzen, da auch die Erwachsenen sie nicht mehr kennen und schätzen.  Es ist so, als würde man im Instrumentalspiel nicht mehr Bach, Mozart und Brahms in allen Noten spielen, sondern nur noch darüber hinweghuschen, diese oder jene Notengruppe nicht mehr spielen.

Mit der Kenntnis der relativ einheitlichen deutschen Sprache oder mindestens Aussprache der Dichter, Wissenschaftler und Philosophen von Immanuel Kant und J.W. Goethe bis hin zu Albert Einstein, Sigmund Freud und Thomas Mann droht nun seit Jahrzehnten in Deutschland selbst auch die Kenntnis des ehemaligen Kernbeitrages der deutschsprachigen Länder zur Weltkultur verloren zu gehen.

Nun könnte man sagen, es sei doch unerheblich, ob noch irgend jemand in Deutschland die Relativitätstheorie Albert Einsteins, die Buddenbrooks Thomas Manns, das Kapital von Karl Marx, die Traumdeutung Sigmund Freuds, die Gedichte Goethes oder die Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants im deutschen Original zu lesen vermöchte. Schließlich gebe es überall englische Übersetzungen, Deutschland und Europa würden  sowieso irgendwann nur noch Englisch reden – oder mit Blick auf die neuesten demographischen und migratorischen Entwicklungen – Arabisch oder Chinesisch.

So wie heute in Deutschland in aller Öffentlichkeit das klingende, gesprochene, gepflegte Deutsch aus der Zeit eines Immanuel Kant oder eines Goethe nach und nach vergessen und verschüttet wird, so vergaß Europa im ersten Jahrtausend nach und nach die griechische Vortragskunst.

Irgendwann hatte man einfach vergessen, wie die Epen Homers, die Tragödien eines Aischylos, Sophokles oder Euripides geklungen hatten – ein Kernbestand des kulturellen Gedächtnisses wurde weitgehend ausgelöscht, insbesondere natürlich das alte Griechisch, die Sprache Homers, Herodots, Sokrates‘, Platons und Aristoteles‘, die Sprache auch der Urschriften des Christentums. Der lateinische Westen kannte und konnte etwa ab dem 5. Jh. n. Chr. kein Griechisch mehr, selbst die großen abendländischen Theologen konnten das Neue Testament bis ins 15. Jh. hinein meist nicht mehr im griechischen Original lesen, mit all den verheerenden, teils gewalttätigen theologischen Fehldeutungen und Irrtümern, die die Nichtbefassung mit dem griechischen bzw. hebräischen Urtext auslösen sollte.

Die griechischen Originalklänge der europäischen Kulturen gingen damals verloren, das kulturelle Urbild Europas ward im Westen komplett vergessen. Lateinisches Abendland und griechisches, später arabisches, später türkisches Morgenland drifteten auseinander und sind bis heute nicht wieder zusammengewachsen.

Verlust des Originalklanges! Allerdings hat sich in der Musik bereits vor Jahrzehnten eine mächtige Gegenbewegung gesammelt: Heute strebt man bei der Aufführung eines Bach, eines Vivaldi oder eines Palestrina eine klug abwägende Wiederannäherung an den früheren Klang an. Bach soll eben nicht wie Brahms, W.A.Mozart soll nicht wie Richard Wagner klingen. Man bemüht sich mindestens einmal herauszufinden, wie es damals geklungen haben mag, um die Werke besser verstehen und aufführen zu können.

Und so meine ich, dass auch wir uns darum bemühen sollten, die Werke Goethes oder Friedrich Schillers, Lessings oder Immanuel Kants auch heute noch im Originaltext zu verstehen, vorzulesen und so erklingen zu lassen, dass auch die Verfasser von damals uns heute noch zustimmend verstehen könnten.

Ein ähnliches Bild dürfte sich übrigens im Englischen ergeben. Man vergleiche etwa die Art, wie William Butler Yeats sein Gedicht The Lake Isle of Innisfree vorträgt, mit irgendeiner aktuellen Einspielung eines heutigen Schauspielers, wie man sie ohne Mühe auf Youtube finden kann. Auch hier wird man sachlich, unterkühlt und nüchtern feststellen: Der Originalklang war ganz anders, er ist nahezu schon verloren. Komplette Register des Sprachlichen, die noch vor 50 oder 70 Jahren Allgemeinbestand waren, sind fast unwiederbringlich verschüttet – oder abgetönt.

 Posted by at 11:54

… und wenn der „Euro“ stattdessen „Sterco“ hieße? Würde dies etwas ändern?

 Europäische Union, Faschismus, Geld, Italienisches, Krieg und Frieden, Südtirol, Verdummungen, Vergangenheitsunterschlagung  Kommentare deaktiviert für … und wenn der „Euro“ stattdessen „Sterco“ hieße? Würde dies etwas ändern?
Jul 292015
 

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Recht behaglich wars mir immer zumut, wenn ich nach durchwandertem Tag in Südtirol ein paar Verslein aus dem 4. Akt von Goethes Faust II, ein paar kluge Sentenzen aus dem Wirtschaftsblatt Sole24ore nachmurmelte oder auch ein paar der italienisch- oder deutschsprachigen Fernsehsender aufrief.

Auf RAI 3 sah ich da auch zu bester Sendestunde nach 20.15 Uhr am 25. Juli eine lange Gesprächssendung zum Thema GEIZ – AVARIZIA. Der Geizige, so fanden die kundigen Gesprächspartner mit Flavio Insinna heraus, klebt am Geld, für ihn verkörpert das Geld sein ganzes Selbst, er hält am Gelde fest, er sieht nichts außer dem Geld und verliert darüber alles andere, was werthaltig ist oder sein könnte. Der Paperon de‘ paperoni Walt Disneys, der Onkel Dagobert unserer Kindheit, der Geizige Molières, der Scrooge eines Charles Dickens … sie und viele andere haben über dem Geld den Blick auf den anderen Menschen verloren. Das Geld entzweit sie von allen anderen Menschen – und auch von sich selbst, denn ihre Seele leidet über dem ständigen Nachsinnen und Nachdenken Schaden. Das Geld, so fand man auf RAI 3 heraus, trennt die Menschen untereinander, es trennt aber auch den Menschen von sich selbst. Der pfiffige Italiener nennt deshalb spöttisch und in seinem stets wohllautenden Idiom das Geld von alters her auch „lo sterco del Diavolo“.

„Lasciatemi divertire! Ich will Spaß!“ So hieß die Sendung von RAI TRE. Freunde, amici miei, wir wollen uns mal einen Spaß machen! Zurück zur Nominalismus-Debatte, zu der uns vorgestern Nikolaus von Cusa, der Brixner Bischof einlud!

Die ehrfürchtige Scheu, mit der Europa im Euro seine tiefste Bestimmung, seine unio mystica europea zu finden glaubt – ist sie ein bloßer Flatus vocis, eine Narretei, die letztlich mit dem Namen „Euro“ steht und fällt? Könnte man den Euro nicht auch – angelehnt ans deutsche Wort „Stärke“ – auch einfach „Sterco“ nennen? Würde sich dadurch etwas ändern?

Es wäre passend, gilt der Euro in Italien doch seit längerem weithin als „moneta tedesca“, als starke deutsche Währung, mit der die Deutschen wieder einmal versuchen, ihre Herrschaft über den ganzen Kontinent auszudehnen. So schreibt es erneut Aldo Cazzullo im angesehenen Corriere della sera am 24.07.2015 ganz explizit: „Oggi l’Europa non è l’Europa; è un impero tedesco. Come Roma antica, Berlino ha creato una rete di Paesi satelliti“. Das ist zu Deutsch: „Heute ist Europa nicht Europa; es ist ein deutsches Reich. Wie das antike Rom hat Berlin ein Netz von Satellitenstaaten geschaffen.“ Als Waffe zur Errichtung des deutschen Reiches der Jetztzeit gilt für Cazzullo, aber auch in weiten Teilen der italienischen und der griechischen Öffentlichkeit – der Euro.

So spaßig oder lachhaft das auch klingen mag, es steht immer wieder so in den Gazzetten und Corrieri Italiens und Griechenlands. Gestrickt wird in Italien (und auch in Griechenland) bereits jetzt fleißig am Mythos der „moneta non voluta“, der „nicht gewollten Währung“, so als wäre Italien seinerzeit gezwungen worden, dem Euro mit seinem vertraglich sehr eindeutigen Regelwerk beizutreten.

Es erinnert auf lustige Weise an den Mythos von der „Guerra non voluta“, dem „nicht gewollten Krieg“, so als wäre Italien damals durch das deutsche Reich gezwungen worden, durch die italienische Kriegserklärung an Frankreich und Großbritannien vom 10.06.1940, durch den italienischen Überfall auf Griechenland vom 28.10.1940 in den 2. Weltkrieg einzutreten! War das so? Wurde Italien durch das Deutsche Reich gedrängt oder gezwungen, in den 2. Weltkrieg einzutreten? Nein. Dem ist entschieden zu widersprechen.

Der teilweise heute immer noch verkündete italienische Mythos von der „guerra non voluta“ hält einer historischen Überprüfung schlechterdings keine Minute lang stand. Italien hat schließlich den Krieg gegen Frankreich, gegen Großbritannien und gegen Griechenland aus eigenem freien Entschluss selbständig begonnen und zunächst auch selbständig geführt und sich auf eigenen Wunsch bereitwillig mit 400.000 Soldaten auch dem deutsch angeführten Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, dem berüchtigten Unternehmen „Barbarossa“ angeschlossen.

Aber wozu sich aufregen? Wir erfahren es handgreiflich: Der absolutgesetzte Euro, vielmehr der absolute Glaube an den Euro entfaltet Tag um Tag seine diabolische Kraft. Das Geld, der Glaube an die Macht des Geldes spaltet europäische Staaten, spaltet europäische Völker, spaltet europäische Menschen entzwei. Das mutwillig begonnene scholastische Gedankenexperiment, den Euro einen Augenblick lang „Sterco“ zu nennen, wühlt leider die gesamten Lasten der Vergangenheit auf unschöne, betrübliche Weise wieder auf. Lo sterco del passato, der ganze Dreck der Vergangenheit kommt wieder hoch. Und das ist alles andere als lustig.

Und beim Krämer am Hafen schallte mir auch bei meinem jüngsten Italienaufenthalt des öfteren ein militärisches „Jawoll!“ entgegen, sobald man mich als Deutschen erkannt hatte. Tja, amici europei, non mi diverto. Das find ich nicht so lustig.

Zitatnachweis:
Aldo Cazzullo: La questione tedesca. Nessun paragone con il passato. Ma non aveva torto l’ambasciatore francese che disse a Ciano: „I tedeschi sono padroni duri. Ve ne accorgerete anche voi“. In: Corriere della sera, 24.07.2015, Beiheft SETTE, Seite 14

Bild:
Eine Abbildung einer Abbildung einer Abbildung des Kaisers auf einer Münze des Kaisers Konstantin (Münze datiert wohl auf 337-350 n. Chr.). Gefunden bei Tiefbauarbeiten auf dem Gebiet des späteren Prichsna, des heutigen Brixen. Fotografiert gestern auf dem archäologischen Lehrpfad in Brixen.

 Posted by at 12:11