Feb 192016
 

„Miteinander verwoben“, so lässt sich treffend das Schicksal der Russen, der Juden und der Deutschen im 20. Jahrhundert bezeichnen. Dafür gibt es Hunderttausende Geschichten, hunderttausende persönliche Erfahrungen, hunderttausende Fäden in diesem unzertrennlichen Gespinst an Fakten, Familiengeschichten, Mythen, Märchen und Wahrheiten.

Nehmen wir Lenin! Lenin war gewissermaßen „Halb-Deutscher“, seine Vorfahren waren mütterlicherseits deutscher Abstammung, er sprach fließend Deutsch. Die Oberste Heeresleitung des Deutschen Reiches setzte große Hoffnungen auf diesen russischen Berufsrevolutionär, sie beförderte ab April 1917 aktiv den Oktober-Staatsstreich der Bolschewiki, da die demokratische Russische Revolution des Februars 1917 wider Erwarten nicht zur Kapitulation Russlands geführt hatte; die Deutschen schafften Lenin zusammen mit 30 weiteren Genossen in einem „Russentransport“, wie sie es nannten, ab 9. April 1917 von Zürich nach Petrograd und trugen somit proaktiv zum gewaltsamen Putsch der Bolschewiki gegen die legitime Regierung und zur Zerstörung der ersten Demokratie auf russischem Boden bei. Der ersten Republik auf russischem Boden waren also nur wenige Monate Existenz beschieden. Möglicherweise hätte sich die Demokratie in Russland halten können, wenn die deutsche Heeresleitung 1917 nicht alles daran gesetzt hätte, dem alten Russland mit viel Geld und der Hilfe Lenins den vernichtenden Todesstoß zu versetzen – und zwar von innen heraus.

Oder nehmen wir Trotzki, den Mann, der die Rote Armee zu einem scharfen Schwert des Terrors schmiedete und der sich brüstete, erst dann herrsche echter Hunger, wenn er „den Müttern befehlen würde, ihre eigenen Kinder zu verspeisen“! Seine Vorfahren waren sowohl auf Mutterseite wie auf Vaterseite Juden, die Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, der Vater, ebenfalls jüdischer Volkszugehörigkeit, hingegen war säkular eingestellt. Russisch und Jiddisch, also das im Osten Europas gesprochene Judendeutsch, hörte Leo Dawidowitsch Bronstein, der spätere Trotzki, von Kindesbeinen an; in Odessa besuchte er das Gymnasium der evangelischen St.-Pauls-Gemeinde, wo er zunächst einmal Hochdeutsch lernen musste, um dem Unterricht folgen zu können. An dieser deutschen Real-Oberschule legte er als Klassenbester das Abitur ab. Wie Lenin sprach auch Trotzki Deutsch, man kann im Internet heute noch eine in Wien gehaltene Ansprache Trotzkis in deutscher Sprache hören. Denn Deutsch war zunächst einmal die allgemeine Verhandlungssprache der internationalen kommunistischen Bewegung auf dem europäischen Kontinent.

Oder nehmen wir Theophil Richter, den deutschen Vater des russisch-deutschen Pianisten Swjatoslaw Richter! Er wirkte ab 1916 an eben dieser genannten deutsch-lutherischen St.-Pauls-Gemeinde zu Odessa als Organist; 1941 wurde er wie vor ihm und nach ihm Hunderttausende andere deutsche, jüdische und russische Sowjetbürger und Sowjetbürger anderer nationaler Minderheiten ohne Gerichtsverfahren von der kommunistischen Geheimpolizei durch Erschießen hingerichtet. Swjatoslaw Richter beschloss daraufhin, den Kontakt zu seiner russischen Mutter einzustellen, und er sprach jahrzehntelang nicht mehr mit ihr.

Trotzkis Mutter war gläubige, praktizierende Jüdin, sein Vater war im russischen Reich der Volkszugehörigkeit nach ebenfalls Jude, also, wie alle russischen Juden vor dem Februar 1917, ein Staatsbürger zweiter Klasse. Die Eltern stellten die Unterhaltszahlungen an ihren Sohn ein, als Lew Davidowitsch Bronstein sich nach dem Abitur dem revolutionären Kampf anschloss und in die Illegalität ging.

War er, Trotzki, wie er sich nunmehr nannte, also selbst Jude, oder hatte er sich vom jüdischen Volk losgesagt? War er ein „Abtrünniger“? Er wurde dies tatsächlich einmal gefragt, ob er sich zum Judentum zähle. Seine historisch verbürgte Antwort, wie sie Sonja Margolina in ihrem noch heute erstaunlichen, auf Deutsch erschienenen Buch „Das Ende der Lügen“ wiedergibt: „Ich bin Sozial-Demokrat und sonst nichts.“

Lesehinweise und Belege:
Sonja Margolina: „Der nichtjüdische Jude“, in: dieselbe, Das Ende der Lügen. Rußland und die Juden im 20. Jahrhundert. Siedler Verlag, Berlin 1992, S. 95-102, hier S. 100 (Trotzki-Zitat)
Leo Trepp: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 1999, S. 16 und S. 378 (zur Frage: Was ist denn ein Jude?)
Jan Brachmann: Schockstarre Ohren für diesen Heiligen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. März 2015 (über Theophil Richter, den deutschen Vater Swjatoslaw Richters)
Harald Haarmann: „Europasprachen“, in: derselbe, Soziologie und Politik der Sprachen Europas. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1975, S. 240-248, hier S. 247 (Sprachkenntnisse Lenins)
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. dtv, München 1993, S. 32 (Mitteilung der OHL an Kaiser Wilhelm vom 12.04.1917 über den „Russentransport“)

http://pda.litres.ru/svetlana-aleksievich/vremya-sekond-hend/chitat-onlayn/, darin:
„Hungerzitat“ Trotzkis:
«Москва буквально умирает от голода» (профессор Кузнецов — Троцкому). «Это не голод. Когда Тит брал Иерусалим, еврейские матери ели своих детей. Вот когда я заставлю ваших матерей есть своих детей, тогда вы можете прийти и сказать: “Мы голодаем”» (Троцкий, 1919).

Robert Service: Trotsky. A biography. Pan Macmillan Books, London 2010, Abbildung Nr. 14, digitale Ausgabe Pos. 15528
(handschriftliche Selbstauskunft Trotzkis zu seiner Volkszugehörigkeit als Jude aus dem Jahr 1922 anlässlich des 10. Kongresses der Sowjets)

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