Freude, Freiheit, Singen – „Einsingen um 9“

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Dez 302022
 

Einsingen um 9 – tägliches Einsingen um 9 Uhr via Live-Stream (einsingen-um-9.ch)

Schöne bestrahlte Bergwelt Mittenwald

Bereits seit vier Tagen besuche ich jeden Tag das aus der Schweiz in unseren humorärmeren Norden eingestrahlte „Einsingen um 9“, eine gewitzte Initiative einiger professioneller Sänger und Gesangspädagogen, die aus der Not der Corona-Krise eine Tugend des digitalen Zeitalters geschmiedet haben. Jeden Tag reichen sie uns eine neue Folge an Übungen, Liedern, Einsichten zum Einsingen, Mitsingen und Weitersingen dar.

Soweit mir ein Urteil zusteht, meine ich: Besser kann man die Grundlagen technisch sauberen und musikalisch ansprechenden Singens über digitale Medien nicht vermitteln. Natürlich wird damit die persönliche Arbeit mit Gesangspädagogen nicht überflüssig gemacht; diese wird unersetzlich bleiben für alle, die in größerem Rahmen solistisch auftreten wollen.

Aber die Grundlagen des professionellen Gesangsstudiums lassen sich sehr wohl mit dieser Methode mindestens erahnen, erkennen, einüben und festigen.

Jedes Einsingen folgt einem bestimmten Bild, einer vorgebahnten Strecke, einem Thema, flicht in diesen Rahmen kleine Weglein und Umweglein ein: körperliche Vorbereitung, stimmliches Aufwärmen, mentale Durchdringung, Bilder, Rätsel, Reime, Lieder – ein bunter Strauß an Einfällen, der aber stets verlässlich (soweit ich das beurteilen kann) absolut solide Grundlagen für das Singen, das Auftreten, die Darbietung sowohl des klassischen Gesangs wie auch des Popgesangs bietet.

Klasse gemacht! Ragazzi, siete bravissimi!

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Und meine Stimme spannte weit ihre Flügel aus

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Aug 292017
 

Von der Notwendigkeit des behutsamen Einsingens. Seit einigen Wochen versuche ich, eine geeignete Einstimmung für das tägliche Singen zu finden. Wie schnell zeigt sich die Stimme verschnupft, wie leicht ermattet sie, wenn sie zu schnell in die Höhe getrieben oder in die Tiefe gestoßen wird, wie leicht fängt man sich ein leichtes Brennen, eine kleine Verkrampfung ein, wenn man zu früh, zu hastig, zu steif lossingt!

Die verschiedenen Chorleiter, unter denen ich im Lauf der letzten Jahre singen durfte, haben mich jedoch nach und nach von derartigen Gewaltsamkeiten auf den richtigen Weg geführt.

Das Wichtigste scheint mir das allmähliche Herantasten, das Auflockern, das Vorwärmen des Körpers und der Stimme zu sein. Der ganze Leib soll sich allmählich aus seiner starren Alltagstauglichkeit lösen und sich zentrieren und hinfließen auf das Geschehen in der Stimme. Die Stimme stimmt buchstäblich den Körper ein, der Körper stimmt die Stimme ein!  Ausdrücke des Staunens, der Freude, der Erwartung durchziehen den Körper und den Geist. Sie finden eine lautliche Gestalt im Ausruf, im Seufzen, im Lächeln, im Gähnen, im Lachen. Einzelne Silben werden geformt mit wulstigen Lippen, der Bauchraum lockert sich, die Atmung wandert hinein in den Leib. Man kann sich vorstellen, die Luft flösse durch die Kehle in alle Blutgefäße des Körpers hinein. Nach und nach wird dieses Gefühl zum Klang. Der Klang ergreift Besitz vom Körper, der Körper formt sich seinen Klang.

Schließlich wird die Stimme nicht mehr „hochgetrieben“ und nicht „in den Keller verbannt“. Nein, sie beginnt umherzuspazieren, sie schaut sich um, sie möchte buchstäblich hoch hinaus, sie steigt in die Tiefen hinab, schaut sich um. Sie geht auf Entdeckungsreise!

Aus einem solcherart eingestimmten  Leib-Stimme-Verbund entsteht zwanglos das gezielte, methodisch geschulte Üben des Gesanges – ein Einüben und Hinführen der Stimme auf ein Geschehen, das schließlich das rein Physikalische überschreitet und den Sänger zum Hörer macht, wie umgekehrt auch der Hörer zum Sänger wird.

Und dann spannt die Seele im Gesang ihre Flügel aus!

Als Empfehlung verweise ich gern auf folgendes Heft, das mich seit einigen Sommerwochen kundig und treu begleitet:

Matthias Drievko: Die Seele in Klang verwandeln. Anregungen, Hilfestellungen und Übungen für die technischen Erfordernisse des Singens. Systematisches Trainingsprogramm für Sänger, Gesangslehrer und -schüler zum praktischen Gebrauch. Doblinger Musikverlag, Wien 2012, hier insbesondere Abschnitt II: Konzentrierte Vorbereitung: Atemtraining, Körperbewusstsein, Haltung, Lösen diverser Verspannungen etc., S. 14-17

Der krönende Abschluss einer derart vorbereiteten Übungsstunde kann folgendes Lied sein:

Robert Schumann: Mondnacht. Joseph von Eichendorff. Zart, heimlich. In: Das Lied im Unterricht. 61 Lieder für hohe Singstimme mit Klavierbegleitung.  Herausgegeben von Paul Lohmann. Verlag Schott, Mainz o.J., S. 63-65

 

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Schroff. Schreiend. Kahl: Golgatha.

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Apr 082017
 
Zerrissenes Holz reckt sich empor in einen blauen, tiefen, antwortlosen Himmel, schrundige Auskehlungen zerfurchen den Baum auf dem Dorfanger von Lübars, gesehen am vergangenen Samstag bei einer Radtour durch das Tegeler Fließ. Soviel Schmerz, soviel Leiden!
Geduldiges Einhören, gemeinschaftliches Einsingen im Kirchenchor, Nachlesen in den alten Darstellungen und Anweisungen der geistlichen Musik früherer Jahrhunderte! Der gregorianische Passionston in der Johannespassion des Thomas Mancinus, die wir derzeit einstudieren, verlangt einen freien Vortrag, eine Verlebendigung im Gesang. Die rhombische Notenform – punctum inclinatum – dient nur als Stütze des in Freiheit erklingenden Wortes; Mancinus hebt sehr bewusst durch Klauseln und Floskeln die sinntragenden Worte hervor; die kraftvolle, sehr gesangliche Übersetzung Martin Luthers – sie bleibt ein poetisches Meisterwerk deutscher Sprache – übernimmt er dabei Silbe für Silbe, Elision für Elision unverändert.
Clamore et cum asperitate, so sollen die leidenschaftlichen Aufwallungen der Turba-Chöre gehalten sein. Mit Geschrei, schroff, unverbunden! Das sind die Anweisungen, die sich aus den damaligen Traktaten erschließen lassen.
Mancinus war übrigens Leiter der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel; sein unmittelbarer Nachfolger in diesem Amt war Michael Prätorius, dessen Syntagma Musicum 1619 erschien, also ein Jahr vor dem Erstdruck der Passionsmusik des Thomas Mancinus.  Welch glückliche Koinzidenz! Wir können aus den Traktaten, Abhandlungen und Lehrbüchern der Jahrhundertwende durchaus ein Stilideal abnehmen, wir können mit Sicherheit sagen, dass die menschliche Stimme, nicht das dingliche Instrument damals noch das Vorbild jeder Musikausübung war; es unterliegt keinem Zweifel, dass die Musik, zumal die geistliche Musik damals als affektgeladene Klangrede, als Verkündigung aufgefasst wurde, nicht als Sinnesbetörung, nicht als autonomes, in Schönheit strahlendes Klangspiel.
Der Gottesdienst in der Sterbestunde Jesu beginnt in St. Norbert am Karfreitag, 14. April 2017, um 15 Uhr. Dort werden wir die Johannespassion des Mancinus zu Gehör bringen. Alle, die hören wollen, sind eingeladen. Die Tür ist offen.
Kirche St. Norbert, Dominicusstr. 17, 10823 Berlin-Schöneberg 
Bibliographischer Hinweis:
Die Johannespassion des Thomas Mancinus ist Teil des Werkes Musica Divina Signatur S 368.4° Helmst., das bereits in digitalisierter Form vorliegt. Man findet im Internetauftritt der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel den diplomatisch genauen Scan  ab Seite 277 unter folgendem Link: 
http://diglib.hab.de/wdb.php?pointer=176&dir=drucke%2Fs-368-4f-helmst
Eine moderne Aufbereitung, in welcher der ursprüngliche Wortlaut des Komponisten Mancinus durch den Text der früheren, im Jahr 1987 verwendeten Einheitsübersetzung ausgetauscht worden,  ist im Carus Verlag erschienen. Das Vorwort des Herausgebers verdient besondere Beachtung!
Thomas Mancinus: Johannespassion für Einzelstimmen und gemischten Chor SATB. Herausgegeben von Willli Schulze. Partitur. Carus Verlag 40.088, Stuttgart 1987
Einen guten, reich mit Quellen (darunter Prätorius) ausgestatteten Einstieg in die Musizierpraxis des 15. bis 17. Jahrhunderts bot mir folgendes Werk:
Ulrike Engelke: Musik und Sprache. Interpretation der Frühen Musik nach überlieferten Regeln. Agenda Verlag, Münster 2012
 Posted by at 22:47