„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“
So schrieb es Pjotr Jakovlevich Tschaadajev, verdienter Offizier im Vaterländischen Krieg. Als leidenschaftlicher russischer Patriot und spitzzüngiger Polemiker ging er in seinem berühmten ersten philosophischen Brief, erschienen 1836 in der Moskauer Zeitschrift Teleskop, sehr hart ins Gericht mit seinem Vaterland, für das er Leib und Leben riskiert hatte. Er vermisste in der nachnapoleonischen russischen Gesellschaft seiner Zeit den Willen zur Modernisierung; Russland, so führte er aus, habe den Freiheitsimpuls, zu dem es durch die Niederringung Napoleons und durch die Abschüttelung des französischen Jochs einen bedeutenden Beitrag geleistet hatte, nicht genutzt.
Wir erinnern uns: 3 Millionen Menschen in Europa hatten in den von Napoleon entfesselten Kriegen ihr Leben verloren; wozu waren sie gestorben, wenn die europäischen Völker, darunter auch die Russen, Polen und Deutschen, doch wieder in die Fürstenherrschaft und Despotie zurückfielen? Wozu der ganze „Freiheitskampf“, wenn die Fürsten Europas nach Willkürart doch wieder schalteten und walteten, wie sie wollten? So fragten Tschaadajew und seine „Westler“, aber auch die geistesverwandten „Göttinger Sieben“, darunter die Brüder Grimm, oder auch Heinrich Heine in Deutschland.
Napoleon hatte Europa mit Waffengewalt und willkürlich losgetretenen Angriffskriegen zu einen gesucht und war 1812 in Russland endgültig niedergerungen worden; gut 100 Jahre später, ab Oktober 1917 folgten ihm in den Fußtapfen Lenin und die Bolschewiki, die ebenfalls mit Waffengewalt ganz Europa und dann die ganze Welt ins ewige Reich der Freiheit führen wollten; ihr sogenannter Befreiungskampf brachte ab 1917 erneut Blut, erneut millionenfaches Gemetzel und Tränen über Russland und die eine, die östliche Hälfte Europas einschließlich Russlands, der Ukraine, Polens, Ungarns, Estlands, Lettlands und Litauens; die Unfreiheit, die Lenin, Feliks Dzierżyński, Stalin, Lawrenti Berija und viele andere mehr von Russland aus über den ganzen Kontinent ab 1917 auszubreiten suchten, dieses von Russland ausgehende kommunistisch-sowjetische Joch wurde erst 1989/1990 endgültig abgeschüttelt.
Ab 1933 versuchte erneut eine diktatorische Gewalt, den ganzen Kontinent – diesmal von Deutschland aus – mit Waffengewalt ins 1000-jährige Reich der Freiheit zu führen. Auch dieser nach Napoleon und Lenin/Stalin dritte, auf Lüge und Gewalt gestützte Versuch der gewaltsamen Einigung Europas durch das Schwert versank in Terror, Blut und Gemetzel. Nach zwölf Jahren, 1945 war das deutsche Joch von den Völkern Europas abgeschüttelt.
Die kommunistische Gewaltherrschaft, die Lenin und Stalin ab 1917 über einen Teil Europas errichtet hatten, ging hingegen erst 1989/1990 zu Ende. Doch das Werk der Befreiung ist damit nicht vollendet! In allen vom Kommunismus befreiten Staaten, darunter Russland, Ukraine, Weißrussland, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Polen, Tschechien galt und gilt es, die Trümmer und Hinterlassenschaften der jahrzehntelangen, von Russland ausgehenden, als „russisch“ empfundenen kommunistischen Diktatur, die auf Lüge und Gewalt gestützt war, aufzuarbeiten. Kein Staat – selbst das seit 1989 von Marx, Lenin, Dzierżyński, Stalin befreite Russland – ist gefeit dagegen, wieder in Unfreiheit und Terror zurückzufallen.
Tschaadajew wurde 1836 für seine literarischen Beiträge, für seine satirisch-polemische Beleidigung des „heiligen“ Russentums für verrückt erklärt und unter psychiatrische Beobachtung gestellt. Über Tschaadajews Diskussionspartner, die Dekabristen, ließ Zar Nikolaus Hinrichtungen, Verbannung und Internierung verhängen. Sie kamen nicht so gnädig davon. Straflager, Verbannung, Publikationsverbote, Einweisung in die Psychiatrie, das sind alles Methoden, die in Russland auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblicken.
Was hat uns Tschaadajew zu sagen? Hat er uns überhaupt noch etwas zu sagen?
„Мы жили и сейчас еще живем для того, чтобы преподать какой-то великий урок отдаленным потомкам.“
„Infine siamo vissuti e viviamo per servire da chissà quale grande lezione per i posteri lontani.“
„Wir haben gelebt und leben noch dafür, um den fernen Nachkommen irgendeine großartige Lehre zu erteilen.“
Was ist die „großartige Lehre“ der Russen des 19. Jahrhunderts?
Ich würde sagen: Es ist die Einsicht, dass der Freiheitsimpuls überall zu verteidigen und zu verstetigen ist. Napoleon wurde nicht deswegen abgeschüttelt, damit Zar Nikolaus oder die europäischen Fürsten der Karlsbader Beschlüsse ein mindestens ebenso gewalttätiges Regime installieren konnten. Die europäischen Freiheitskämpfer der nachnapoleonischen Zeit, die oftmals Verse von Friedrich Schiller oder Puschkin, dem Jugendfreund Tschaadajews, auf den Lippen geführt hatten, sahen sich bitter enttäuscht durch die Oligarchen und Autokraten, die steinreichen Fürsten, Zaren, Präsidenten und Speichellecker der damaligen Zeit.
Tschaadajew verlangte – statt serviler Speichelleckerei und Prostration vor dem Zaren – Reformen und Modernisierung von Russland. Er wollte Russland für die Freiheitsideen des Westens öffnen. Ihm behagte das Dunkelmännertum, das bequeme Bündnis zwischen russischer Kirche und russischer Staatsmacht, zwischen Thron und Altar, symbolisiert im Schutzherrn und Oberhaupt aller Reußen, dem Zaren, nicht.
Tschaadajew musste erkennen: Die Unfreiheit, die mit Unterdrückung, Waffengewalt und Terror arbeitet, hört nicht dadurch auf, dass die eine Gewaltherrschaft einfach durch eine andere ersetzt wird.
Insofern – wir sind gemeint! Wir sind auch einige der Nachkommen, für die die Westler im Russland des 19. Jahrhunderts kämpften, litten und starben.
Bild: „Der Pole Feliks Dzierżyński, der Georgier Stalin, der Russe Lenin sind nicht mehr da!“ Ihre Denkmäler sind aus dem Stadtbild Moskaus verschwunden. Aber Friedrich Engels, der deutsche Kapitalist, hat seinen festen Platz in Moskau behalten und schaut sich seelenruhig die ihm gegenüberliegende Christus-Erlöser-Kirche an. Aufnahme des reisenden Bloggers vom 10.08.2014