Iam satis terris nivis misit pater … Gespräch mit dem Cherusker (2)

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Feb 012021
 

Vor wenigen Tagen hatte ich während eines Spazierganges in der Cheruskerstraße doch tatsächlich einen Cherusker kennengelernt, wie sich nach und nach herausstellte. Wie das? Nun, da er mich lateinisch mit den Worten „Quid agis?“ angesprochen hatte, erwiderte ich ihm in derselben Sprache.

Doch merkten wir beide bald, dass wir das Lateinische nicht ganz frei von Akzentbeifärbungen sprachen. Bis gestern waren wir immer noch nicht im Bilde, woher wir stammten und was unsere Muttersprachen wären. So probierten wir es mit verschiedenen Varianten europäischer Sprachen, indem wir Sprichwörter und Zitate aus der gemeineuropäischen Literatur wie Tischtennisbälle hin und her flippen ließen.

„Iam satis terris nivis atque dirae…“ begrüßte ich ihn gestern. Denn in der Tat war sein sehnsüchtiger Wunsch nach einem richtigen Winter endlich erfüllt worden!

„… grandinis misit Pater et rubente
dextera sacras iaculatus arces
terruit urbem …“ ergänzte der Wandergefährte. Das war Horaz! Ich war entzückt! Endlich also hatte ich jemanden gefunden, der meine Liebe zu Horaz teilte!

„Broahut volli hut…“ schlug er auf,

„all moanada gnug“, ergänzte ich treffsicher.

Gemeint ist mit diesem uralten alemannischen Sprichwort, das mir aus dem von Walsern besiedelten Flecken Issime bekannt ist, wenn es im Brachmonat Juni genug Schnee in den Hut schneie, dann habe man in allen Monaten genug davon!

Von der Cheruskerstraße, der via Cheruscorum, führte unser Weg uns in den nahegelegenen Hortulus Naturae apud stationem Crucem Meridionis positus. Und bald stellte sich heraus, dass mein neuer Bekannter das alte Germanische in verschiedenen Dialekten beherrschte, ja sogar bei den legendär zerstrittenen germanischen Stämmen, den Cheruskern, den Brukterern, Sueben, Tenkterern, Usipeten, Chatten usw., die sich in den Auseinandersetzungen mit den Römern zu verkämpfen drohten, so manche wertvolle Hilfe als Sprachmittler und vor allem als Menschenmittler hatte leisten können.

Seine Kindheit und Jugend hatte er, aus vornehmer Familie stammend, als den Römern gestellte Geisel in Rom verbracht, und so erklärte sich auch seine hervorragende Kenntnis des Lateinischen.

Wir hatten, in unsere Gespräche vertieft, den höchsten Berg der Gegend, den Mons insularum erreicht. Wir hielten inne und vertieften das angeschnittene Thema der verschiedenen Formen verschiedener europäischer Sprachen. Da traf es sich vortrefflich, dass wir beide erst wenige Tage zuvor die Netflix-Serie „Barbaren“ gesehen hatten, und während wir mit der Darstellung der Römer völlig einverstanden waren, ja sogar begeisterte Ausrufe des Entzückens über das sehr gepflegte, sehr achtsam gesetzte Latein in dieser Fernseh-Serie ausgestoßen hatten, konnte uns das in den aufwändigen Streifen gesprochene Deutsch oder besser das „Schwundgermanische“ nicht überzeugen.

Entsprach es doch allzu sehr jenem gängigen Vorurteil der Römer oder „Lateiner“ bis in unsere Zeit, wonach das Germanische in allen seinen Varietäten roh, unbehauen, ungebärdig, fehlerhaft, dem Grunzen von Schweinen ähnlicher sei als dem feinziselierten Idiom der gesitteten Welt von südlich der Alpen.

(sermo continuabitur)

Quellennachweise:
Q. Horati Flacci opera ed. Wickham, cur. H.W. Garrod, Oxonii 1975, carminum liber primus, carmen II, vv. 1-4

GABRIELE IANNÀCCARO: Broahut volli a hut, all moanada gnug. Proverbi meteorologici nelle comunità walser a sud delle Alpi. Gefunden unter folgendem Link: (99+) (PDF) Barcellona Paper: Broahut volli a hut, all moanada gnug. Proverbi meteorologici nelle comunità walser | Gabriele Iannaccaro – Academia.edu

Netflix.com : Barbaren. Regie: Barbara Eder, Steve St. Leger

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„Quid agis?“ – „Maxime valeo!“ Gespräch mit einem Cherusker (Anfang)

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Jan 222021
 
Blick auf den Cheruskerpark. Aufnahme vom 21.01.2021


Pulcher mons, a.d. XI Kalendas Februarias MMXXI.- Heri ibam forte via Cheruscorum sicut est mea consuetudo, meditans quaestiones vari generis, totus in illis. Accurrit quidam notus mihi aspectu tantum arreptaque manu ‚quid agis?‘ inquit. ‚Maxime valeo‘, inquam, ‚vigeo et corpore et mente… etiamsi istam nefastam pestem universalem qua afflicti sumus non negligendam esse puto. At tu?‘ ‚Ego quoque valeo. Non oportet me lamentari. Sed ubi est hiems, ubi sunt fulgores nivei qui semper me delectabant iuvenem…?“ (sermo continuabitur)

Der Leserservice fügt eine deutsche Übersetzung an:
Schöneberg, 22. Januar 2021.– Gestern ging ich mehr oder minder zufällig die Cheruskerstraße entlang, wie es meine Gewohnheit ist. Dabei überlegte ich Fragen vielfältiger Art und war ganz in sie versunken. Lief ein Mann auf mich zu, den ich nur vom Sehen her kannte. Nachdem er mich mit der Hand ergriffen hatte, fragte er mich: „Wie geht’s?“ „Mir geht’s super“, sagte ich, „sowohl körperlich wie geistig bin ich auf der Höhe der Kraft… auch wenn ich die unselige Pandemie, von der wir heimgesucht werden, für nicht zu vernachlässigend halte. Und selber?“ „Mir geht’s auch gut. Ich kann nicht klagen. Aber wo ist der Winter, wo ist der schimmernde Schnee, der mich in meiner Jugend immer so froh gemacht hat…?“ (Gespräch wird fortgesetzt)

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ORA ET CANTA! Gut gemacht, Augsburg!

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Nov 212020
 

Jan Brachmann schrieb gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Der Kulturbetrieb schnappt gerade nach Luft, einmal aus Not, vor allem aber aus Empörung, „dass Stätten der Kultur und Bildung unter dienstleistende Vergnügungs- und Freizeitveranstaltungen eingeordnet und den gleichen Verboten und Vorschriften wie Spielhallen, Wettannahmestellen, Fitness-Studios, Spaßbäder und Bordelle unterworfen werden“, wie es in einer Protestnote der Bayerischen Akademie der schönen Künste heißt. Gerald Fauth, der Rektor der Leipziger Musikhochschule, ließ die Bundeskanzlerin in einem offenen Brief wissen, wie sehr ihn diese „sprachliche Unsensibilität entsetzt hat“. Während Fauth ausruft: „Wo sind wir hingekommen? Wo sind unsere wahren, höchsten Werte?“, macht sich der Bariton Thomas E. Bauer einfach ans Handeln. Konzerte sind zwar verboten, Gottesdienste aber erlaubt, dachte er sich. Wenn man das öffentliche Singen als Gebet verstehen würde, wäre es also weiterhin möglich.

Thomas. E Bauer lässt in Augsburg 24 Stunden Palestrina-Messen singen (faz.net)

Jan Brachmann: Kultur betet. FAZ, 20.11.2020

Bild: Ein Ginko biloba blüht golden unter einem Himmelskreuz auf. Aufnahme des Verfassers. Cheruskerpark, Berlin-Schöneberg, 2. November 2020

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Die asymmetrische Kriegsführung Hermanns des Cheruskers

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Okt 302015
 

Τά τε γὰρ ὄρη καὶ φαραγγώδη καὶ ἀνώμαλα καὶ τὰ δένδρα καὶ πυκνὰ καὶ ὑπερμήκη ἦν, ὥστε τοὺς Ῥωμαίους, καὶ πρὶν τοὺς πολεμίους σφίσι προσπεσεῖν, ἐκεῖνά τε τέμνοντας καὶ ὁδοποιοῦντας γεφυροῦντάς τε τὰ τούτου δεόμενα πονηθῆναι.20151025_151221

„Denn die Berge waren schluchtenreich und unübersichtlich, die Bäume mächtig und überaus hoch, so dass die Römer, noch ehe die Feinde sie überfielen, durch das Baumfällen, den Wegebau und das Brückenschlagen, wo immer dies nötig war, erschöpft waren.“ Das zutiefst Unwirtliche der hochgewachsenen, struppigen, unwegsamen und feuchten germanischen Wälder schlägt einem entgegen, wenn man Dio Cassius liest, einen der wohl weitgehend verlässlichen Historiker, der sich mit analytischem Scharfsinn zum Verlauf der Verschwörung des cheruskischen Söldnerführers Arminius gegen seinen Oberbefehlshaber Varus äußert, übrigens weit ausführlicher als die heute erhaltenen zeitgenössischen Historiker des 1. Jahrhunderts. Mit unbestechlichem Auge legt Dio Cassius die zutiefst heimtückische Vorgehensweise des germanischen Milizenführers dar: häufig aß und trank Arminius mit Varus gemeinsam an einem Tisch; warnende Stimmen, die die Doppelzüngigkeit, die mangelnde Loyalität der germanischen Truppenteile anprangerten, verhallten ungehört, so schreibt es Dio Cassius. In offener Feldschlacht hätten die Germanen unter der Führung „Hermanns des Cheruskers“ – glaubt man dem griechischen Historiker – keine Chance gehabt. List, Täuschung, Verrat und das unwirtliche Umfeld spielten Arminius in die Karten.

Ein herrlicher weiter Blicke vom Umlauf des stolz aufragenden Hermannsdenkmals bezeugte uns am 25.10.2015 das Dumpfe, nebelhaft Lastende, zugleich mystisch Wabernde des Teutoburger Waldes; ob sich die Schlacht im Teutoburger Wald genau hier abgespielt hat? Die meisten Historiker halten heute die Gegend um Kalkriese für wahrscheinlicher. Liest man aber die entsprechenden Passagen bei Dio Cassius nach, so dürfte sich die Clades Teutoburgensis in mehreren Scharmützeln angekündigt haben, die heute kaum mehr genau zu lokalisieren sind. Ich glaube, es handelte sich bei der Expedition des Varus im Jahre 9 um eine Art Guerillabekämpfungskrieg, einen asymmetrischen Krieg, eine Abfolge von Nadelstichen, die dann in der berühmten großen „Schlacht im Teutoburger Wald“, die wohl eher einem chaotischen Gemetzel glich, ihr schauriges Finale fand.

Foto vom 25.10.2015, Textstelle aus Cassius Dio, Römische Geschichte, Buch 56, Kap.20 (eigene Übersetzung)

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