Zu den bittersten Kränkungen der jetzigen Zeit gehört es, dass wir uns der eigenen Begrenztheit bewusst werden. Wir haben schlechterdings dies und das nicht in der Hand! Zum Beispiel – die Zeit. Zum Beispiel – den Zeitpunkt des eigenen Todes. Wir erleiden die Einsicht zum Beispiel – von der Unplanbarkeit zahlreicher Verläufe. Auch die allesbesorgende Politik hat es nicht in der Hand. Der Staat kann den Menschen nicht mehr das Erreichen der natürlichen Altersgrenze von so und so vielen Jahren (70? 80? 86? 100? 120? Unsterblichkeit?) zusichern, wie er dies noch vor einem Jahr vorgab. Ein trügerisches Vorgeben, wie wir jetzt erneut erfahren!
Schlägt man heute die Zeitungen auf, so weht einen überall der Todesgedanke an, Fallzahlen, Sterbetafeln, Infektionsinzidenzen haben die Aktienkurse, Wechselkurse und Targetsalden ersetzt, die früher das unerbittliche Schicksal bedeuteten. – Ein psychotischer, barocker Pesthauch der Vergänglichkeit wallt uns an! Von Geburten, Geburtenzahlen (die muss es doch auch geben?), von Zuversicht, von der Schönheit des Lebens erfährt man nichts mehr aus den Massenmedien und aus den Verlautbarungen – während echte, gute, wahre barocke Kunst (die Musik J. S. Bachs z.B.) bei aller intimen Nähe zum Tod doch immer wieder die überschäumendste Freude feierte! Eine ganze Gesellschaft zieht sich schon mal das Leichentuch übers Gesicht. Es steht 0:6 für den Tod bei uns in Deutschland. Wie die Nationalelf es gegen Spanien so rekordverdächtig herausgespielt hat. Da war kein Aufbäumen mehr zu erkennen.
In der ersten Auflage eines 2020 neu erschienenen Buches hingegen strahlt uns taufrisch und unverwelklich folgendes Gedicht entgegen, als wäre es für heute, den 26. November 2020, geschrieben – oder als wäre es am vergangenen Sonntag, dem Totensonntag des Jahres 2020 geschrieben:
CORONA
Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
Die Zeit kehrt zurück in die Schale.
Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.
Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.
Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.
Zitat:
Paul Celan. Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2020, S. 45