Singt freudig euch empor!

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Jul 032017
 

Aus der Gemeinde von St. Norbert erreichte mein Smartphone gestern beim Warten in Paris am Flughafen Charles de Gaulles der folgende Bericht, den wir hier einrücken. Auch heute abend erwartet uns ja wieder eine Chorprobe, auf die wir uns schon freuen.

Viel zu lächeln und zu lachen gibt es gibt es immer, wenn wir am Montag abends buchstäblich den Staub des Alltags abschütteln, den Körper in gute Form klopfen, Stimme und Atem geschmeidig lockern. Jede Chorprobe mit Chorleiterin Ute Rosenbach beginnt mit einer Einstimmung von Körper, Stimme und Geist. Darauf folgen einfache Tonübungen, Summen, Singen, Sprechen: die ganze bunte Palette der unentdeckten Möglichkeiten wird geboten.

Ein schönes Aufatmungs-Erlebnis war in genau diesem Sinn das Chorwochenende in der Musikakademie Rheinsberg. Hier widmeten wir uns Ende März vor allem der Musik für die Gottesdienste zu Karfreitag und zu Ostern. Wo einst Kronprinz Friedrich seinen Quantz studierte, probten wir die Johannespassion von Thomas Mancinus: ein derbes, schonungsloses Theater, das vor allem die Gerichtsszenen des Evangeliums ohne jede Beschönigung entfaltet! Dieses schreiend ungerechte Drama stand dann im Mittelpunkt unseres Beitrages zum Karfreitag. Wir verkündeten erneut in St. Norbert das Leiden Jesu Christi, ebenso schroff wie dies um 1600 Thomas Mancinus, der Wolfenbütteler Hofmusiker getan hat.

Aber auch die strahlend schöne Klage des Tomás Luis de Victoria „Popule meus, quid feci tibi – Mein Volk, was hab ich Dir denn angetan?“ begeisterte uns. Sie trug uns fliegend durch die stillen Lande hin. Der Katholik Tomás de Victoria komponierte diesen Gesang in denselben Jahren wie der Lutheraner Thomas Mancinus!

Zu Ostern priesen wir dann endlich befreit die Auferstehung zusammen mit einem fulminanten Blechbläserquartett in zeitgenössischen Sätzen. Wir waren also zu Ostern wieder im 21. Jahrhundert angekommen. Ein großer Erfolg! Eine Auferstehung!

Schwingt freudig euch empor! Neue Menschen und neue Stimmen sind uns immer willkommen. Wir treffen uns regelmäßig am Montag um 19.30 Uhr im Pfarrsaal von St. Norbert, Dominicusstr. 19 B, 10823 Berlin. Dann geht’s aber richtig los! Jede Chorprobe mit Ute Rosenbach bietet als Zusatzgewinn kostenlosen Gesangs- und Stimmunterricht vom feinsten. Der eigentliche Sinn des Chorgesanges, das Lob Gottes, verschmilzt also mit der Kräftigung und Stärkung von Körper, Stimme und Geist im Singen. Menschendienst wird durch den Chor Teil des Gottesdienstes.

Ein Mal im Monat bieten wir nach Ansage zusätzlich am Sonntag um 10 Uhr als „Generalprobenchor“ das vorsichtige Reinschnuppern für Neugierige an, als würde man erst einmal vorsichtig den Fuß ins kalte Wasser stecken, ehe man sich uns Schwimmbad stürzt. Dort nehmen wir Neugierige und Neulinge unter die Fittiche und führen die geprobten Lieder und Sätze gleich anschließend im Gottesdienst auf. Das belebt, erfrischt und macht Freude.
Gottesdienst ist Menschendienst. Kommt, hört, singt!

Quelle:
miteinander. Pfarrnachrichten der katholischen Gemeinde St. Norbert – Berlin. Juli / August / September 2017, S. 18-19

Foto: Blick auf das Floß des Odysseus. Holzfiguren des Künstlers Tony Torrilhon. Aufgenommen am Ufer des Grienericksees bei Schloss Rheinsberg während des Chorwochenendes am 24. März 2017.

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Schroff. Schreiend. Kahl: Golgatha.

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Apr 082017
 
Zerrissenes Holz reckt sich empor in einen blauen, tiefen, antwortlosen Himmel, schrundige Auskehlungen zerfurchen den Baum auf dem Dorfanger von Lübars, gesehen am vergangenen Samstag bei einer Radtour durch das Tegeler Fließ. Soviel Schmerz, soviel Leiden!
Geduldiges Einhören, gemeinschaftliches Einsingen im Kirchenchor, Nachlesen in den alten Darstellungen und Anweisungen der geistlichen Musik früherer Jahrhunderte! Der gregorianische Passionston in der Johannespassion des Thomas Mancinus, die wir derzeit einstudieren, verlangt einen freien Vortrag, eine Verlebendigung im Gesang. Die rhombische Notenform – punctum inclinatum – dient nur als Stütze des in Freiheit erklingenden Wortes; Mancinus hebt sehr bewusst durch Klauseln und Floskeln die sinntragenden Worte hervor; die kraftvolle, sehr gesangliche Übersetzung Martin Luthers – sie bleibt ein poetisches Meisterwerk deutscher Sprache – übernimmt er dabei Silbe für Silbe, Elision für Elision unverändert.
Clamore et cum asperitate, so sollen die leidenschaftlichen Aufwallungen der Turba-Chöre gehalten sein. Mit Geschrei, schroff, unverbunden! Das sind die Anweisungen, die sich aus den damaligen Traktaten erschließen lassen.
Mancinus war übrigens Leiter der herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel; sein unmittelbarer Nachfolger in diesem Amt war Michael Prätorius, dessen Syntagma Musicum 1619 erschien, also ein Jahr vor dem Erstdruck der Passionsmusik des Thomas Mancinus.  Welch glückliche Koinzidenz! Wir können aus den Traktaten, Abhandlungen und Lehrbüchern der Jahrhundertwende durchaus ein Stilideal abnehmen, wir können mit Sicherheit sagen, dass die menschliche Stimme, nicht das dingliche Instrument damals noch das Vorbild jeder Musikausübung war; es unterliegt keinem Zweifel, dass die Musik, zumal die geistliche Musik damals als affektgeladene Klangrede, als Verkündigung aufgefasst wurde, nicht als Sinnesbetörung, nicht als autonomes, in Schönheit strahlendes Klangspiel.
Der Gottesdienst in der Sterbestunde Jesu beginnt in St. Norbert am Karfreitag, 14. April 2017, um 15 Uhr. Dort werden wir die Johannespassion des Mancinus zu Gehör bringen. Alle, die hören wollen, sind eingeladen. Die Tür ist offen.
Kirche St. Norbert, Dominicusstr. 17, 10823 Berlin-Schöneberg 
Bibliographischer Hinweis:
Die Johannespassion des Thomas Mancinus ist Teil des Werkes Musica Divina Signatur S 368.4° Helmst., das bereits in digitalisierter Form vorliegt. Man findet im Internetauftritt der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel den diplomatisch genauen Scan  ab Seite 277 unter folgendem Link: 
http://diglib.hab.de/wdb.php?pointer=176&dir=drucke%2Fs-368-4f-helmst
Eine moderne Aufbereitung, in welcher der ursprüngliche Wortlaut des Komponisten Mancinus durch den Text der früheren, im Jahr 1987 verwendeten Einheitsübersetzung ausgetauscht worden,  ist im Carus Verlag erschienen. Das Vorwort des Herausgebers verdient besondere Beachtung!
Thomas Mancinus: Johannespassion für Einzelstimmen und gemischten Chor SATB. Herausgegeben von Willli Schulze. Partitur. Carus Verlag 40.088, Stuttgart 1987
Einen guten, reich mit Quellen (darunter Prätorius) ausgestatteten Einstieg in die Musizierpraxis des 15. bis 17. Jahrhunderts bot mir folgendes Werk:
Ulrike Engelke: Musik und Sprache. Interpretation der Frühen Musik nach überlieferten Regeln. Agenda Verlag, Münster 2012
 Posted by at 22:47