ὑμῖν δ᾽ ἂν εἴη δῆμος εὐμενέστερος
τοῖς ἥσσοσιν γὰρ πᾶς τις εὐνοίας φέρει.
„Euch mög das Volk nun zugeneigter sein
Den Schwächren will doch jeder wohl.“
(Hiketides, Vers 488-489, eigene Übersetzung des Vf.)
Ein bis heute ergreifendes Zeugnis echter Humanität und echter Barmherzigkeit bietet der mythische König von Argos, Pelasgos, in Aischylos‘ Tragödie „Flehende“ (Hiketides). „König“ Pelasgos? Nun, Herrscher war Pelasgos zweifellos. Herrscher? Nicht wirklich! Ehe er die schutzlosen 50 jungen Frauen vor den bewaffnet heranstürmenden jungen Männern rettet und ihnen Asyl gewährt, befragt er das Volk (δῆμος). Er ruft eine Volksversammlung ein und lässt per offenem Handzeichen darüber abstimmen, ob die 50 Töchter des Danaos unter den Schutz der heimischen Götter gestellt werden sollen. Und er gewinnt den Volksentscheid triumphal!
Kurz und gut: Pelasgos entscheidet nicht im Alleingang. Er lässt sich nicht erweichen und erpressen, etwa durch den bühnenwirksam angedrohten Suizid der 50 Jungfrauen, obwohl tatsächlich Gefahr im Verzuge ist. Stattdessen fragt er: Was will das Volk?
Ja was ist denn das für ein König, der sein Volk befragt, ehe er die Landesgrenzen öffnet? Ist das dargestellte Geschehen glaubwürdig? Antwort: Aischylos blendet die politische Realität seiner Zeit mit in den mythischen Stoff ein. Ihm ging es nicht darum, nur eine spannende Sage dramatisch auf die Bühne zu bringen, nein, er inszenierte ganz bewusst eine politisch-moralische Streitfrage der Gegenwart in mythischer Einhüllung.
Und die Gegenwart, das war nun einmal die damals (ca. 470-460 v. Chr.) noch junge, noch ungefestigte Demokratie. Athen war zweifellos seit den Reformen des Kleisthenes (509 v. Chr.) im echten Sinne, auch in unserem Sinne eine Demokratie, wahrscheinlich die erste in Europa überhaupt; Entscheidungen über Krieg und Frieden, über Aufnahme oder Abweisung fremder Volksgruppen, über Steuerfragen durften seitdem nicht mehr durch einen obersten Herrscher alleine getroffen werden. Träger der Souveränität, ja der Souverän selbst, war nunmehr das Volk (Demos), das durch Wahl und durch Los Körperschaften zu seiner Vertretung schuf (den „Rat der 500“, die 9 „Archonten“, das „Volksgericht“), aber zugleich noch durch Volksabstimmungen starke Züge der „direkten“, nicht-repräsentativen Demokratie beibehielt.
Die Athener Bürger hatten also bei allen wesentlichen Entscheidungen Mitspracherechte. Gegen und ohne das Volk lief nichts. Es gab keinen Platz für einsame Entscheidungen eines Königs oder einer Großherrscherin mehr.
Was lernen wir für die Bundesrepublik Deutschland daraus? Nun, wir sind auch eine Demokratie. Wir haben heute kaum mehr die direkte, sehr wohl aber die repräsentative Demokratie. Und das bedeutet, das Volk, der Souverän, wird durch gewählte Abgeordnete in Parlamenten vertreten. Träger der staatlichen Souveränität und der Daseinsvorsorge sind zunächst einmal bei uns im Alltag die 16 Bundesländer. Sie sind gefragt, wenn es um die Unterbringung der aus allen Richtungen regellos Zuwandernden geht. Der Bund hat keine Berechtigung, den Bundesländern Aufgaben der Daseinsvorsorge ohne deren Zustimmung zuzuweisen, insbesondere ohne ihnen die nötigen Sach- und Finanzmittel zur Verfügung zu stellen (vgl. Artt. 28 und 30 GG).
Die 16 Landesparlamente und der Bundesrat sollten also – so meine Meinung – auch jetzt Herren des Verfahrens werden. Die 16 Landesparlamente müssen bei so weitreichenden Entscheidungen wie der nunmehr faktisch verkündeten völligen Öffnung der deutschen Grenzen für ausnahmslos alle Zuwandernden vorher gefragt und vorher einbezogen werden. Auch der Bundestag sollte vor allen vorschnellen Entscheidungen intensiv gefragt und einbezogen werden. Die 16 Länderkammern, der Bundesrat und auch der Bundestag müssen nun entscheiden, wohin die Reise geht. Sie – die 16 Länderparlamente, der Bundesrat, der Bundestag müssen das Heft des Entscheidens in die Hand nehmen. Von ihrem Willen hängen die Regierungen der 16 Bundesländer ab. Ein bundesweiter Volksentscheid ist dann unnötig, zumal er sowieso rechtlich nicht zulässig ist.
Denn staatliches Handeln muss auch in Krisenzeiten weiterhin an Recht und Gesetz gebunden bleiben.
Durch intensive gemeinsame Entscheidungsfindung, durch offenes Ringen und Austauschen der Argumente in Rede und Gegenrede wird die repräsentative Demokratie der Bundesrepublik Deutschland ihre Stärke und ihre Humanität beweisen!
Es ist möglich, so glaube ich, eine Lösung der Zuwanderungsfragen und der Flüchtlingskrise zu finden, wenn zu dem humanitären Impuls der sittlich gebotenen Nothilfe für Schwache, Kranke, für schutzlose Frauen, Kinder, Arme und Notleidende eine rechtlich gebotene Besinnung auf das Wesen und die Eigenart der parlamentarischen Demokratie hinzutritt.
Und Wesen der Demokratie ist es nun einmal, dass das Volk Träger der Souveränität ist.
Ich meine: Schwache, Arme, Kranke, Kinder, Witwen und Waisen, schutzlose verfolgte Frauen, Hilflose, die sich bei uns innerhalb unserer Grenzen aufhalten, verdienen unser Mitgefühl. Ob wir die Hunderttausenden voll arbeitsfähiger, voll mobiler junger Männer aus aller Herren Länder weiterhin wie bisher unterschiedslos bei uns aufnehmen wollen, darüber sollten wir uns in Rede und Gegenrede unterhalten.
Letztlich sollte diese Fragen das Volk (der Demos) über die gewählten Parlamente entscheiden.