„Was wird hier an diesem Brunnen erzählt?“ Mit einer russisch-deutschen Fußwandergruppe, deren Teilnehmer hauptsächlich aus Moskau, Berlin und Samara stammten, besuchte ich letzten Sonntag den berühmten Spandauer Eiskeller, den kältesten Punkt ganz Berlins. An jenem Sonntag war es in Spandau aber auch kälter als in Sibirien. Ich verkündete stolz die Werte für Samara, für Moskau, für Wladiwostok, die ich in der U-Bahn noch abgelesen hatte. Wir lagen drunter! Wir Deutschen waren Weltmeister der Kälte!
Beim ev. Johannesstift rätselten wir über die Botschaft des Brunnens. Man sieht wenig an diesem Brunnen: Ein Mann ist von seinem Pferd abgestiegen. Er scheint einem anderen Mann aufzuhelfen. Ein anderer Mann geht vorbei. Wir sind irgendwo zwischen Felsen. Leider war die erklärende Plakette des Brunnens wegen Eisbefalls nicht zu lesen. Es herrschte ja in ganz Europa in jenen Tagen eine große Vereisung und Verpanzerung. Deshalb fehlten an dem Brunnen der Vergangenheit die Erklärschilder. Es fehlte der Erzähler, der die alten Brunnengeschichten erzählen könnte. Die Botschaft des Brunnens war verstummt. Es herrschte Frost und Vereisung.
Einer fasste sich da ein Herz und fing an zu erzählen:
„Ich glaube …“
„Was glaubst du …?“, unterbrachen ihn die Kinder.
„Ich glaube, dass hier erzählt wird, wie ein Mann unter die Straßenräuber fiel. Die Räuber schlugen den Mann zusammen, raubten ihn aus und ließen ihn halbtot liegen. Da kam ein stolzer Moskowiter vorbei, der sagte: „Ach da liegt ja so ein Provinzler. Sicher ein Alkoholiker. Typisch, selber schuld.“ Der Moskowiter ging weiter. Da kam ein Berliner vorbei. Der sagte: „O, ein Kälteopfer. Ach was, es gibt ja die Kältehilfe. Die wird sich um den kümmern.“ Und ging weiter. Zuletzt kam ein Mann aus Samara vorbei. Ihr wisst ja, liebe Kinder, Samara, früher Kuybischew, die Autostadt hart am Ural, die außer Wäldern, Feldern und Langlaufloipen gerade und auch im Bereich Kultur im Vergleich zu Moskau und Berlin nichts zu bieten hat! Der Mann aus Samara blieb stehen und sagte: „Dir muss ich helfen.“ Er verband dem Mann die Wunden, flößte ihm Tee ein und brachte ihn ins nächste Hotel. Dort gab er dem Wirt 200 Euro (in Russland ein inoffiziell anerkanntes Zahlungsmittel). „Kümmer dich um den Mann. Ich komme in ein paar Tagen wieder vorbei. Wenn das Geld nicht reicht, kriegst du noch was von mir.“ –
„Nun frage ich euch, liebe Kinder: Was wurde hier erzählt?“
Wir schwiegen zunächst. Dann sagte einer: „Es wurde die Geschichte von dem Gebot der Ersten Hilfe erzählt. Der Mann aus Samara leistet erste Hilfe, die anderen nicht. Er ist also ein Vorbild. Du hast soeben die Entstehung der Samariterhilfe erzählt – und warum sie so heißt!“
Wir schauten genauer hin. Wie realistisch war die Erzählung? Gab es denn damals, als der Brunnen gebaut wurde, schon den Euro? Glaubte der Erzähler eigentlich selbst das, was er da aufgetischt hatte? Was ist die Wahrheit? Was ist Wahrheit?
Da entdeckten wir die Bestätigung dessen, dass die Samariter-Erzählung des mutigen Erzählers wahr war. Denn das Eis, der Schnee auf der Szene hatte zu tauen begonnen. Die Sonne hatte ein Erbarmen, sie unterstrich die Wahrheit dieser Geschichte von der Barmherzigkeit. Ein Wunder! In ganz Berlin war dies die einzige Stelle, an der die Sonne stark genug war, das Eis zum Schmelzen bringen!
War dies so? Was ist die Wahrheit dieser Erzählung? Hat sich dies so zugetragen? Es könnte sein, es könnte nicht sein. Dass etwa der Arbeiter-Samariter-Bund auf die russische Stadt Samara an der Wolga zurückgeht – wer will das behaupten oder bestreiten?
Vielleicht hat der Erzähler das eine oder andere ergänzt oder umgedreht. Die Botschaft aber dürfte so zutreffen. Die Wahrheit ist: Man darf an die Botschaft glauben und ihr folgen.
Die Sonne brachte den Beweis von der Wahrhaftigkeit der Erzählung vom barmherzigen Samariter.