Mrz 222013
 

2013-03-22 09.05.462013-03-22 09.05.46

Zwei herrliche, gegensätzliche Gespräche mit zwei klugen Männern bietet die gedruckte Süddeutsche Zeitung heute an. Beide in höchstem Maße lesenswert! Zwei offene, lachende, fröhliche Gesichter, sympathische, gewinnende Persönlichkeiten! Die Unterhaltungen könnten unterschiedlicher nicht ausfallen, und deshalb ziehe ich sie bei, um den Unterschied zwischen einer personalistischen und einer kollektivistischen Ethik zu erläutern.

Omar Sy aus dem französischen Trappes, unser erster Zeuge, vertritt auf Seite 10 eine personalistische Ethik. Seine Grundaussage – und damit die Grundaussage jeder personalistischen Ethik – ist: „Wir sind doch alles freie Menschen.“ Aus dieser Freiheit des Menschen leitet sich die Forderung ab, dass jede und jeder für das eigene Handeln Verantwortung übernehmen muss. Die Anforderungen einer solchen Ethik richten sich in Ich-Form an das eigene Selbst, an das eigene Gewissen. Die Grundaussage ist:

„Ich will und soll … das und das tun.“ Ein Beispielsatz Omars lautet: „Ich möchte vor allem ein guter Vater und Ehemann sein.“ Dieser Satz zeigt auch sofort den ursprünglichen Geltungsbereich dieser Ethik: es ist das Verhältnis zu den nächsten Menschen, also zunächst einmal die eigene Familie. Ein Mensch, der allein auf dieser Erde lebt – ein Robinson Crusoe unserer Single-Gesellschaft – hat selbstverständlich keine Pflichten gegenüber anderen Menschen. Da wir aber im Regelfalle nicht allein leben, führt der Geltungsbereich der in der Freiheit begründeten personalistischen Ethik zunächst zur Familie: zu Vater, Mutter, Geschwistern, Ehepartner, Kindern. Die Familie – Kinder, Ehefrau, Ehemann, eigene Eltern – sind diejenigen, an denen sich dieser Anspruch ethischen Handelns zuerst bewähren muss. Später tritt die Gesellschaft oder der Staat hinzu.  Die Familie ist der wichtigste, unverzichtbare Bezugsrahmen, die Kinderstube der Ethik.

Weitere Beispiele für derartige personalistische  Ansätze in der Ethik sind: die Tugendlehre und der kategorische Imperativ von Immanuel Kant, all die muslimischen und die alevitischen Pflichtenlehren, all die christlichen Pflichtenlehren und all die jüdischen Pflichtenlehren, aber auch die Öko-Ethik eines Franziskus von Assisi.

Motto: Wenn jeder sein eigenes Leben bessert, wird auch die Welt insgesamt besser.

Ganz im Gegensatz dazu äußert sich auf Seite 24 Robert Pfaller aus dem österreichischen Wien. Er sagt: das private Laster ist der öffentliche Nutzen. „Private vice is public benefit. Damit die Welt allgemein gut wird, müssen wir individuell böse sein.“  Grundannahme unseres Zeugen ist: Die Welt ist zwar noch nicht gut. Sie wird aber schon irgendwie gut werden – allerdings nicht durch das individuelle Bemühen, sondern durch das kollektive Handeln. Der Einzelne hat keine Chance, die Welt besser zu machen. Der Konsument kann als einzelner auch nichts beeinflussen. Zum Beispiel beim Klimawandel:  „Und der Konsument soll das alles individuell beeinflussen? Nein, der Staat muss das regeln! Die Politik muss feste Klimaziele bestimmen und die Finanzmärkte regeln, nicht der Einzelne.“

Auch ein  Vertreter einer kollektivistischen Ethik wie Robert Pfaller will das Gute. Er will ja nicht, dass die Staaten übereinander herfallen oder dass wegen der globalen Erd-Abkühlung der Frühling im Nachbarland Deutschland ausfällt – worauf im Moment leider alles hindeutet. Bezeichnend für den kollektivistischen Ansatz ist aber, dass es keine individuelle Verantwortung gibt. Die große Verantwortung liegt stets bei den Strukturen, bei den Märkten, bei den Verhältnissen. Schuld an den Übeln dieser Welt sind stets die anderen: der Neoliberalismus, der Kapitalismus, die Gesellschaft usw. Hauptregulator des Wandels ist nicht das individuelle Gewissen, sondern die Politik und der Staat. Jeder soll im allgemeinen Bösen so leben, dass für ihn das eigene Glück maximiert wird. Dann wird es auch den anderen besser gehen. Irgendwie wird sich schon alles einrenken.  Der naturgegebene Rahmen für die Entfaltung dieser Glücksvorstellung ist erstens der Sinnengenuss im einvernehmlichen, lauten Sex und zweitens die Freundschaft zwischen gleichberechtigten Menschen auf Augenhöhe, also etwa das Gespräch zwischen Philosophen bei einem Gläschen Wein im Hain der Philosophie oder im Wiener Caféhaus bei einem Gläschen Whisky.

Beispiele für derartige kollektivistische Ansätze in der Ethik sind: Platons „Politeia“, vor allem sein 5. Buch, Epikurs Lehre von der Glückseligkeit, die marxistischen und sozialistischen Theorien, die Occupy-Bewegung, überhaupt alle Bewegungen, die das Gute und die Befreiung aller benachteiligten Menschen wollen – in Kreuzberg oder San Rafael del Sur/Nicaragua oder Wien/Österreich und überall auf der Welt sonst auch.

Motto: Es kommt auf das Ganze an. Die Gesellschaft und der Staat stehen in der Pflicht.

Ich denke, beide Haltungen treten heute in der Süddeutschen Zeitung in den beiden Männern Omar Sy und Robert Pfaller geradezu idealtypisch hervor. Dank an beide Männer, Dank an die Süddeutsche Zeitung, sie haben mir hier im hohen Kreuzberger Norden die Stube erwärmt!

Wer hat nun recht: der gute, altertümlich wirkende Vater und pflichtbewusste Familienmensch Omar Sy, der sich selbst öffentlich in die Verantwortung für Mensch und Gesellschaft nimmt – oder der heitere Lebenskünstler und menschenfreundliche Genießer, der Philosoph Robert Pfaller?

Wähle selbst!

Quellen:
Alexander Mühlauer: „Sex ist laut und sozial unverträglich.“ Gespräch mit Robert Pfaller. Süddeutsche Zeitung, 22.03.2013, S. 24
Martin Zips: „La Grande Intégration“. Süddeutsche Zeitung, 22.03.2013, S. 10

Photo: Global warming is coming! Die Erderwärmung schreitet voran!  Ein Schneemann im ersten verkehrsberuhigten Bereich Kreuzbergs, der Hornstraße. Beweis: diese Aufnahme vom 22. März 2013, dahinter: die ev. Christuskirche mit sinnenfrohen Graffiti

 Posted by at 15:22

Sorry, the comment form is closed at this time.