Trifft ein Neuköllner Kutscher einen Kreuzberger Fährmann …

 Rumi, Weihnacht  Kommentare deaktiviert für Trifft ein Neuköllner Kutscher einen Kreuzberger Fährmann …
Dez 242012
 

Mit einem Neuköllner Droschkenkutscher sprach ich über Weihnachten: „Für uns Muslime ist Weihnachten im wesentlichen nichts anderes als nur das Geburtsfest von Jesus, den wir als Propheten anerkennen. In Antalya, wo meine Eltern herkommen, feiern übrigens manche muslimische Gemeinden zwar dieses Isa-Geburts-Fest, indem sie Kindern und Armen Geschenke geben. Aber den ganzen säkularen Kommerzrummel, den machen wir nicht mit.“

„Da habt ihr völlig recht“, erwiderte ich. „Für mich ist Weihnachten im wesentlichen nichts anderes als das Geburtsfest von Jesus – und darüber hinaus auch ein großes Fest der Gemeinschaft im Wort und auch der Familienzusammenführung, wie halt in Deutschland der Brauch ist. Dem ganzen säkularen  Kommerzrummel kann und will ich mich nicht entziehen. Ich anerkenne und ehre übrigens sehr euren Celaleddin Rumi, der in Konya wirkte. Dieser Mevlana sagte: Jeder von uns hat wie Maria (Meryem) seinen Jesus (Isa) zu gebären. Das ist schmerzhaft. Wachstum bereitet Schmerzen. Aber danach kann die Freude groß sein. Auch für Männer ist der Geburtsschmerz über die Vermittlung des Wortes nachfühlbar.“ 

So viel Einigkeit zwischen einem schlichten Neuköllner Kutscher und einem armen Kreuzberger Zigeuner-Fährmann des Wortes!

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Nov 072011
 

Wohl im Jahr 2007 oder 2008 verbrachte ich einige Stunden auf einer Reise nach Kappadokien in der Hacı-Veyiszade-Moschee und im Mevlana-Museum in Konya, dem Ort wo Maulānā Ǧalāl ad-Dīn Muḥammad-e Rūmī starb: heute eine staubige, von Touristen, Dolmuşlar und sonstigen Otobüslar überquellende Stadt, und doch umfing mich sofort beim Eintreten in die Moschee, beim Betrachten der Brunnen und Rinnsale der uralte Anhauch des Sufismus, jener in Versenkung, in Entweltlichung aufgehenden Spielart des Islam, die heute allzu wenig Beachtung findet, verdrängt und übermalt vom politisierten, mehr und mehr wahabbitisch geprägten Islam, wie er uns auch in Kreuzberg und Berlin stärker und stärker begegnet.

Eine große Freude und Ehre wurde mir vor wenigen Tagen in der Katholischen Akademie Berlin zuteil: Bei einem öffentlichen Vortrag unter dem Thema Translating Religion baten mich der Religionswissenschaftler Alan Williams und Akademie-Referent Martin Knechtges, in deutscher Sprache einige berühmte Verse Rumis vorzutragen.    

Von einem Oboenspieler habe ich mir einmal erzählen lassen, welche Mühe es kostet, dem Doppelrohrblatt dieses Instruments den klaren, eindringlich-singenden Ton zu entlocken, der die Oboe zu so einem unvergleichlichen Instrument der Klage macht, insbesondere in der Langform, dem Englischhorn.

Mit klarer, deutlicher, leicht schwebend-singender, gewissermaßen oboenartiger  Stimme versuchte ich die Verse in der Übersetzung Hellmut Ritters vorzutragen, wobei ich um jeden Laut rang, ihn formte und losfliegen ließ:

Hör dieses Rohr, wie es klagt,

             wie es von den Trennungen erzählt:

Seit man mich aus dem Röhricht schnitt,

            haben Mann und Weib ob meines Tönens geklagt und geweint.

Nur selten habe ich bisher persische Dichtung im Original vortragen hören, und doch meine ich, den eigentümlichen Klang des Persischen, der Sprache des Zarathustra, der Sprache der Parsen aus tausend Sprachen heraushören zu können: Klar, deutlich, schlicht, klangvoll, mitunter verhüllt-näselnd, oboenartig, dann wieder stolz, rein, mit großen, dunkeln weitgeöffneten Augen der Welt zugewandt. Und so erlebte ich auch den persischen Vortrag durch Aida, die ihre Muttersprache wunderbar zum Erklingen brachte.

In der Vielfalt der Sprachen scheinen mir die Worte und die Sprache, das Original und die Übersetzung  einander zuzurufen wie das Doppelrohrblatt der Oboe dem hörenden Herzen zuruft, um das König Salomon vor seiner Thronbesteigung gebeten hat. Es ereignet sich in dieser Art Übersetzung ein unvergleichliches Da der Dichtung, ein unvordenkliches Du.

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Sep 012010
 

So, damit kommen wir der Sache näher: Fast niemand der Befragten aus dem Goethe-Gymnasium kannte bei der Befragung durch die hartnäckigen Hart-aber-fair-Spürhunde das Gedicht „Wanderers Nachtlied“ von Goethe.

Thilo Sarrazin, der in der Runde saß und höchst achtbar seinen Mann stand, war sichtlich traurig darüber. Ich glaube, nichts hat ihn mehr getroffen und betrübt als diese Befragung der Schüler und Lehrer des Goethe-Gymnasiums, bei der Abiturienten und Lehrer nichts von diesem herrlichen Nachtlied wussten, das Franz Schubert so herzbewegend vertont hat.

Das also ist des Pudels Kern! Die Deutschen vergessen ihre große, ihre überragende Kultur, die weltweit in den Konzertsälen und Bibliotheken gelehrt und verehrt wird. Weltweit: außerhalb Deutschlands. Und deshalb hegen viele Deutsche die Angst, das Land könnte sich abschaffen.

Sie sind das status-unsichere Volk schlechthin! Incertitude allemande! Ich halte diese kulturelle Amnesie der Deutschen für höchst gefährlich. Denn sie kann in politische Instabilität umkippen.

Kaum etwas hat mich in den letzten Monaten stärker bewegt als unsere Elternkonzerte für die Kinder der Fanny-Hensel-Schule in Kreuzberg (Migrantenquote: 98%), als wir uns etwa über den Freischütz von C.M. von Weber unterhielten. Und eins unserer „libanesischen“ Mädchen sang den Jägerchor nach – ohne Scheu, taktsicher, mit herrlichem klaren Trallala. Es geht doch! Die muslimischen Kinder sind hungrig, sind wach, kennen keine Scheu vor der großen europäischen Kultur.

Unsere Kinder wollen und suchen das Schöne, das Wahre, das Gute. Sie haben ein Recht darauf. Sie haben ein Recht darauf, sehr früh, ab Klasse 1 mit Mozarts Zauberflöte bekanntgemacht zu werden. Sie haben ein Recht darauf, fragen zu dürfen, ob die Königin der Nacht gut oder böse ist.

Also muss die Schule ihnen diese Schätze auch bieten.

Ein Jammer, dass unsere Schulen so wenig weitergeben, weiterschenken von dem, was wir Deutsche zu bieten haben.

Nur wer gibt, kann auch nehmen.

Zum unverzichtbaren Kernbestand der deutschen Kultur rechne ich persönlich neben etwa zwei Dutzend Gedichten Goethes seinen Faust, rechne ich Musik Bachs und Mozarts, Kenntnisse über klassische deutsche Literatur, Geschichte ab etwa 1000 (nicht nur 1933-1945), Musik, Geographie. Beethoven! Brahms! Das sind Kontinente des Deutschen. Wenn unsere jungen  Leute diese Kontinente nicht mehr erfahren, dann gute Nacht, Deutschland!

Man sollte wissen, wer Immanuel Kant war und was er ungefähr gewollt hat. Man sollte mit Namen wie Adenauer, Karl der Große, Hitler, Rosa Luxemburg, Freud, Marx etwas anfangen können. Und Goethe, immer wieder Goethe! Goethe mehr denn je, denn er hält uns Deutschen den Schlüssel zum Verständnis des Islams in der Hand!

Weil sie keinen Goethe, keinen Friedrich Schiller mehr  kennen, sind sie taub für die Wortmusik eines Hafis oder Rumi. Und sie sind taub für Shakespeare.

Weil sie keine Bibel kennen, verstehen sie – die Deutschen – die Muslime nicht.

Weil sie Grimms Märchen nicht pflegen, sagt ihnen 1001 Nacht auch nichts mehr.

Gerade lese ich den Kinderkoran Lamya Kaddors mit großem Gewinn und großer Freude. Warum enthalten unsere Schulen den Kindern die großen Menschheitsgeschichten einer Maryam/Maria, eines Josef/Yusuf, eines  Moses/Musa, eines Isa/Jesus, eines Abraham/Ibrahim vor?

Auch dieser Fehl gehört zum kulturellen Gedächtnisverlust!

Weil die Deutschen ihre eigene Herkunft nicht pflegen, interessieren sie sich auch nicht für die Herkunft der Zuwanderer. Wer in Deutschland kennt schon türkische Dichter oder arabische Philosophen?

Es herrscht Ödnis. Wüste.

Weil sie schludrig mit ihrer eigenen Sprache umgehen, wollen auch andere Menschen sie nicht lernen.

Weil die Deutschen sich ihrer eigenen kulturellen Herkunft nicht vergewissern, haben sie Zukunftsangst. Deshalb hat Sarrazins Buch so viel Erfolg. Es rührt an die tiefe kulturelle Unsicherheit der Deutschen.

Das sehe ich in allen Schulen, das bemerke ich auf Schritt und Tritt bei Gesprächen. Sie reden über Mieten in Mallorca, über das neueste i-Phone, über die Bundesliga. Nichts gegen Mieten in Mallorca, i-Phones, Bundesliga – aber das kann nicht alles sein.

Wir können die Zuwanderer nur aufnehmen, wenn wir das Schöne und Große unserer Herkunft mit ihnen teilen lernen.

Sonst ruhen wir allzu balde.

 Posted by at 23:44
Mrz 302010
 

Sehr guter Beitrag des Außenministers Davutoglu zur türkisch-deutschen Beziehung! Türkische Schüler können und sollen Goethe, deutsche Schüler Mevlana lesen. Sehr gut! Ich füge hinzu: Aber sogar deutsche Schüler sollten Goethe früh, wiederholt und intensiv kennenlernen. Ich bin immer wieder traurig, wenn ich sehe, wie wenig die Berliner Schüler von Goethe, von Johann Sebastian Bach, von Immanuel Kant, von Mevlana und von Rumi erfahren!

Die Schulen schmeißen sich oftmals weg, nur um den Wünschen und Bedürfnissen der Schüler entgegenzukommen. Alles muss ja Spaß machen, alles muss leicht fasslich werden. Das große Erbe der deutschen Kultur, das in aller Welt – auch in der Türkei – gepflegt und verehrt wird, genau dieses wird an deutschen Schulen selbstverleugnend unter den Scheffel gestellt. Was für ein Jammer!

Wenn aber ein deutscher Schüler mit Namen wie Goethe, Immanuel Kant oder Johann Sebastian Bach nichts mehr anfangen kann, wenn er nicht viele, vielfältige Begegnungen mit den großen Werken der deutschen, der europäischen Leitkulturen erlebt und erlitten hat, dann wird er auch den Zugang zu Rumi, zu Homer oder zu Aischylos nicht finden. Dann hat es irgendwann auch keinen Sinn mehr, von Europa zu sprechen.

Denn jede Brücke hat zwei Enden! Von Goethe, von seiner frühen Mahomets-Ode, vom späten Goethe des West-östlichen Divans etwa – führt die Brücke zum Islam, zu Rumi, zu Mevlana. Ein direkter Eintritt in die orientalische Welt hingegen, ohne Wegbegleitung durch Vordenker und Vordichter der eigenen Muttersprache, das scheint mir fast unmöglich.

Davutoglu hat recht.

Berliner Zeitung – Aktuelles Politik – Merkel will Kulturaustausch mit Türkei ausbauen
Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu, selber Absolvent eines deutschsprachigen Gymnasiums in Istanbul, bekräftigte die Bedeutung dieser fremdsprachigen Gymnasien im türkischen Bildungssystem. Diese seien Brücke zwischen den Ländern. «Aber jede Brücke hat zwei Enden», sagte er. Wenn türkische Schüler Goethe lernten, deutsche Schüler sich dann aber auch mit den Lehren des islamischen Mystikers und Dichters Mevlana befassten, werde das Band noch enger. «Die Bildung, die man erhalten hat (…) bildet später die Grundwerte», sagte Davutoglu.

 Posted by at 14:30