Lob der Barfüßer

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Jul 152023
 

Hier war einmal ein Kirchenschiff der Barfüßerkirche – heute ein Innenhof, frei zugänglich auch für Tauben, unter freiem Himmel

Μὴ κτήσησθε πήραν εἰς ὁδὸν μηδὲ δύο χιτῶνας μηδὲ ὑποδήματα μηδὲ ῥάβδον – „Nehmt weder Ranzen noch zwei Obergewänder, auch weder Schuhe noch Wanderstab mit“, auf dieses Gebot Jesu (hier aus Mt 10 zitiert), leichten Sinnes und ohne jede überflüssige Last barfuß zu gehen, bezogen sich die „Barfüßer“, also Angehörige jener Ordensgemeinschaften, die auch in Augsburg ihre eigene Kirche errichteten – die „Barfüßerkirche“, an der ich nach ungezählten Schultagen auf die Straßenbahnlinie 1 wartete (statt die 6 km nachhause barfuß zurückzulegen).

Hier in der Barfüßerkirche wurde übrigens Bert Brecht getauft, hier besuchte er den Religionsunterricht, hier wurde er konfirmiert. Eine Erklärtafel brachte bei unserem Besuch dieser Kirche am vergangenen Sonntag die Einzelheiten und zeigte uns den jungen Brecht mit Ranzen und gepflegtem Schuhwerk:

Die Kirche wurde im Februar 1944 durch verheerende Bombardierungen völlig zerstört, heute ist sie mit ergreifender Dürftigkeit, fast ohne Schmuck, beraubt, ein Denkmal der Obdachlosigkeit, mit offenem Gewölbe als eine Kirche der Armut wieder hergerichtet; von der ursprünglichen Ausstattung ist alles verloren gegangen. Im Altarraum sahen wir zwei Mal Jesus, beide Male unbeschuht, ohne Obergewand, ohne Ranzen, ohne Wanderstab, beraubt und schmucklos – und in hebräischen goldenen Lettern das Tetragramm. Das heute zu sehende „Christkind“ schuf übrigens Georg Petel.

So wenig braucht es, um so viel zu sagen.

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An der Floßlände des Erinnerns

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Jul 092023
 

Ewig sich verjüngender, ewig neu schimmernder, üppig wallender Fluss, du treibst von weither, seit jeher die Geschicke dieser Stadt, und hier, wo unser Blick hinunter schweift auf die buchtartig sich erweiternden Kiesbänke, über denen Erlen, Weiden und Pappeln ihre gewaltigen Kronen wiegen, hat man die Reste eines Flößereihafens gefunden, „zu dem ein Seitenarm des Lechs oder ein von dort abgeleiteter Kanal geführt haben dürfte“.

Floßlände nennen es heute die Einheimischen hier, sie haben den Ort zu einem behaglichen Stelldichein ausgebaut. Weit hinaus ragt eine bühnenartig vorkragende Konstruktion über den Fluss, auf Betonquadern saßen gestern abend die Leute Trepp an Trepp bis zum Fluss hinab. Hier ließen wir den ersten Tag unseres Augsburg-Aufenthaltes ausklingen, schwelgten in Erinnerungen an Kindheit und Jugend, woben des Netz der Erzählungen über das wunderliche Bergwerk des Lebens und des Sterbens.

Zitat: Martin Kluger: Wasserbau und Wasserkraft, Trinkwasser und Brunnenkunst in Augsburg. Die historische Augsburger Wasserwirtschaft und ihre Denkmäler im europaweiten Vergleich. context Verlag, Augsburg 2013, S. 12

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Angelehnt an das Gitter der Zeiten: Bert Brecht

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Apr 082023
 

Meiner Vaterstadt Dichter, wie find ich ihn doch?
Angelehnt ans lebensrettende Gitter
nimmt er die Gestalt eines weiß überstrichenen Tandems an.
Gemütlich lächelnd wacht er vor dem Haus,
das seinen Namen trägt.
Zwischen den Zahnrädern, nein zwischen den Zähnen
höre ich ihn pfeifen –
„Ja macht nur einen Plan, und macht noch einen Plan…“
Dann wendet er sich ab von dem Fremden,
der seine Vaterstadt mit ihm teilt.
Es ist ja Karsamstag. Tag der Grabesruhe.
Das war seine Erklärung zum heutigen Tag.

Fremd geworden, steige ich den altvertrauten Pilgerhausberg hinan.
Es regnet nieselnd, lächelnd im Regen
blickt mir der Dichter hinterher
angelehnt an das ihn haltende Gitter der Zeit.

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ORA ET CANTA! Gut gemacht, Augsburg!

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Nov 212020
 

Jan Brachmann schrieb gestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:

Der Kulturbetrieb schnappt gerade nach Luft, einmal aus Not, vor allem aber aus Empörung, „dass Stätten der Kultur und Bildung unter dienstleistende Vergnügungs- und Freizeitveranstaltungen eingeordnet und den gleichen Verboten und Vorschriften wie Spielhallen, Wettannahmestellen, Fitness-Studios, Spaßbäder und Bordelle unterworfen werden“, wie es in einer Protestnote der Bayerischen Akademie der schönen Künste heißt. Gerald Fauth, der Rektor der Leipziger Musikhochschule, ließ die Bundeskanzlerin in einem offenen Brief wissen, wie sehr ihn diese „sprachliche Unsensibilität entsetzt hat“. Während Fauth ausruft: „Wo sind wir hingekommen? Wo sind unsere wahren, höchsten Werte?“, macht sich der Bariton Thomas E. Bauer einfach ans Handeln. Konzerte sind zwar verboten, Gottesdienste aber erlaubt, dachte er sich. Wenn man das öffentliche Singen als Gebet verstehen würde, wäre es also weiterhin möglich.

Thomas. E Bauer lässt in Augsburg 24 Stunden Palestrina-Messen singen (faz.net)

Jan Brachmann: Kultur betet. FAZ, 20.11.2020

Bild: Ein Ginko biloba blüht golden unter einem Himmelskreuz auf. Aufnahme des Verfassers. Cheruskerpark, Berlin-Schöneberg, 2. November 2020

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„Wer ist eigentlich dieser Nico?“ Machiavelli in Augsburg

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Okt 072018
 

Das kurze Schreiben in italienischer Sprache, das ich letztes Wochenende in Augsburg zum Posting gab, entstand nach einem vergnüglichen Besuch im Museum der Augsburger Puppenkiste. Es lehnt sich an einen Brief Niccolò Machiavellis an, den dieser am 10. Dezember 1513 an seinen Freund Francesco Vettori richtete.

Er ist in diesem eingebildeten Marionettentheaterstück der gedachte „Francesco“, an den sich Machiavelli, der sich hier schlicht „Nico“ nennt, in seinem Sendschreiben richtet.

Wir haben es nicht versäumt, einige nahezu wörtlich zitierte Sätze aus jenem meisterhaften, funkelnden, unsterblichen Kabinettstück europäischer Prosa einzufügen, welches der auf den 10. Dezember 1513 datierte Brief Macchiavellis an Vettori für alle Menschen zu allen Zeiten darstellt; sie seien hier noch einmal in originaler Schreibung angeführt:

Venuta la sera, mi ritorno a casa ed entro nel mio scrittoio; e in sull’uscio mi spoglio quella veste cotidiana, piena di fango e di loto, e mi metto panni reali e curiali; e rivestito condecentemente, entro nelle antique corti delli antiqui huomini, dove, da loro ricevuto amorevolmente, mi pasco di quel cibo che solum è mio e ch’io nacqui per lui; dove io non mi vergogno parlare con loro e domandarli della ragione delle loro azioni; e quelli per loro humanità mi rispondono; e non sento per quattro hore di tempo alcuna noia, sdimentico ogni affanno, non temo la povertà, non mi sbigottisce la morte: tutto mi transferisco in loro.

Was die Realia unserer kleinen philologischen Belustigung angeht, so geben wir hier zu Protokoll:

Die Gespräche des päpstlichen Legaten Cajetan mit Luther fanden tatsächlich – wie von unserem Nico behauptet – vor recht genau 500 Jahren, vom 12.-14. Oktober 1518, im Fuggerschen Stadtpalast zu Augsburg statt, nur wenige Schritte entfernt vom Hotel am Rathaus, in dem unser frei erfundener Brief Niccolòs an den fiktiven Francesco entstand.

Der Diplomat und Politiker Francesco Vettori (1474-1539) kannte Deutschland aus seiner Zeit als Florentinischer Gesandter beim Reichstag von Konstanz, dem er 1507 beiwohnte.

Niccolò Machiavelli lebte von 1469 bis 1527; Martin Luther von 1483 bis 1546, Kardinal Tommaso Cajetan von 1469-1534. Vettori, Machiavelli, Luther, Cajetan waren also Zeitgenossen, so unterschiedlich nach Denkart, Lebensstil und historischer Bedeutung sie auch sonst gewesen sein mögen!

Aus all dem ergab sich für mich die reizvolle Möglichkeit des interesselosen Spieles mit denkmöglichen Gestalten und Figuren – ganz im Geist der Augsburger Puppenkiste, die ich wenige Augenblicke zuvor hatte erleben dürfen.

Bild:
Don Quijote und Sancho Pansa. Originale Puppen aus dem Schubert Theater in Wien; Theaterpremiere von „Don Quijote“ 2012; ausgestellt und gesehen im Augsburger Puppentheatermuseum „die Kiste“ am 28.09.2018 beim Altstephanertreffen, dem der hier Schreibende in Fleisch und Blut beiwohnen durfte.

Brief zitiert nach:
https://it.wikisource.org/wiki/Lettere_(Machiavelli)/Lettera_XI_a_Francesco_Vettori

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Lettera augustana, ossia: „odio tutti gli dei“

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Sep 292018
 


Augusta, a Michele a. d. MMXVIII

Caro Francesco,

grazie mille per le due lettere spedite da Lucca e Genova nel mese di agosto 18, che mi sono state consegnate poche settimane dopo che le avevi scritte. Ti scrivo oggi da Augusta, città sontuosa nel sud della Germania, la città dove ti sentiresti sicuramente a tuo agio. Underm drebbele, Sotto le scale, è così che si chiama in lingua l’ostello dove ho trovato un letto per la notte e ti sto rivolgendo la parola. Fino a pochi anni fa, questo albergo era considerato il nido dei Gesuiti, qui nella città della Confessio Augustana!

A proposito, Martin Lutero si è incontrato in questa città 500 anni fa per avviare un ultimo tentativo di riconciliazione con il legato pontificio Caetano. Probabilmente ha visto esattamente la stessa vista del portico del municipio di Augusta che ho goduto ieri a mezzanotte. Ti allego un disegno eseguito propria manu.

Ieri ho parlato a lungo con i compagni di una volta. Ci siamo riuniti alla Cassetta (in lingua: la Kiste), ovvero il teatro delle marionette di Augusta. Ho intrattenuto vere conversazioni alla scietamtiscia con i compagni bavaresi, che goduria spirituale! Il nostro bilancio: Non tutto era meglio in passato, ma era meglio di quanto pensassimo all’epoca.

Come sai, mi pasco di quel cibo che sento tutto mio; uso sempre la sera per dialogare con i poeti e pensatori dei tempi antichi, dove io non mi vergogno parlare con loro e domandarli della ragione delle loro azioni; e quelli per loro umanità mi rispondono. Quando sono tornato all’ostello, ho letto di nuovo il Prometeo incatenato di Eschilo.

Ieri sera era diverso da tutte le sere precedenti: come un colpo di martello, il verso 975 mi ha letteralmente incatenato. Prometeo dice ad Ermes, in un tono non da pace, ma da guerra:

„Per farla breve: io odio tutti gli dei, proprio tutti.“

Odio di Dio, odio dell’uomo verso Dio, odio di Dio verso l’uomo! Un tema antico della teologia cristiana! Anche il monaco agostiniano Lutero a volte odiava Dio, come tu sai e come egli stesso ammette nelle sue lettere. In questi momenti lui odiava se stesso, senza l’ombra di dubbio, e credeva che Dio lo odiasse. L’odio, tema antico della tragedia attica, tema antico della Bibbia! Anche Dio a volte odiava gli uomini. Come tu sai benissimo, Mosè dovette intervenire presso Dio con buone parole a favore del popolo, altrimenti Dio avrebbe distrutto l’umanità dope quelle esecrabili feste celebrate al vitello d’oro.

Caro amico, è un’esperienza a dir poco ispiratrice, si chiude così il cerchio di 500 anni intorno a noi, 500 anni da quando Lutero e Caetan intrapresero quel tentativo di riconciliazione. Devo chiudere in fretta.

Ti terrò aggiornato sui fattti del mio viaggio. Speriamo di fare un passo in avanti, verso l’alto, qui, proprio sotto le scale del municipio di Augusta!

Salutami i compagni di allora, in particolare Pino, Vito e Beppe.

Semper tuus

Nico

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Macht des Wassers

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Jul 242018
 

„Der Lechablaß von Bairischer Seiten her.“ Diese kolorierte Umrissradierung Johann Michael Freys zeigt die ungestüm tosende Macht des Flusses Lech von der rechten, der bayerischen Seite her. Damals, also um das Jahr 1795, wurden an dieser Stelle jedes Jahr etwa 3000 Flöße den Lech hinabgelassen. Sie trieben weiter Richtung Donau. Ich sah die Grafik soeben in einer Ausstellung im Schaezlerpalais.

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„Und redete in der Wüste“, oder: Kann denn ein Buch mit „Und“ anfangen?

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Jun 232016
 

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„Fangen Sie nie einen selbständigen Hauptsatz  mit „und“ an! Auch ein Cicero, ein Caesar haben niemals einen Hauptsatz mit Et oder ac oder atque angefangen!“

Dies war die Ermahnung unseres hochverdienten Dr. Weinold, der uns am Gymnasium St. Stephan in lateinischer und deutscher Stilkunde unterwies.

Und – eine aneinanderreihende Konjunktion. Im guten deutschen Stil begann man keinen Hauptsatz nach einem Punkt mit „Und“.

Und um so weniger beginnt man ein ganzes Buch mit „und“, nicht wahr? Das wäre schlechter Stil, nicht wahr?

Und doch – drei der wichtigsten Bücher des Judentums beginnen mit der aneinanderreihenden Konjunktion ו (gesprochen ve), also  „und“: das zweite, das dritte und das vierte Buch Mose beginnen mit einem „und“ –

וְאֵ֗לֶּה שְׁמֹות֙ „Und das sind die Namen“
וַיִּקְרָ֖א „Und er rief“
וַיְדַבֵּ֨ר יְהוָ֧ה „Und redete in der Wüste“

Keine der geläufigen Übersetzungen, so genau sie auch sein mögen, lassen die drei mittleren der 5 Bücher Mosis mit einem Und beginnen, weder die Septuaginta noch die heutigen Bibeln des Christentums in englischer, italienischer oder irgendeiner anderen modernen Sprache.

Warum ist das so? Was fehlt? Mit welcher Berechtigung wird aus dem kanonischen Text ein „Und“ herausgenommen?

Ich befragte einmal hierzu einen Rabbiner in meinem Bekanntenkreis. Wir kamen erstaunt überein: „Jawohl, das Und bleibt unübersetzt.“ Aber warum? Wir fanden keine Antwort.

Eigentlich heißt es ja beim Umgang mit kanonischen Texten „nichts wegnehmen / nichts hinzufügen“, etwa im 5. Buch Mosis 4,2 oder 13,1. „Kein Jota soll davon weggenommen werden“, so sagt es auch Jesus (Matthäus 5,18) mit Bezug auf Moses.

Ganz ähnlich im allerletzten Kapitel im allerletzten Buch der christlichen Bibel, der Apokalypse (Offb 22,19).

Vermutlich drückt sich im aneinanderreihenden „und“ eine gänzlich andere Weltsicht aus als die, wie sie etwa das klassische Stilideal eines Cicero oder eines Caesar oder eines bayerischen Gymnasialprofessors vertreten mag.

Bild: und in der Wüste wachsen die Blüten … die Grauwacke im Park am Gleisdreieck am heutigen Tage.

 

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Entschuldung durch Inflation oder Schuldenschnitt für einzelne Länder?

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Sep 142012
 

1535 verbrannte Anton Fugger, der reichste Kaufmann der Vaterstadt Leopold Mozarts, also Augsburgs, demonstrativ den Schuldbrief Kaiser Karls des Fünften. Der Habsburger war zahlungsunfähig geworden, weil er sich wieder einmal zu viel Geld, diesmal  für einen Feldzug in Tunesien geliehen hatte. Was hätte Fugger tun sollen? Hätte er dem Kaiser die Schuld durch Ausgabe neuer Schuldtitel strecken können, obwohl er wusste, dass Karl V. sie ihm zu Lebzeiten nie würde zurückzahlen können? Dies wäre unklug gewesen. Fugger tat das für ihn selbst, für seine Familie und seine bis heute zahlreichen Nachkommen Beste: er strich die Schuld durch Verbrennen des Schuldbriefs und erhielt im Gegenzug stärkeren politischen Einfluss, weitere „Regale“, also kaiserliche Bergbau- und Handelsprivilegien.

Schuldenerlass im Gegenzug für Freihandel, Bergbaurechte, politischen Einfluss! Das ist Weisheit. Das Fuggersche Vermögen besteht heute noch, wovon ich mich bei gelegentlichen Besuchen in meiner Vaterstadt überzeugen kann. Ein überschuldeter Vorfahr Wolfgang Amadeus Mozarts, sein Urgroßvater Franz Mozart profitierte übrigens ebenfalls von dem legendären Reichtum der Fugger: Er lebte einige Jahre in der Fuggerei, der von den Fuggern gegründeten Stiftung für soziale Grundsicherung, ehe er sich durch eigener Hände Arbeit wieder daraus befreien konnte.

Guter, profunder, nachdenklich stimmender Artikel von Ulrich Hege und Harald Hau, beide Professoren für Finanzwirtschaft, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung heute auf Seite 14!

Sie sagen: Es ist besser, einen radikalen, gleichwohl geordneten  Schuldenschnitt mit starken Verlusten insbesondere für die Finanzinvestoren durchzuführen statt durch Vergemeinschaftung der Schulden, wie sie die unbegrenzten Anleihenkäufe der EZB darstellen, einen unbeherrschbaren Zyklus aus Geldentwertung, Staatsfinanzierung durch die Notenpresse und politischer Erpressbarkeit einzuleiten.

Bild: Fuggerei in Augsburg

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Augsburg verstehen

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Nov 152011
 

Die Vaterstadt, heut find ich sie wieder! Den größten Teil meiner Jugend wohnten wir im Augsburger Stadtteil Hochzoll-Nord. Gut! In der Tat: Auf meine Augsburger Herkunft bin ich stolz wie auf Bert Brecht und Leopold Mozart, auf Rudolf Diesel und Jakob Fugger. Stolz? Ist Stolz ein schwieriges Wort? Nein. Stolz heißt, dass ich weiß und hochschätze, was in Augsburg an Gutem geschieht und was die Stadt mir an Gutem geschenkt hat! Heute bringt die Süddeutsche Zeitung unter dem Titel „Von wegen Restschule“ auf ihrer Seite 6 eine gedruckte Lobeshymne auf meinen alten Heimatbezirk Augsburg-Hochzoll. Ich kenne alle genannten Schul- und Ortsnamen persönlich, wohnte einen Steinwurf von der Werner-von-Siemens-Grundschule entfernt. Und in den Lobpreis all der Schulrektoren, Bäckermeister, Lehrlinge und ehrenamtlichen Mentoren, von denen ich in Augsburg Hunderte und Aberhunderte erlebt habe, kann ich nur einstimmen, getreu jenen lärmend-unartigen Ghettokids aus dem Faust, die da grölen:

Mein Augsburg lob‘ ich mir!
Es ist ein klein Berlin und bildet seine Leute …

Wahrhaftig: Augsburg bildet seine Kinder, einerlei ob sie nun Fethulla, Serkan, Ivan oder Resa heißen. Darin kommen alle Beobachter überein, die einen Vergleich zwischen anderen Städten und Augsburg anstellen können. Ich traf beispielsweise bei der Wahlkampfveranstaltung Klaus Wowereits am Kreuzberger Mehringplatz am 26.08.2011 einen Augsburger Berufsschullehrer, einen erklärten SPD-Unterstützer, mit dem ich sofort ins Gespräch kam und der mir alle diese Dinge, die ich heute in diesem Post schreibe, mehr oder minder ins Blog einflüstert. Unser heutiges Bild zeigt einen Schnappschuss von jener Veranstaltung.

Ein ganz entscheidender Standortvorteil in Augsburg sind aus der Sicht der Jugendlichen vor allem die vielen, vielen tüchtigen und ehrlichen Lehrer und Meister, die vielen Leiter der kleinen und mittelgroßen Ausbildungsbetriebe. Zwei von ihnen werden durch den Journalisten Johann Osel vorgestellt: Gerhard Steiner, Rektor der Hochzoller Werner-von-Siemens-Mittelschule, und Hansjörg Knoll, Bäckermeister, der in der Schulküche bäckt. Die enge Verzahnung von Hauptschule und Handwerksbetrieben hilft dabei, dass jedes Kind das beste persönliche Potenzial entfalten kann. Und so kommt es, dass ein Schüler namens Serkan oder Josef an bayerischen Hauptschulen nachweislich mindestens ebenso gut oder sogar besser abschneidet, besser bäckt und schreibt, rechnet und redet, mehr beruflichen und persönlichen Erfolg hat als ein Gymnasiast namens Serkan oder Joseph an Gymnasien anderer Städte. Noch einmal: Klare, fleißige, „kantige“ redliche männliche Vorbilder wie etwa Gerhard Steiner und Hansjörg Knoll habe ich damals als Jugendlicher zu Hunderten in Augsburg erlebt.

Noch etwas: Es wird von den Meistern und Bäckern kein geziertes Hochdeutsch, sondern gepflegtes Schwäbisch geschwätzt.  Na und? Dem Teig tut’s nicht weh.

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Mrz 082011
 

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Wir müssen uns auch  mit spießigen Themen wie Hundekot im Hauseingang, blutige Drogenspritzen auf Spielplätzen, Vermüllung des Görlitzer Parks, Graffitis wie „Deutschland verrecke!“, Kotze auf dem Bürgersteig und Pisse an Polizeiautos beschäftigen! So oder so ähnlich etwa summte und brummte es am Wochenende bei der Programmdebatte einer bekannten unspießig-bürgerlichen Partei in Berlin, deren Spitzenkandidatin sich dabei als durchaus lernfähig, aber auch durchsetzungsstark erwies.

Drogenbesteck, Kotze, Kacke, Pisse, Graffiti, Vermüllung  – diese Probleme haben alle Weltstädte von Istanbul über New York bis hin zu Berlin und Augsburg.

Übrigens: Augsburg hat mit großer Mühe die gesamte Innenstadt für den Fußwanderer begehbar und für den Radfahrer erfahrbar gemacht. Klare, deutliche, überall sichtbare Wegweisungen leiten den Touristen ökologisch und sanft zu verschiedenen Plätzen wie etwa dem Bert-Brecht-Haus. Man fühlt sich geleitet und behütet. Die Stadt ist sauber und blitzt überall.

So etwas brauchen wir in Kreuzberg auch! Ach hätten wir so etwas in Kreuzberg doch auch!

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Wäre Wolfgang Amadeus Mozart je erfolgreicher Komponist geworden … …

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Jan 032011
 

31122010224.jpg … wenn sein Urgroßvater Franz Mozart nach dem heutigen Hartz-IV-System versorgt worden wäre? Der aktuelle SPIEGEL bringt ab Seite 16 ein schönes Kontrastmittel zu unserer gestern entwickelten Röntgenaufnahme der Fuggerei in Augsburg, in deren bergende Arme sich unbescholtene katholische Bürger der Stadt samt Familie begeben konnten, ehe sie wieder auf eigenen Füßen standen.

Das Verhältnis des Sozialhilfeempfängers und des Stifters der Fuggerei nutzte und frommte beiden, es erwies sich als vertraglich festgelegte, kündbare Vereinbarung.

Demgegenüber ist das Verhältnis des heutigen Sozialhilfeempfängers zum Staate ein gesetzlich verbriefter Anspruch,  über dessen konkrete Ausgestaltung sich der Staat und der Leistungsempfänger sehr oft vor Gericht auseinandersetzen. Der Staat ist der „Anspruchsgegner“ des Fürsorge-Mündels, der möglichst weit in die Haftung für das Glück des Mündels genommen wird.

Politische Parteien treten als Dritte im Streit der beiden Seiten hinzu.  Eine umfangreiche Hartz-Industrie lebt von der Verstetigung der Notlage. Die linken Parteien arbeiten systematisch daran, das Leben in Hartz IV so angenehm und so erträglich wie möglich zu gestalten.  Dabei legen sie es darauf an, der Bundesregierung nachzuweisen, dass sie bei den Berechnungen der Regelsätze unsauber oder fehlerhaft gearbeitet habe. Und selbstverständlich lässt es sich in Hunderttausenden Fällen nachweisen, dass die Sätze nicht bedarfsdeckend sind. Man braucht nur einen findigen Anwalt.

Das heute bestehende System lädt zu Missbrauch und Betrug ein. Das System der Fugger hingegen beruhte auf Redlichkeit und auch auf scharfer sozialer Kontrolle innerhalb einer überschaubaren Gemeinde. Zu Fuggers Zeiten drohte echte Armut, echter sozialer Abstieg, echte Obdachlosigkeit. So ergriffen viele Verarmte den rettenden Strohhalm der mildtätigen Stiftung.

Heute dagegen muss in Deutschland niemand hungern, niemand ist von Obdachlosigkeit bedroht, niemand ist von den grundlegenden Versorgungssystemen ausgeschlossen nur weil er keinem Erwerb nachgeht. Es fehlt das Schreckgespenst echter Armut, wie es sich beispielsweise in Libanon, Ägypten, Côte d’Ivoire, in der Türkei, in China, in Russland oder selbst in den USA findet.

Es fehlt in Deutschland der Anreiz, das Hartz-IV-System zu verlassen. Gestritten wird meist über die unterschiedliche Ausgestaltung von Ansprüchen.

Ich bin überzeugt: Franz Mozart hätte den Weg aus der Fuggerei heraus nicht mehr geschafft, wenn damals das SGB gegolten hätte. Sein Urenkel Wolfgang hätte sich nicht die Finger krummgeschrieben, um den Lebensunterhalt durch Musik zu bestreiten. Die Zauberflöte wäre nicht geschrieben worden. All diese ach so „unsterblichen“ Werke sind ja aus der Not entstanden, aus der Nötigung, durch irgendetwas Geld zu verdienen.

Wir müssen uns die Mozarts trotz fehlender sozialstaatlicher Absicherung als glückliche Menschen vorstellen.

 Posted by at 23:06
Aug 112009
 

Den dreißigsten Juli, früh neun Uhr stahl ich mich aus dem heimischen Berlin weg, weil das Gefühl einer unauflöslichen Verknüpfung mich sonst nicht fortgelassen hätte. Manche Tage blieb dieses Blog verwaist. Doch werde ich nunmehr, soeben nach Berlin zurückgekehrt, den bislang vernachlässigten Berichtspflichten eifrig nachkommen und euch durch allerlei Denk- und Merkwürdiges zu unterhalten suchen. Das flache Land um Berlin herum, welches dem Auge erst beim näheren Hinsehen manche Anregungen bietet – hier ein aufsteigender Habicht, dort ein stillgelegtes Mühlenwerk -, ließen wir bald hinter uns. Brandenburg, Sachsen, Thüringen stiegen nach und nach ins Bewaldet-Bergichte auf. Wir durchquerten das Land rasch von Nord nach Süd.

Unsere erste Etappe war Augsburg. Nach längerem Fortbleiben bot sich die Vaterstadt dem Auge des Heimkehrers mit manchen überraschenden Einzelheiten dar.

NEMO OTIOSUS las ich auf dem Deckenmedaillon des Goldenen Saales im Rathaus: „Niemand sei müßig!“. Der Goldene Saal bietet eine deutliche Bildersprache dessen an, was die bürgerliche Gesellschaft dieser Stadt einst zusammenhielt: Ein Kanon an Grundhaltungen, das Gefühl einer unleugbaren Zusammengehörigkeit und das unausgesetzte Bemühen, an einem gemeinsamen Werk zu schaffen. Klare, einprägsame Botschaften, allegorisch verschlüsselt, aber eben darum auch über das Individuum hinausgreifend.

„Niemand gebe sich dem Müßiggang hin!“ Diese unbedingte Hochschätzung der Vita activa scheint  mir ein Grundzug der erfolgreichen Handelsstädte der frühen Neuzeit zu sein: Venedig, Augsburg, Antwerpen, Brügge, Krakau: Mit allen stand Augsburg in regem Austausch, diente als Umschlagplatz und Börse.

Wenn es keine Arbeit gab, dann wanderte man aus oder man suchte sich welche. Man bewegte sich!

Und genau unter diesem Motto stand auch die Aktion „Deutschland bewegt sich“.  Dieses Foto entstand bei den Aufbauarbeiten, die ich am 31. Juli beobachtete.

 Posted by at 00:00