Lob der Barfüßer

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Jul 152023
 

Hier war einmal ein Kirchenschiff der Barfüßerkirche – heute ein Innenhof, frei zugänglich auch für Tauben, unter freiem Himmel

Μὴ κτήσησθε πήραν εἰς ὁδὸν μηδὲ δύο χιτῶνας μηδὲ ὑποδήματα μηδὲ ῥάβδον – „Nehmt weder Ranzen noch zwei Obergewänder, auch weder Schuhe noch Wanderstab mit“, auf dieses Gebot Jesu (hier aus Mt 10 zitiert), leichten Sinnes und ohne jede überflüssige Last barfuß zu gehen, bezogen sich die „Barfüßer“, also Angehörige jener Ordensgemeinschaften, die auch in Augsburg ihre eigene Kirche errichteten – die „Barfüßerkirche“, an der ich nach ungezählten Schultagen auf die Straßenbahnlinie 1 wartete (statt die 6 km nachhause barfuß zurückzulegen).

Hier in der Barfüßerkirche wurde übrigens Bert Brecht getauft, hier besuchte er den Religionsunterricht, hier wurde er konfirmiert. Eine Erklärtafel brachte bei unserem Besuch dieser Kirche am vergangenen Sonntag die Einzelheiten und zeigte uns den jungen Brecht mit Ranzen und gepflegtem Schuhwerk:

Die Kirche wurde im Februar 1944 durch verheerende Bombardierungen völlig zerstört, heute ist sie mit ergreifender Dürftigkeit, fast ohne Schmuck, beraubt, ein Denkmal der Obdachlosigkeit, mit offenem Gewölbe als eine Kirche der Armut wieder hergerichtet; von der ursprünglichen Ausstattung ist alles verloren gegangen. Im Altarraum sahen wir zwei Mal Jesus, beide Male unbeschuht, ohne Obergewand, ohne Ranzen, ohne Wanderstab, beraubt und schmucklos – und in hebräischen goldenen Lettern das Tetragramm. Das heute zu sehende „Christkind“ schuf übrigens Georg Petel.

So wenig braucht es, um so viel zu sagen.

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Lob des Barfußgehens

 Barfuß, Freude, Natur-Park Schöneberger Südgelände, Orthopädie  Kommentare deaktiviert für Lob des Barfußgehens
Jul 152023
 

Nach einer kleineren Nachmittagsrast unternahm ich am heutigen Sonnabend noch einen längeren Streifzug durch den Naturpark Schöneberger Südgelände – natürlich teils ganz barfuß, teils mit meinen minimalistischen neuartigen Sockenschuhen. Es tut mir einfach gut, mit den Füßen die Unebenheiten eines natürlichen Boden zu ertasten, die Weichheit des Grases zu genießen, die kleinen Piekser von Kies und Steinen wegzustecken. Alle Nervenpunkte werden dadurch belebt, die trägen Muskeln in Füßen und Beinen werden umfassender gekräftigt, die Heilung nach kleineren Verletzungen wird beschleunigt. Erworbene Fehlstellungen der Füße und der Beine werden durch reichliches Barfußgehen sachte korrigiert. 

Vor einigen Wochen erzählte mir ein Bekannter, er habe nach jahrelang erduldeten Beschwerden, unzähligen Therapieversuchen durch Medikamente, nach teuren orthopädischen Maßnahmen seine chronischen Schmerzen an den Knieen im wesentlichen nur durch das häufige und lang ausgedehnte Barfußgehen beseitigt, zum Teil unterstützt durch „Barfußschuhe“, die er insbesondere zur Wahrung des „anständigen Auftretens“ im Berufsleben sowie bei schmutzigem Untergrund verwende.

Bild: „Der Mensch geht – das Rad rollt“ – ein neues Wandgemälde, erstmals gesehen heute in der Feiluftgalerie Tälchenweg im Natur-Park Schöneberger Südgelände

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An der Floßlände des Erinnerns

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Jul 092023
 

Ewig sich verjüngender, ewig neu schimmernder, üppig wallender Fluss, du treibst von weither, seit jeher die Geschicke dieser Stadt, und hier, wo unser Blick hinunter schweift auf die buchtartig sich erweiternden Kiesbänke, über denen Erlen, Weiden und Pappeln ihre gewaltigen Kronen wiegen, hat man die Reste eines Flößereihafens gefunden, „zu dem ein Seitenarm des Lechs oder ein von dort abgeleiteter Kanal geführt haben dürfte“.

Floßlände nennen es heute die Einheimischen hier, sie haben den Ort zu einem behaglichen Stelldichein ausgebaut. Weit hinaus ragt eine bühnenartig vorkragende Konstruktion über den Fluss, auf Betonquadern saßen gestern abend die Leute Trepp an Trepp bis zum Fluss hinab. Hier ließen wir den ersten Tag unseres Augsburg-Aufenthaltes ausklingen, schwelgten in Erinnerungen an Kindheit und Jugend, woben des Netz der Erzählungen über das wunderliche Bergwerk des Lebens und des Sterbens.

Zitat: Martin Kluger: Wasserbau und Wasserkraft, Trinkwasser und Brunnenkunst in Augsburg. Die historische Augsburger Wasserwirtschaft und ihre Denkmäler im europaweiten Vergleich. context Verlag, Augsburg 2013, S. 12

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Überwachsener Weg

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Jul 022023
 

Der Weg in unsrem Park ist überwachsen
von frischem Grün und krautig wucherndem
Gebüsch, so daß wir tastend gingen, das eine
an des andern Hand, und dankbar dafür
daß wir dies erleben durften, trotz allem
was da draußen tobt und brandet,
schritten wir hinein in eines weißen Hauses
Frieden, das auf uns wartete und uns empfing
mit Zeilen, die auf Birkenrinde rot geschrieben
waren, und die wir einst als Kinder hörten,
und die wir doch erst jetzt verstanden,
als wir erahnten, dass es so nicht wieder sein würde,
nie wieder …:

[…] Die So-geliebte, daß aus einer Leier
mehr Klage kam als je aus Klagefrauen;
daß eine Welt aus Klage ward, in der
alles noch einmal da war: Wald und Tal
und Weg und Ortschaft, Feld und Fluß und Tier;
und daß um diese Klage-Welt, ganz so
wie um die andre Erde, eine Sonne
und ein gestirnter stiller Himmel ging,
ein Klage-Himmel mit entstellten Sternen -:
Diese So-geliebte. […]

Zitat aus: Der ewige Brunnen. Gesammelt und herausgegeben von Dirk von Petersdorff. C.H. Beck, München 2023, S. 451

Foto: Natur-Park Schöneberger Südgelände, 30. Juli 2023




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„Derrière chaque mère…“

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Jul 012023
 

Derrière chaque mère, aussi dévouée et heureuse soit-elle, il y une femme avec ses sentiments, ses désirs, ses rêves, ses frustrations, ses inquiétudes et ses peurs.“ Die seit 2006 in Berlin lebende Fotografin Séverine Lenglet hat recht, – und dennoch ist es gut, dass sie auf etwas häufig Verkanntes hinweist: „Hinter jeder Mutter, so hingebungsvoll und glücklich sie auch sein mag, steht eine Frau mit ihren Gefühlen, Wünschen, Träumen, Frustrationen, Sorgen und Ängsten.“

Am 29. Juni verbrachte ich einige gute, inspirierende Stunden im Centre Marc Bloch, und ich nutzte meinen Besuch dort, um auch die schöne Ausstellung mit 10 sehr unterschiedlichen Bildern von Berliner Müttern zu beschauen – und folglich auch 10 unterschiedlichen kulturellen Mutterbildern.

Aber ist das nicht etwas Selbstverständliches, was Lenglet mit ihren einfühlsamen Bildern und den erläuternden Sätzen umreißt? Ich meine – nein! Man braucht diesen oben angeführten Satz nur einmal über die Väter zu sagen: „Derrière chaque père, aussi dévoué et heureux soit-il, il y a un homme avec ses sentiments, ses désirs, ses rêves, ses frustrations, ses inquiétudes et ses peurs„, um sofort zu erkennen, wie unterschiedlich das Gewicht der Mutterrolle und das der Vaterrolle auf Frauen und Männer einwirkt: „Hinter jedem Vater, so hingebungsvoll und glücklich er auch sein mag, steht ein Mann mit seinen Gefühlen, Wünschen, Träumen, Frustrationen, Sorgen und Ängsten.“

So einen Satz würde man über die Väter nicht sagen. Oder irre ich mich?

Wir Männer stehen nämlich in aller Regel nicht hinter der Vaterrolle zurück, wir stecken nicht zurück, wir sind nicht hinter der Vaterrolle versteckt, wie allzu häufig die Frauen hinter ihrer Mutterrolle versteckt oder verdeckt sind. Das Vaterwerden hat ganz selten jene tief ins Leben eingreifende Verwandlungskraft, entfaltet nicht jene Wucht, wie es das Mutterwerden in den allermeisten Fällen für die Frauen tut.

Beim Betrachten der zehn, bei aller Strenge doch sehr sprechenden Mutterbilder fällt mir auf, jenseits aller Unterschiedlichkeit, wie sehr die Mütter doch in Beziehung zu ihren Kindern stehen; nie sind die Mütter von den Kindern abgewandt, die Kinder bleiben alle stets bezogen auf ihre Mutter. Es ist leibliche Nähe, Berührung, Schutz, Fürsorge, die überdeutlich aus allen diesen Mutter-Kind-Bildern hervorstrahlen. Es ist ein „inniges“ Band, das ausweislich dieser Fotos Mütter und Kinder aneinander knüpft.

Ich stelle mir gerade vor, wie anders doch eine Fotoausstellung über Berliner Väter des Jahres 2023 aussähe.

La série « Femmes » est exposée au Centre Marc Bloch (Friedrichstraße 191 – 10117 Berlin) jusqu’à l’été 2023. 

https://cmb.hu-berlin.de/zentrum/neuigkeit/photographier-les-femmes-podcast-avec-severine-lenglet

 Posted by at 16:51