Großer Aufgalopp der Selbstgerechtigkeit der deutschen Enkelinnen und Enkel, meiner lieben schreibenden Landsleute, anlässlich des Prozesses gegen den damaligen Wachmann Oskar Gröning! Er war Wachmann und Schreibkraft in Auschwitz, „der Buchhalter des Todes“, wie eine sich an allem Entsetzlichen liebend gern weidende Presse genüsslich ausschlachtet. Als wären sie, die Schreibenden, die Urteilenden dabei gewesen! Als hätten sie in jedem Fall anders gehandelt, so wird hier von viel später Geborenen über einen Menschen geurteilt, den man nur aus der Zeitung und aus den Medien kennt.
„Seine Reue nehme ich ich ihm nicht ab“, „Frau Eva Kor hat ihm verziehen. Subjektiv achtbar! Aber es war objektiv und politisch falsch …“, „Jetzt verstehen wir endlich, dass die ganz normalen deutschen Männer zu Massenmördern wurden“ usw. usw.
Die meisten deutschen Journalistinnen und Journalisten überbieten sich darin, über Oskar Gröning den Stab zu brechen. Dabei wird ihm nicht aktives Töten, sondern Beihilfe zum vielfachen Massenmord vorgeworfen, ohne dass ihm ein „individueller Tatbeitrag nachgewiesen werden muss“, so die aktuelle Rechtslage.
Wieviele Massenmörder gab es damals in Europa? Die Holocaust-Forschung, ein blühender Forschungszweig, spricht von etwa 100.000-200.000 Menschen, die aktiv an den im deutschen Namen begangenen Massenmorden beteiligt waren. Viele der am Holocaust beteiligten Täter waren Deutsche, aber viele dieser Massenmörder gehörten nachweislich vielen anderen Nationalitäten an.
Aus allen europäischen Nationen stammten in den Jahren 1917-1956 viele Massenmörder, also Menschen, die aktiv einen Tatbeitrag zur planmäßigen gezielten Ermordung vieler Menschen aus bestimmten Gruppen (außerhalb von Kriegshandlungen) leisteten. Ich bin überzeugt: Es wäre nach 1945 nach dem Tod Hitlers bzw. 1953 nach dem Tod Stalins unmöglich und technisch undurchführbar gewesen, sie alle aufzuspüren und vor Gericht zu stellen.
Ich halte es vielmehr für weitgehend richtig, wie es in Deutschland nach 1945 (nicht dagegen in Italien oder in Russland) gehandhabt wurde, dass – beginnend bei den Nürnberger Prozessen – exemplarisch an einigen wenigen obersten Führern und Spitzenleuten das ganze Ausmaß des Unrechts und des Schreckens verhandelt wurde und der ganze überwiegende Rest der quälenden Aufarbeitung nach und nach durch die Zivilgesellschaft übernommen wurde.
Ich sprach vor Tagen mit einem jüngeren Ungarn über den Kasus Gröning, der dieser Auffassung entschieden widersprach. Ich warf mich ihm gegenüber darauf vehement für Eva Kors verzeihende Geste ins Zeug. „Gröning hat bekannt – er hat bereut – er war durch sein Wissen, seine Scham bestraft genug. Nebenbei: Das Judentum lehrt seit Jahrtausenden die Kunst und die Gunst des Verzeihens! Wir sollten diese großartige Haltung dankbar annehmen!“
Verzeihen und Vergeben heißt, dass sowohl der Geschädigte wie auch der Schädiger die Schuld anerkennen, dass der Schädiger aktiv bekennt und öffentlich bereut – und dass dann der Geschädigte ihm die Reue „abnimmt“, ihm die Schuld (die ohnehin nicht wiedergutzumachen wäre) ohne Strafe und ohne Rache erlässt.
Der Jude Jesus sagt es – ganz aus dem Geist des Judentums schöpfend – so: „Wem ihr [Menschen in meiner Nachfolge] die Verfehlungen vergebt, dem sind sie vergeben – übersetzen wirs mal auf Französisch: Ceux à qui vous remettrez les péchés, ils leur seront remis (Johannesevangelium 20,23).
Ich glaube: Etwas Besseres kann eigentlich nicht passieren, als dass nach Anerkenntnis einer Schuld die Verzeihung und Versöhnung zwischen dem Opfer und dem Täter erfolgt.
Das Verzeihen ist übrigens auch in der Tat so etwas wie ein Schluß-Strich. Die Schuld wird vom Kerbholz ausgelöscht, man begegnet sich dann so, als „wäre das Ganze nun ein Teil der Vergangenheit“. Der Dichter sagt:
Und von all dem Schrecken schwebt ein Erinnern
Nur noch um das ungewisse Herz.
Das Kains-Mal, das Erinnerungs-Mal des ersten Brudermordes, des absoluten Zivilisationsbruches, ist etwas, was wir nach jüdischer Lehre alle auf der Stirn tragen. „Pass auf, o Mensch, erinnere dich des Kain! Weil es geschehen ist, deswegen kann es auch wieder geschehen, du bist nicht endgültig gefeit dagegen!“
GOtt selbst zog einen ersten Schlußstrich, als er Kain, den geständigen und reuigen Brudermörder, mit einem unauslöschlichen Mal versah, das wir uns als einen Strich auf der Stirn eines jeden vorstellen dürfen. Das Kains-Mal, das ist ein symbolisches „DAS WAR“ „DAS HAT ER GEMACHT“ – und – „ES IST JETZT NICHT MEHR“; es ist aber auch die Aufforderung: du, o Kain, o Mensch, du darfst JETZT und in ZUKUNFT neu anfangen!
Die maßlose Selbstgerechtigkeit derjenigen, die immer wieder unterstellen, eine derart ungeheurliche, maßlose Abfolge von schlimmsten Gewaltverbrechen mit Zehntausenden von Haupttätern und weiteren Hunderttausenden von Mithelfern (wie Gröning einer war) könne wesentlich durch die staatliche Justiz, durch das Strafrecht auch nur annähernd „aufgearbeitet“, „bewältigt“ oder gar wieder gutgemacht werden, irren sich meines Erachtens fundamental.
In jedem Fall stimme ich den anderslautenden Aussagen Eva Mozes Kors, die offenbar tief aus dem mosaischen Erbe schöpft, enthusiastisch zu, wenn sie sagt, „wir hätten sofort nach dem Krieg davon erzählen sollen, zugehen sollen aufeinander.“ Eva Mozes Kor, was für eine herrliche Reihung der Namen! Denn Mozes ist ja Moses, Moshe, wie wir ihn auch nennen …
„Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei“, sagte Kor. An Gröning gewandt sagte sie: „Ich hoffe, dass Sie und ich uns als ehemalige Gegner als Menschen begegnen können.“ Sie appellierte an Gröning, umfassend auszusagen und auch Neonazis die Wahrheit über Auschwitz zu sagen. Kor sagte, sie gebe ihre Erklärung nur in ihrem Namen ab. Kor nannte das Verzeihen einen Akt der Selbstheilung und der Selbstbefreiung.
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-04/auschwitz-prozess-holocaust-ueberlebende
Prozess gegen Oskar Gröning, „Buchhalter von Auschwitz“: Ganz normale Männer – Politik – Tagesspiegel.