Wider das Vergessen – ein Kiezspaziergang durch das Bayerische Viertel

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Mrz 242018
 

Bei kaltem Frost und strahlendem Sonnenschein warfen wir am vergangenen Samstag einen großartigen, erkenntnisreichen Blick in die Geschichte unserer Schöneberger Wohnumgebung! Geführt durch Bürgermeisterin Angelika Schöttler durchstreiften wir unseren Bezirk. An jedem dritten Samstag im Monat wird in der Regel mit der Bürgermeisterin ein neues Gebiet erkundet – sehr löblich, sehr empfehlenswert! Thema des Kiezspazierganges war dieses Mal das Bayerische Viertel.

Für die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie stellt zwar das heutige Schöneberg kein Ruhmesblatt dar, denn die Schöneberger Kohlenhandlung, in der die mutigen SPD-Politiker Annedore Leber und Julius Leber ihre konspirativen Treffen abhielten, ist in ihrem jetzigen Zustand nur noch als trauriges Denkmal für das Vergessen zu bezeichnen.

Aber es war mir um so mehr eine große Genugtuung, dass der maßgebliche Begründer des Revisionismus, der große Sozialdemokrat Eduard Bernstein, immerhin noch im Gedächtnis zumindest unserer kleinen Wandergruppe verankert wurde. Ja, wir kamen an der oben zu sehenden Gedenktafel in der Bozener Straße vorbei. Gelegenheit, dieses mutigen, unbeugsamen Theoretikers, der als einer der ersten SPD-Politiker öffentlich an den marxistischen Dogmen zweifelte, zu gedenken!

Bernsteins Grab besuchte ich übrigens am 4. Juni 2017 auf dem Friedhof an der Eisackstraße, der sich im Zuge der Auflösung befindet, umtost von der Stadtautobahn A 100, ebenfalls in Schöneberg. Dort dämmert Bernsteins Ehrengrab unter tiefschattenden Bäumen dem Ende alles Irdischen entgegen.

Die Schriftsteller Gottfried Benn und Arno Holz zählten ebenfalls zu den Schönebergern. Wir kamen an ihren ehemaligen Wohnungsadressen vorbei.

Besonders dankbar war ich dafür, dass sich endlich mein quälender Zweifel bezüglich der im Bayerischen Viertel überall ausgehängten nationalsozialistischen Verordnungen und Gesetze klärte, mit denen ab 1933 die Entrechtung, Verfolgung und Vertreibung der Schöneberger Juden juristisch abgesichert wurde. Das kann doch nicht sein! Sollten diese Gesetze und Verordnungen immer noch oder gar wieder gelten? So durchzuckt es mich immer wieder, wenn ich durch das Bayerische Viertel radle. Warum hängen diese schändlichen Unrechtsparagraphen Tag um Tag im Schöneberger Straßenraum herum? Ist es denn schon wieder so weit?

Weit gefehlt! Es handelt sich um ein Erinnerungsmahnmal, die Orte des Erinnerns, wie ja auch aus kleinen, nachträglich angehängten Täfelchen hervorgeht. Starker Tobak, nichts für empfindliche Nerven ist das; diese Erinnerungsorte wirken vermutlich re-traumatisierend für die Menschen, die jene Unmenschlichkeit der durch die Nationalsozialisten beherrschten Gesellschaft gerade hier in der Schöneberger „jüdischen Schweiz“ erleiden mussten. Auf mich entfalten offen gestanden die Täfelchen weiterhin eine nachhaltig verstörende, deprimierende Wirkung.

Insgesamt jedoch fand ich den Rundgang mit Bürgermeisterin Schöttler eine wunderbare Sache. Sie liebt ganz offensichtlich den Bezirk. Sie möchte all die schönen und weniger schönen Geschichten, die hier geschehen sind, weitererzählen und weitergeben. Und wir gerieten sogar ins persönliche Gespräch mit einem Mitwandernden, der tatsächlich ab 1952 hier am Bayerischen Platz seine Kindheit erlebt hatte. Er schilderte uns seine Erlebnisse und Erfahrungen. Wir hörten zu, lauschten, froren, nickten, fragten.

Mein Dank geht in diesem Augenblick an Frau Schöttler und alle, die uns erzählt, geführt, begleitet haben. Und an die Märzensonne! Sie wird es im Laufe der Tage schaffen. Der alte Winter wird sich ohnmächtig in seine Berge irgendwo hinter Bayern zurückziehen. Sie wird die Oberhand über den Frost behalten.

Strahle hell und warm! Im Zuhören, Lauschen, Nicken, Fragen, ja auch im Frieren entsteht allmählich das Gefühl der Zugehörigkeit, das Gefühl der Gemeinschaft. Und zuletzt erscheint, wie immer vorübergehend, wie fröstelnd und gefährdet auch immer, tatsächlich das Bewusstsein von Heimat.

https://www.berlin.de/ba-tempelhof-schoeneberg/ueber-den-bezirk/spaziergaenge/

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An den Grenzen des Bewohnten

 Historikerstreit, Karl Marx, Revisionismus  Kommentare deaktiviert für An den Grenzen des Bewohnten
Jun 042017
 

An den Grenzen der bewohnten Welt entlang wanderten wir heute, grüßten Eduard Bernstein, den Schöneberger Sozialdemokraten, der Engels noch persönlich gekannt hatte. Er glaubte an den Sozialismus, jedoch nicht an ewige Wahrheiten. Er war einer der ersten Sozialdemokraten, die Marx und Engels offen widersprachen. Er hatte den Mut, sich seines Verstandes ohne Anleitung einer Partei zu bedienen.

Der Friedhof an der Eisackstraße versinkt ins Naturhaft-Wuchernde. Ungastlich, umtost vom Lärmteppich der Stadtautobahn! Bernstein versinkt ins Vergessen. Der Vorwurf des Revisionismus sollte als Bannstrahl wirken. Doch Bernstein hatte in vielem mehr Recht als die Mehrheitler. Revisionismus ist doch Merkmal jeder echten Erkenntnis. Ein Ehrentitel!

Der Revisionismusstreit in der Arbeiterbewegung kann als Urbild des Historikerstreits des deutschen Feuilletons, des Positivismusstreits in der deutschen Soziologie gelten.

Als neueste Auflage dieser Scheindebatten mag der Kampf gegen den Begriff der Leitkultur gelten. In allen vier genannten Debatten wurde und wird gegen Evidenzen gekämpft im Namen einer anschauungslosen, gegen kritische Rückfragen abgedichteten Grundüberzeugung, die Züge einer Glaubenslehre angenommen hat.

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Which event ignited WW II – welches Ereignis entzündete den 2. Weltkrieg?

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Revisionismus, Tätervolk  Kommentare deaktiviert für Which event ignited WW II – welches Ereignis entzündete den 2. Weltkrieg?
Mai 062015
 

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Es lebe Franken und seine berühmten Söhne – Dirk Nowitzki, Johann Peter Uz, Adolf Dassler, Jean Paul Friedrich Richter, Rudolf Dassler, um nur einige wenige von vielen zu nennen! Ein bekannter fränkischer Hersteller nennt seinen neuesten Treter IGNITE. „Ignite, das bedeutet auf Englisch Komet, glaub ich“, beriet mich heute ein Verkäufer. „Sie werden laufen wie ein Komet!“ Ich bezweifelte dies, dass IGNITE Komet bedeute. „Jedenfalls wurde uns ein Komet gezeigt!“ Nun wie auch immer. Da kam mir der zündende Gedanke – „Ignition key, das ist der Zündschlüssel!“ Richtig – IGNITE heißt entzünden. Mit IGNITE-Schuhen läuft man also „entzündet“ wie Usain Bolt auf der steilen Bahn des Lebens! So deute ich mir auch die großen Reklameflächen des fränkischen Turnschuhherstellers!

Fragen wir heute zwei Tage vor dem 8. Mai: Welches Ereignis entzündete den 2. Weltkrieg? Entscheidet selbst!
a) „Za datę rozpoczęcia wojny przyjmuje się 1 września 1939 roku – atak Niemiec na Polskę.“ Als Datum für den Beginn des Kriegs gilt der erste September 1939 – der Angriff Deutschlands auf Polen. So würde es wohl die Mehrheit der Europäer heute sehen (hier zitieren wir beispielhaft die polnische Wikipedia).
b) „Although the Second World War began in September 1939 with the joint German-Soviet Invasion of Poland … – Obwohl der 2. Weltkrieg im September 1939 mit dem gemeinsamen deutsch-sowjetischen Einmarsch in Polen begann …“. So schreibt es Timothy Snyder in einem Nebensatz seines 2010 erschienen Buches Bloodlands – Europe between Hitler and Stalin (Epub, The Bodley Head, London, 2010, Pos. 119)
c) What happened in 1939, therefore, was simply the addition of Europe to the existing theatres of war, schreibt Norman Davies in seinem Buch Europe. A history… Der „2. Weltkrieg“ wäre demnach nur eine Ergänzung verschiedener anderer Krieg auf anderen Kriegsschauplätzen durch die Neueröffnung eines europäischen, ergänzenden „Fortsetzungskriegs“ (London 1997, S. 991).

Drei Aussagen – drei einander widersprechende Deutungen! Wer hat recht? Was ist wahr? Gibt es nur eine historische Wahrheit? Oder gibt es mehrere, Dutzende, Tausende, Millionen Wahrheiten über diesen Krieg? Die überwältigende Mehrheit der Menschen spricht sich heute dafür aus, das nationalsozialistische Deutsche Reich allein habe den 2. Weltkrieg entzündet.

Gerade pflicht-, schuld- und nationalbewusste Deutsche weisen empört alle Versuche zurück, diese überragende, gleichsam metaphysische Schuld des nationalsozialistischen Deutschen Reiches auch nur im geringsten zu historisieren, zu de-ethnifizieren, zu europäisieren, zu globalisieren oder gar einzubetten in einen Kontext von Interaktionen: „“War es doch unser Land, von dem aus alles Europäische, alle universellen Werte zunichtegemacht werden sollten“, so hat diese Germania-est-unica-origo-mali-Theorie ein bekannter protestantischer deutscher Theologe 2013 in seiner vielbeachteten Rede über Europa formuliert. Und er traf damit exakt das unterschwellig überall in Deutschland anzutreffende Grundgefühl von Furcht und Zittern, von ewiger Schuld, ewiger Scham und ewiger Schande.

Man lese hierzu, zu diesem unerschütterlichen Glauben an ewige nationale deutsche Urschuld, etwa beispielhaft ein SPIEGEL-Interview mit Timothy Snyder nach:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-79408588.html

Nun, den Vorwurf der übertriebenen Deutschenfreundlichkeit musste sich auch der Historiker Christopher Clark hier in Potsdam anhören: „Nur in Deutschland wird mir Deutschenfreundlichkeit vorgeworfen!“, berichtete er einmal verblüfft.

Dennoch – so meine ich – verdient Snyders kühne Hypothese einer wesentlichen Mitschuld der marxistisch-kommunistisch beherrschten Sowjetunion an der Entzündung des 2. Weltkrieges sorgfältige Prüfung. Der Amerikaner Snyder ist immerhin Professor für Geschichte an der renommierten Yale University – seine Bücher werden weithin gelesen, rezipiert und diskutiert, auch wenn sie uns Deutschen, uns „Söhnen und Töchtern des Tätervolkes“ mit all unserem eisenharten, unbeugsamen Sündenstolz an den Karren fahren.

Und auch der Brite Norman Davies sollte nicht gleich mit dem Vorwurf des Revisionismus überzogen werden. Er versucht nur, ein gewaltiges Ereignis wie den 2. Weltkrieg, der ja bruchlos aus einigen Vorläuferkriegen hervorging und nahtlos einige unmittelbare Nachfolgekriege erzeugte, in eine Gesamtschau zu rücken.

Snyder und Davies sind bedeutende Historiker. Aufgabe der Historiker ist es nicht, Metaphysik oder Theologie zu betreiben, sondern Ursache-Wirkungs-Ketten zu ergründen und deutend nachzuerzählen.

Unser Bild zeigt heute die Frucht fränkischer Tüchtigkeit: den Schuh Ignite. Er passt wie angegossen. Es lebe Franken mit all seinen berühmten Söhnen und Töchtern!

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Leistete auch die Sowjetunion einen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges?

 Europäischer Bürgerkrieg 1914-1945, Natur-Park Schöneberger Südgelände, Revisionismus  Kommentare deaktiviert für Leistete auch die Sowjetunion einen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges?
Apr 042015
 

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Mit Riesenschritten naht schon die nächste Gedenkfeier heran: der 8. Mai 2015. Dieses Jahr wird also Heinrich August Winkler die zentrale Gedenkrede im Deutschen Bundestag zum Ende des Zweiten Weltkrieges halten. Zum ersten Mal wird ein Historiker und kein Politiker diese Aufgabe übernehmen!

Für den Roten Platz in Moskau dürfen wir auch für diesen 9. Mai getrost wieder eine Zurschaustellung der Macht und Größe der unvergänglichen russischen Nation und einen Aufruf zur weiteren Sammlung der russischen Erde über die bestehenden Grenzen hinaus erwarten.

In der heutigen Süddeutschen Zeitung wirft Winkler schon ein Schlaglicht auf den Tenor seiner Gedanken. Wir zitieren ihn aus der heutigen Ausgabe:

Winkler sagte der Süddeutschen Zeitung, er halte die politische Instrumentalisierung von Geschichte für erschreckend. „Besonders erschreckend ist die Rehabilitierung des Hitler-Stalin-Paktes durch den russischen Präsidenten Putin.

Im Hitler-Stalin-Pakt hatten die beiden Diktatoren die Aufteilung Mitteleuropas in ihre Einflussbereiche besiegelt. Winkler, der aus seiner Kritik der russischen Politik gegenüber der Ukraine nie einen Hehl gemacht hat, wirft Putin vor, er rechtfertige indirekt die Annektion des damaligen Ostpolens und des Baltikums als „Gebot der sowjetischen Realpolitik“ – damit aber auch „den sowjetischen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“.

via 70. Jahrestag zum Ende des Zweiten Weltkriegs – Politik – Süddeutsche.de.

Eher ungewohnt dürfte es sowohl in den schuldbewussten deutschen als auch den siegesstolzen russischen Ohren klingen, wenn Winkler darlegt, auch die Sowjetunion habe einen Beitrag zur „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges geleistet“.

Diese Sicht, wonach die Sowjetunion – mit den Russen als wichtigster Nation des damaligen Vielvölkerstaates – eine Mitschuld an der Auslösung des Zweiten Weltkrieges trage, mag zutreffen oder nicht, jedenfalls wird sie keineswegs von allen westlichen Historikern und nur von wenigen Russen – wenngleich sicherlich von den meisten polnischen Historikern – geteilt; eine echte Kriegsschulddebatte, wie sie unter Historikern seit Jahrzehnten – bisher ohne Abschluss – zum Ersten Weltkrieg geführt worden ist und geführt wird, kommt zum Zweiten Weltkrieg ja gerade erst in Gang.

Im heutigen, stärker denn je nationalistischen Russland wird Winklers krude These, die Sowjetunion habe einen Beitrag zur Entfesselung des Zweiten Weltkrieges beigesteuert, als echter, ja als unerhörter, als unerträglicher Affront empfunden werden.

Man darf gespannt sein, ob Winkler den Mut haben wird, etwas Derartiges im Deutschen Bundestag vorzutragen. Winklers Behauptung einer Mitschuld der Sowjetunion an der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs wird vielleicht in Moskau postwendend als schändlicher „Geschichtsrevisionismus“ oder „faschistischer Revanchismus“ verdammt werden.

A propos: Wann begann und endete der Zweite Weltkrieg eigentlich? Ein deutsch-russisches Kind, geboren im Mai 2002, hat den hier Schreibenden schon vor geraumer Zeit belehrt, dass der Zweite Weltkrieg nicht am Karfreitag des Jahres 1939, also mit dem Überfall Italiens auf Albanien, nicht am 1. September 1939, also mit dem Überfall Deutschlands auf Polen, nicht am 17. September 1939, also mit dem Überfall der Sowjetunion auf Polen, sondern selbstverständlich am 22. Juni 1941 mit dem Überfall Deutschlands auf „Russland“ begonnen habe.

Schon über das Datum der „Entfesselung“ des Zweiten Weltkrieges besteht also zwischen den Ländern und den Generationen keine Einigkeit!

Ebenso wenig besteht Einigkeit darüber, wann der Zweite Weltkrieg eigentlich zu Ende ging – am 7. Mai 1945 um 02.41 Uhr, als Generaloberst Jodl in Reims die Gesamtkapitulation unterzeichnete, am 9. Mai 1945 um 0.16 Uhr, als in Berlin-Karlshorst die Kapitulation wiederholt wurde, – oder vielleicht doch am 2. September 1945 um 10.30 Uhr, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation durch Außenminister Shigemitsu und Generalstabschef Umezu?

Bild:
„Ja! Woher kommst du denn?
Bei welchen Heiden weiltest du,
zu wissen nicht, daß heute
der allerheiligste Karfreitag ist?“
Natürlich: Russische Birken und deutsche verkrautete Bahngleise im Sonnenschein: Karfreitagszauber auf dem Schöneberger Südpark.
Aufnahme von gestern.
Die Verse stammen aus Richard Wagners Parsifal.

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Nov 272012
 

Immer wieder höre ich derartige Sätze: „Also, wir Deutsche haben gar keinen Grund, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Zwar stimmt es, dass auch Stalin einiges auf dem Kerbholz hat, aber am schlimmsten ist und bleibt der Holocaust. Am schlimmsten sind und bleiben die Nationalsozialisten, also die Faschisten, also die Deutschen. – Die Deutschen sollen deshalb mal ganz schön stillhalten.“

Kein Zweifel: Der Holocaust wird häufig in den ehemals westlichen, außerhalb des kommunistischen Machtbereichs liegenden Ländern Europas stillschweigend als absoluter, negativer Ursprungsmythos des heutigen Europa ausgegeben. Claus Leggewie nennt ihn deshalb treffend und offenbar ganz ernst gemeint einen „negativen Gründungsmythos Europas„. Der Holocaust ist singulär und beispiellos für unser Land, beispiellos für Europa, beispiellos für die Weltgeschichte. Jeder, der die Beispiellosigkeit des Holocaust auch nur im Mindesten anzweifelt, die Einzigartigkeit des Holocaust, die Zentralität des Holocaust relativiert, sieht sich dem Verdacht der Verkleinerung, des Revisionismus, der Kontextualisierung ausgesetzt. Selbst ein Zweifel am zutiefst religiös aufgeladenen Begriff „Holocaust“ wird nicht mehr zugelassen, verfällt dem Anathema des strafrechtlich bewehrten Holocaustleugnungsverbotes.

Und die zwischen 1885 und 1908 10 Millionen durch belgisch-europäische Truppen bestialisch ermordeten, die im Dschungel verstümmelten Afrikaner im belgisch beherrschten Kongo? Ist dieses Massenverbrechen nicht ebenfalls beispiellos? Und die beispiellose Mordserie der Zwickauer Terrorzelle mit 10 Ermordeten in weniger als zehn Jahren? Hatte Bundeskanzlerin Merkel denn etwa nicht Recht, als sie diese Mordserie „beispiellos für unser Land“ nannnte?  Und die beispiellose Kreuzberger Serie an Ehrenmorden hier um die Ecke an muslimischen Frauen durch ihre eigenen Brüder und Ehemänner in den Jahren 2007 bis (vorläufig)  2012 – ist sie nicht auch einzigartig? Oder zählt ein Mordopfer der Zwickauer NS-Terrorzelle mehr als ein Mordopfer der Familien, die Ehrenmorde beauftragen? Und die Giftgasangriffe der Italiener im besetzten Abessinien – waren sie nicht auch beispiellose Verbrechen für unseren Kontinent?

Der italienische Kommunist Antonio Gramsci hat es immer wieder gelehrt: WER DIE HERRSCHAFT ÜBER DIE BEGRIFFE ERREICHT, DER WIRD AUCH DIE POLITISCHE MACHT ERRINGEN. Das ist das Streben nach der hegemonialen Herrschaft im Reich des Geistes, von dem neuerdings die Grünen Baden-Württembergs ebenfalls beseelt sind.

In diesem Sinne bemühen sich starke gesellschaftliche Kräfte, das Attribut der Einzigartigkeit für den Holocaust und für die deutschen Massenverbrechen  zu beschlagnahmen. Punktsieg für die Kriegsgegner des Deutschen Reiches von Sowjetunion bis USA, Punktsieg auch für die ehemals zahlreichen Verbündeten des Deutschen Reiches – zu denen auch – was nur wenige wissen –  bis 1942 das unbesetzte Frankreich gehörte.

Ein später Sieg der Kommunisten über die Nationalsozialisten ist es auch ganz offensichtlich, dass die beispiellosen Verbrechen der Kommunisten heute weithin unter dem Eitikett „Stalinismus“ zusammengefasst werden.

Dabei spricht alles gegen diesen personalisierten Begriff! Warum? Ein Beispiel muss her!

„Die Polen müssen vollständig vernichtet werden.“ So lautet ein gut dokumentierter handschriftlicher Befehl eines führenden sowjetrussischen Kommunisten. Klarer Fall von Stalinismus, möchte man meinen! Also – ein klarer Fall von eliminatorischem Völkermord, diesmal gerichtet auf die Ausrottung der polnischen Minderheit in der Sowjetunion! Handschriftlich erteilt im Jahr 1937 vom NKWD-Chef Nikolai Iwanowitsch Jeschow. Wie üblich wurden diese Befehle durch Massenerschießungen umgesetzt. Eine zweistellige Millionenzahl von inneren Feinden wurde von den Kommunisten aufgrund derartiger schriftlicher, gut dokumentierter Befehle in den Jahren 1917 bis 1953 in Massenerschießungen hingerichtet. Für all diese Gräuel hat sich nach 1956 zunehmend der Tarn- und Verhüllungsbegriff Stalinismus durchgesetzt und wird heute in den westlichen Ländern (nicht in den ehemals besetzten Ländern) weiterhin ohne kritische Fragen treugläubig verwendet, übrigens auch von dem hier zitierten Claus Leggewie. Die Vernichtungsbefehle gingen dabei keineswegs alle von Stalin aus, im Gegenteil, manchmal unterband Stalin sogar den Massenmord während der „Jeschowschtschina“, also der „Jeschow-Zeit“. Nicht Stalin, sondern Jeschow wurde damals als Hauptverantwortlicher der Massenmorde entmachtet und von der kommunistischen Parteiführung hingerichtet wie Hunderttausende andere auch.

Claus Leggewie fragt deshalb, ob Nationalsozialismus und Stalinismus gleichermaßen verbrecherisch seien. Im Licht der heute weitverbreiteten Holocaust-Theologie gilt: Die Frage muss verneint werden. Denn da der Holocaust durch den Nationalsozialismus verübt wurde, der Stalinismus hingegen nur durch Stalin verursacht wurde – und da der Holocaust als negativer Gründungsmythos Europas qua definitionem einzigartig ist, und da drittens Stalin – wie der Name schon sagt – Urheber der stalinistischen Verbrechen ist, trifft das damals kommunistische Land und auch die an sich gute Idee des Marxismus-Leninismus keine Schuld! Stalin ist letztlich an allem schuld. Und da Stalin tot ist, kann der Stalinismus sich nicht wiederholen, der Friede ist gesichert, der Kommunismus kann weiterhin ausprobiert werden. Der singuläre Rang des Holocaust bleibt auf alle Zeiten gesichert.

Alle Anstregungungen müssen gemäß der Holocaust-Dogmatik darauf gerichtet sein, dass der Holocaust sich nicht wiederholt. Alle anderen beispiellosen Massenverbrechen sind zweitrangig, sogar die beispiellose NSU-Mordserie der unvorstellbar grausamen Nazi-Zwickauer  Terrorzelle gewinnt ihre abscheuliche, teuflische Wucht nur deshalb, weil sie von Nazis verübt wurde. Der RAF-Terror der Baader-Meinhof-Gemeinschaft hat zwar weit mehr Morde ausgeführt und hatte im Gegensatz zur NSU-Terrorzelle ein klares Programm und eine erkennbare Propaganda, wie es sich für echte, reinrassige Terroristen geziemt,  war aber definitorisch weit weniger schlimm, da er nur von deutschen Linksterroristen, nicht von deutschen Rechts-Terroristen verübt wurde. Ganz zu schweigen von der fundamentalistischen Terrorserie der Kreuzberger Ehrenmorde. Diese Ehrenmorde sind definitorisch-dogmatisch nicht so schlimm wie die NSU-Morde, da sie weder von Nazis noch von Deutschen verübt worden sind.

Dies ist – knapp zusammengefasst – das Grundprinzip der negativen Theologie des Holocaust.

Dies ist ein stillschweigend akzeptiertes Dogma, das ich für das Gegenteil historischer Erkenntnis halte.  Es ist sogar ein fürchterlicher Unsinn, dem Teile der Soziologen und Geschichtspolitiker wie etwa Claus Leggewie aufsitzen. Schlimmer noch:  Unterschwellig durchherrscht dieses Dogma noch die heutigen Verhandlungen über die Euro-Krise: „Da die Deutschen am allerschlimmsten gehaust haben, sollen sie jetzt aber mal im Dienste des lieben Euro-Friedens schön die Füße stillhalten und zahlen.“  Diese Grundhaltung werden außer Dienst stehende Politiker wie Helmut Schmidt oder Martin Bangemann jederzeit erneut bestätigen.

Zum Weiterlesen:
Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Verlag C.H. Beck, München 2011, hier bsd. S. 14, S. 72, S. 144-151
Jörg Baberowski: Verbrannte Erde, München 2012, hier bsd. S. 350

Bild: Blick auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, den zentralen Erinnerungsort für den negativen Gründungsmythos Europas

 Posted by at 22:02
Aug 202012
 

Auch ein Vertriebener,  wie die Deutschen Thomas Mann, Albert Einstein, Bert Brecht, der Italiener Dante Alighieri e tutti quanti: Der Pole Leszek Kołakowski.

Bis 1989 genoß er Einreiseverbot nach Polen – zweifellos eine Auszeichnung, deren in Diktaturen immer nur ein kleiner Teil des Volkes zuteil wird, denn keine Diktatur kann es sich nach den Worten Bert Brechts bekanntlich leisten, ein komplett neues Volk zu wählen.

Soeben lese und übersetze ich aus der polnischen Zeitung Dziennik ein Interview mit diesem mutigen Kämpfer. Titel: Die Religion wird nicht verschwinden – religia nie zginie.

„Der geistige Weg des Professors Kołakowski führt vom Marxismus über den Revisionismus zum Christentum. Aber Kolakowski, obwohl marxistischer Philosoph, hatte herausragende Kenntnis über die Religion, [an der er sich stets faszinierte=]die ihn stets faszinierte.“

„Droga intelektualna prof. Kołakowskiego prowadzi od marksizmu przez rewizjonizm do chrześcijaństwa. Ale Kołakowski, nawet będąc filozofem marksistowskim, miał olbrzymią wiedzę o religii, którą zawsze się fascynował.“

 Posted by at 11:53

Magenta oder Cyan?, oder: Impuls auf den Schädel

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Feb 212012
 

Wie schwer fällt es oft, eigene Irrtümer zuzugeben! So geriet ich vor zwei Tagen in eine Auseinandersetzung über die Farbe der Jacke des Vorsitzenden des ADFC Deutschlands, Ulrich Sybergs, der im aktuellen SPIEGEL auf S. 115 abgebildet ist. „Guter Kontrast zwischen dem Magenta der Jacke und dem Bonbonrot des Fahrradhelms – auf die modische Kleidung beim Fahrradfahren kommt es an! Es gibt jetzt sogar Fahrradhelme mit Aussparungen für Zöpfe!“, behauptete ich treuherzig.

MAGENTA! Du verwechselst da etwas“, war das schroffe Urteil meines Gegenübers. Ich widersprach. Es fiel mir schwer meinen Fehler zuzugeben. Doch letztlich bricht einem ja kein Zacken aus der Krone. Heute lache ich darüber. Die Jacke ist Cyan, nicht Magenta! Heute kenne ich den Unterschied zwischen Cyan und Magenta wie kein zweiter! Aus eigenen Fehlern kann man viel lernen. Wer keine Fehler macht, lernt auch nichts. Ein guter Impuls für den geborenen Dickschädel!

Quellenangabe:
Christian Wüst: Impuls auf den Schädel, in: DER SPIEGEL, Nr. 8, 18.02.2012, S. 114-115

ADFC Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V.

 Posted by at 22:19
Jan 252012
 

Ein kühnes Unterfangen legt der britische Verleger Peter McGee mit seinen Zeitungszeugen hin.

„Berlin bleibt rot!“ Unter diesem Kampfruf versammelten sich im Februar 1933 täglich Menschen, Vereine, Chöre in Berlin.  Das kann man alles im Vorwärts in orginalen Beiträgen nachlesen.

Die in dieser Woche nachgedruckten Zeitungen, etwa der „Vorwärts“ vom 28.02.1933 oder die „Vossische Zeitung“ vom 28.02.1933 sind wahre Schatzgruben der Erkenntnis für jeden historisch interessierten Zeitgenossen, der in Berlin lebt. So bringt der „Vorwärts“ einen profunden Artikel über die Karl-Marx-Schule in Neukölln – ein Vorbild der heutigen Rütli-Schule! Beide Zeitungen berichten beispielsweise auch über die per Gesetz erlassene Beschränkung der „ungerechtfertigt hohen“ Vorstandsgehälter in staatlich subventionierten Unternehmen durch die Reichsregierung. Wer Staatsknete bekommt, der muss auch hinnehmen, dass die Regierung die Managergehälter beschränkt.

Das war ein eindeutiger Eingriff in die Eigentumsrechte der Kapitaleigner durch die Regierung Hitler! Wie mag diese Maßnahme wohl auf den marxistischen Leser des Vorwärts gewirkt haben? Beschränkung der Managergehälter! Sie erraten es: Sie wurde mit Sicherheit begrüßt.  Die neue Reichsregierung strich offenbar ganz bewusst das sozialistische Element ihrer Programmatik in der Wirtschaftspolitik hervor. Das schuf ganz offensichtlich Zustimmung weit ins rote Lager hinein. Berlin blieb nicht rot, sondern wurde braun, wobei braun ja bekanntlich eine starken Rot-Anteil erhält.

Es lohnt sich in jedem Fall, einmal eine Ausgabe der Zeitungszeugen zu kaufen! Denn hier kann man erfahren, wie das Regime sich Schritt um Schritt Zustimmung sicherte.

Zeitungszeugen | Geschichte erlesen

 Posted by at 00:36
Okt 102011
 

Wann begann für die Sowjetunion der 2. Weltkrieg? Dumme Frage, werdet ihr sagen – natürlich am 22. Juni 1941! Damals überfiel das Deutsche Reich aus heiterem Himmel die Grenzen zur stets friedliebenden Sowjetunion und brachte Massenmord, Vernichtung, Ausplünderung in das bis dahin wahrhaft menschenfreundliche kommunistische Reich.

So haben es Generationen von russischen und deutschen Schülern gelernt, so wird es auch heute noch sehr oft dargestellt. Ist das wirklich so, dass die Sowjetunion wider Willen in einen Weltkrieg hineingezogen wurde, mit dem sie bis zum 22.06.1941 nichts zu tun hatte?

Es nimmt mich schon nicht mehr wunder stets von neuem zu sehen, dass der Überfall der Sowjetunion auf Polen vom 17. 09.1939 und die anschließende Annexion Ostpolens im öffentlichen Bewusstsein unserer Länder (Deutschlands und Russlands) ebenso vergessen ist wie die sowjetrussischen Überfälle von 1939 auf die anderen Staaten im Ostseeraum, also auf die Staaten Litauen, Estland und Lettland, die von der friedliebenden Sowjetunion gewissermaßen verschluckt wurden, während das 1939 ebenfalls von der Sowjetunion angegriffene Finnland immerhin unter Abtretung eines Teilgebietes die staatliche Eigenständigkeit behielt. Wer kennt diese Tatsachen heute noch außer einigen wenigen Historikern – und den damals von der Sowjetunion friedlich verschluckten Völkern der Polen, Esten, Litauer und Letten?

Man ignoriert die außenpolitischen und militärischen Großtaten der Sowjetunion vor 1941 und lässt ansonsten Stalin weiterhin einen guten Mann sein. Völlig vergessen wird, dass die Sowjetunion ab 1939 sofort nach der Besetzung der genannten Länder einen unerbittlichen Terrorapparat mit Massenhinrichtungen (Stichwort Katyn), Arbeitslagern und grausamer Bekämpfung aller vermuteten oder echten Widerstandskämpfer und vermuteter oder echter Partisanen installierte.

Ein kürzlich erschienener Aufsatz von Irina Scherbakowa bringt mir einige dieser heute weithin vergessenen Tatsachen wieder ins Blickfeld. Die russische Historikerin berichtet darin auch von der heute längst vergessenen Русская освободительная армия РОА, der regulären „Russischen Befreiungsarmee“, die nach Angaben der russischen Wikipedia mit immerhin 350.000 Mann, also fast mit doppelter Stärke der heutigen Bundeswehr, Seit an Seit mit den deutschen Truppen gegen Stalin kämpfte. Waren dies alles Vaterlandsverräter? Die Befreiung Russlands von der Geißel des Stalinismus schien diesen Freiwilligen so wichtig, dass sie den Pakt mit dem Teufel Hitler eingingen.

Mein persönliches Zwischenergebnis: Europa leidet weiterhin an an einem höchst beunruhigenden Gedächtnisverlust. Man könnte es mit einem Ausdruck Jorge Sempruns auch „Doppelgedächtnis“ nennen, Teil-Amnesie, Phantom-Vergesslichkeit … wie auch immer: Mit derart einseitiger Historiographie wird bis zum heutigen Tage massive Geschichtspolitik betrieben. Daraus werden bis zum heutigen Tage Ansprüche gegenüber Deutschland begründet. Und diese Ansprüche leiten sich von der weithin geteilten Annahme her: Da Deutschland und nur Deutschland dem gesamten Kontinent einen Krieg aufgezwungen habe, müsse auch Deutschland und nur Deutschland die gesamten Kriegsfolgekosten tragen. Unterbewusst läuft dieser Film in einer Endlosschleife überall ab.

Auch die Griechen scheinen es aktuell – ebenso wie die Italiener selbst – vergessen zu haben, dass es Italien und nicht Deutschland war, das Griechenland am 28.10.1940 überfallen und in den Krieg gezogen hat. Und deshalb erinnern die heute gegen Deutschland demonstrierenden Griechen an den Plätzen gerne an Hitler, aber gar nicht an Mussolini.

Irina Scherbakowa: Vaters Wahrheit. Wie der Große Vaterländische Krieg das Leben der Russen bis heute prägt. In: Die ZEITGeschichte. Heft 2/2011: Hitlers Krieg im Osten, S. 26-33.

Zu diesem Thema des „geteilten Gedächtnisses“ erreicht mich auch soeben ein frisch erscheinender, höchst lesenswerter Band aus dem Wallstein Verlag:

Freiheit, ach Freiheit …

Vereintes Europa – geteiltes Gedächtnis

Freiheit, ach Freiheit ...

Herausgegeben von Zsuzsa Breier und Adolf Muschg

Wallstein Verlag Göttingen · Freiheit, ach Freiheit …

 Posted by at 14:35
Sep 132010
 

„EIN Griechenland“, „Groß-Türkei“, „Drittes Europa“ unter polnischer Führung – was ist noch im Angebot? Nach dem ersten Weltkrieg sprossen überall in Europa Großmachtsphantasien auf. Völker wie die Griechen, die Türken oder die Polen sahen sich berufen, unter Führung des eigenen Staatsvolkes einen „Großraum der Macht und des Friedens“ zu errichten – und zwar auch mit blutigen Mitteln, mit Waffengewalt. So wurden nach dem ersten Weltkrieg eine ganze Reihe von regionalen Kriegen entfesselt: der griechisch-türkische, der polnisch-russische Krieg etwa. Diese Kriege sind heute in Deutschland vergessen oder verdrängt. Dabei waren es äußerst blutig geführte Angriffskriege, die heute unter der Ächtung der UN-Charta stünden.

Am schlimmsten und am verheerendsten unter diesen Großmachtsplänen sollten sich  – aus heutiger Sicht – die Ideen vom Großdeutschen Reich und von der Großen Schutzmacht Sowjetunion herausstellen. Millionen und Abermillionen Menschen fielen ihr zum Opfer: in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, auf den Schlachtfeldern, durch Plünderungen und Vertreibungen, durch Ausmerzungsaktionen gegen unerwünschte Bürger.

Kaum mehr als eine Fußnote im Konzert der Großmachtspolitiken füllt heute die Idee eines unter polnischer Führung stehenden „Dritten Europa“, welche das autoritär regierte Polen in den dreißiger Jahren verfolgte, wofür insbesondere der Name Josef Beck steht.

Lorenz Jäger bringt heute in der FAZ auf S. 3 unter dem Titel „Countdown für den Untergang“ die Details. Man kann also auch ohne Polnischkenntnisse Einblick in die spannende innen- und außenpolitische Dynamik jener Jahre nehmen, die in den Jahren 1919-1938 unter anderem zu bewaffneten Konflikten und echten Angriffskriegen zwischen Polen und der Sowjetunion, zwischen Polen und der Tschechoslowkei führte und mitunter aberwitzige Konstellationen erzeugte:

Polen paktiert mit dem Deutschen Reich und mit Frankreich gegen die Tschechoslowakei!

Deutsches Reich paktiert mit der Sowjetunion gegen Polen!

England paktiert mit Deutschem Reich gegen Tschechoslowakei!

Verwirrend – aber alles letztlich erklärbar als System einander bedrohender, angriffsbereiter Großmachtreiche, die am eigenen Bedeutungsverlust leiden.

Entscheidend bleibt: Deutschland, Polen und die Sowjetunion verfolgten damals Großraumpläne und überzogen einander mit einem wechselseitigen Geflecht an Drohungen, Bündnissen und Geheimverhandlungen.

Im Rückblick entsteht fast der irreführende Eindruck: „Die steckten doch alle unter einer Decke!“

Ab 1939, spätestens aber ab 1941 vereinfachte sich diese verwirrende Gemengelage: Deutschland und Sowjetunion fielen im September 1939 in verbrecherischen Angriffskriegen über Polen her, teilten es verabredungsgemäß unter sich auf. Sofort begannen hinter den Linien die unsäglichen Massenverbrechen an der polnischen Bevölkerung, ausgeführt von deutschen und sowjetischen Truppen und „Ordnungskräften“, die obendrein noch eine gemeinsame Siegesparade in Brest-Litowsk inszenierten.

Dann, spätestens ab 1941 standen Deutsches Reich und seine Verbündeten Italien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Kroatien usw. den anderen Mächten, den Alliierten, gegenüber.

Wiederum später, nach 1945, vereinfachte sich die verwirrende Gemengelage noch stärker.

Ab 1945 galt für Europa: Deutschland hatte den Weltkrieg ganz allein gegen den Rest der Welt entfesselt, allein geführt und allein verloren. Das ist heute allgemeiner Konsens. „Die Deutschen sind an allen Kollektivverbrechen, die in ganz Europa in den Jahren 1933-1945 begangen wurden, ganz allein schuld.“ So denkt Europa heute mehrheitlich.

Jeder, der diesen Konsens auch nur minimal in Frage zu stellen beginnt, wird sofort mit einer ganzen Latte an Vorwürfen überzogen, von denen der des Revisionismus nur der geringste ist.

Politik – FAZ.NET

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Bist du bürgerlich oder links?

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Jan 142010
 

Immer wieder hört man die Einteilung in „bürgerliche“ und „linke“ Parteien. Was ist dran? Denkt nach! Stimmt diese Zweiteilung? Hat sie je gestimmt? Hier kommt das Zitat des Tages! Wer hat folgendes gesagt? Wer könnte es gesagt haben? Ratet!

„In alten Arbeiterhaushalten war es eine eherne Regel, unter allen Umständen mit Geld auszukommen. Es ist eine Lebensregel jeder Armut, dass man würdig bewältigt, dass man wirtschaften kann. Die klassische Sozialdemokratie, die Partei Bernsteins, war in ihren Werthaltungen eine zutiefst bürgerliche Bewegung, die sich unablässig um Bildung, um Fortkommen, Leistungsethos und Altruismus bemühte. Das hedonistische Element, die Auffassung, es sei doch egal, wie man mit anderer Leute Geld umgeht, ist ein spätes Erbe von Achtundsechzig.“

Zitat entnommen aus: Mariam Lau, Die letzte Volkspartei, DVA, Stuttgart 2009, S. 34-35

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Wer war Antonescu? Wer war Horthy?

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Nov 172009
 

Kaum ein Deutscher wird mit dem Namen Antonescu etwas anfangen können, den Herta Müller auf S. 299 ihrer „Atemschaukel“ nennt. Es war der faschistische Diktator Rumäniens, der den Vorläufer zu linksgerichteten Diktatoren wie etwa Ceausescu abgab. Man könnte sagen: „Alles vorbei, ziehen wir endlich einen Schluss-Strich! Fangen wir doch ganz von vorne an!“

Und doch sollten, ja müssen wir uns mit der Vergangenheit der faschistischen und der kommunistischen Diktaturen der neuen EU-Staaten befassen. In Ungarn, aber auch in den östlichen Bundesländern Deutschlands hat sich eine weit verzweigte totalitäre, rechtsradikale Ideologie gehalten. Während des Kommunismus war sie geächtet, wurde kriminalisiert. Da der Sozialismus  nach und nach jeden Kredit verspielt hatte, wurde es unter Jugendlichen schick, rechtsradikal und nationalistisch zu sein.

Der Sozialismus ging aber listigerweise in den Staaten des Ostblocks ein Bündnis mit dem nationalen Gedanken ein. Alles, was die Erinnerung an eigene Verstrickungen hätte aufrühren können, wurde totgeschwiegen. Die eigene Nation – ob nun Slowakei, Ungarn oder Rumänien – gewann unter dem Sozialismus die Unschuld zurück, indem man die dunklen Flecken verschwieg.

Die Welt, ja selbst die meisten Deutschen glauben bis zum heutigen Tage, nur die Deutschen hätten eine rassistische Vernichtungspolitik gegenüber dem Judentum betrieben. Die Shoah wird ausschließlich auf das Konto der Deutschen geschrieben. Die Deutschen akzeptieren dies willig und wissentlich – aus Unwissenheit. Und doch gab es in den Staaten Ungarn und Rumänien, im besetzten Teil Frankreichs, ja sogar im nicht besetzten Teil Frankreichs, in der Sowjetunion, in der gesamten arabischen Welt in den vierziger Jahren eine aktive, eine keinesfalls erzwungene, sondern aktiv betriebene Verfolgungs- und Entrechtungspolitik gegenüber den Juden und anderen ausgegrenzten Minderheiten, etwa den nationalen Minderheiten innerhalb der eigenen Staatsgrenzen. Diese mündete dann in vielen besetzten und nicht besetzten Ländern in eine aktive Zuarbeit, eine wissentliche Unterstützung der verbrecherischen Ausrottungspolitik der deutschen Nationalsozialisten. Kaum ein Land hat diese Vergangenheit bisher offen zu bewältigen gewagt. Es ist viel einfacher, viel bequemer, die alleinige Schuld an der Katastrophe des Holocaust den Deutschen und nur den Deutschen, am besten nur den Westdeutschen anzulasten!

Dem war nicht so. Darüber gilt es zu reden, sonst kommen die Gespenster der Vergangenheit wieder zurück.

Der ungarische Historiker Paul Lendvai schreibt heute in der Morgenpost:

Antisemitismus – In Ungarn müssen sich Juden wieder fürchten – Kultur – Berliner Morgenpost
In einem bemerkenswerten Aufsatz betont der bedeutende ungarische Schriftsteller Ivan Sandor die Gefahr der verspäteten Distanzierung der Rechten von den Rechtsradikalen: Statt der „verschönten Scheinvergangenheit“ müsse man deutlich aussprechen, dass vom Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und nach dem schrecklichen Zwischenspiel der kurzweiligen „Räterepublik“ 1919 mit rotem und anschließendem weißem Terror alle rechtsgerichteten ungarischen Regierungen den Weg zum verhängnisvollen Bündnis mit Hitler-Deutschland und damit auch zum ungarischen Holocaust geebnet haben.
Tragödie des Judentums ist Tragödie des Ungartums

Der ungarische Historiker György Ranki hat darauf hingewiesen, dass sich die Juden nirgendwo in Osteuropa mehr mit einer Nation identifiziert haben wie in Ungarn. Deshalb war die Tragödie des Judentums auch eine Tragödie des Ungartums.

Drei Judengesetze1938-1941 zerstörten die Existenz von Hunderttausenden Menschen, und nach dem Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 lief die „Endlösung“ auf Hochtouren. Unter Aufsicht Adolf Eichmanns und seiner Schergen hat die ungarische Polizei in knapp sieben Wochen 437.402 Juden in 147 Zügen nach Auschwitz deportiert. Insgesamt 564.000 ungarische Juden wurden, zum Teil auf den Straßen von Budapest, umgebracht. Heute leben schätzungsweise nur noch 80.000 bis 100.000 Juden in Ungarn, überwiegend in Budapest.

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Aug 222009
 

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft kriechen jetzt bleich und übernächtigt all die Fragen nach der geschichtlichen Wahrheit ans Licht, die seit 1948, also seit der Machtergreifung kommunistischer Parteien in den Ländern der östlichen Hälfte Europas, gewaltsam unter dem Deckel gehalten wurden. In einem endlosen Gewürge von Manipulationen, Umdeutungen und Beschönigungen hatten die parteiamtlichen Historiker die unschönen Wahrheiten der eigenen Nationalgeschichte unter den Teppich gefegt. Dazu gehört auch die Beteiligung nicht-deutscher Verbände, offizieller Regierungen, ja ganzer Staaten an dem verbrecherischen Regime des Nationalsozialismus im besetzten Europa. Nur so lässt sich etwa folgende, geradezu bizarr anmutende Meldung verstehen, wonach ein EU-Staat dem Staatsoberhaupt eines anderen EU-Staates die Einreise verbietet:

Einreiseverbot: Ungarns Präsident bläst Slowakei-Besuch ab – SPIEGEL ONLINE – Nachrichten – Politik
Mit klaren Worten hat die slowakische Regierung dem ungarischen Präsidenten Laszlo Solyom an einer Reise in die Slowakei gehindert. Ein Verstoß verletzte internationales Recht und zeige einen „Mangel an Respekt“, sagte der slowakische Ministerpräsident Robert Fico.

Bizarr ist diese Meldung, weil hinter dem Einreiseverbot die unaufgearbeitete Geschichte der beiden Staaten Ungarn und Slowakei in den 30er und 40er Jahren steht. Kaum jemand weiß, dass die beiden Staaten Ungarn und die Slowakei treue Verbündete Deutschlands waren, dass sie den Deutschen Waffenhilfe leisteten. Die Schreckensherrschaft der Deutschen wäre ohne ein riesiges Heer an nicht-deutschen Helfern, Waffenbrüdern, Kollaborateuren und Vollstreckern nicht möglich gewesen. Und daneben gab es auch ganze Länder – Italien, Slowakei, Ungarn, das besetzte Frankreich – die mit ihren Regierungen, also als Land,  insgesamt auf Seiten Deutschlands standen, Truppen stellten, an Verfolgungsmaßnahmen aktiv beteiligt waren. Wer weiß heute noch, dass Hunderttausende italienischer Soldaten am Überfall auf die Sowjetunion beteiligt waren, bis vor Stalingrad vorrückten?

Was hört man aus Italien, Ungarn, der Slowakei über diese Beteiligung? Praktisch nichts. Dazu meine ich sagen zu können: Diese Länder haben es erfolgreich und wider die historischen Belege vermocht, sich ausschließlich als Opfer Deutschlands darzustellen. Sie haben nicht ernsthaft begonnen, ihre eigene Verstrickung in die Terrorherrschaft der Deutschen aufzuarbeiten. Kaum jemand kennt überhaupt noch die Namen der Tiso, Horthy, Pétain, Badoglio. Die verbündeten oder kollaborierenden Länder Italien, Slowakei, Rumänien, Ungarn, Frankreich haben sowohl unter dem Kommunismus als auch in der Demokratie ihre eigene nationale Geschichte weitgehend reingewaschen.

Selbstverständlich diente dies auch als Rechtfertigung für die Vertreibung von etwa 12 Millionen Deutschen, aber auch von Hunderttausenden Ungarn nach dem 2. Weltkrieg. Die Botschaft war klar: „Wir waren nicht dabei! Das waren alles die anderen!“

Eine groteske Veranstaltung! Und derartige Grotesken werden mühsam gehegt und gepäppelt, ehe es zum nächsten Knall kommt, wie an dem gespannten Verhältnis zwischen Ungarn und der Slowakei regelmäßig zu bestaunen.

Ungarn hat sich 1989 offiziell bei der damaligen Noch-Tschechoslowakei dafür entschuldigt, dass ungarische Truppen an der Niederschlagung des Prager Frühlings beteiligt waren. Die heutige Slowakei hat derartiges gegenüber Ungarn nicht vermocht, da sie eine Kontinuität zu der deutschlandfreundlichen Tiso-Regierung ab 1940 nicht herstellen will. Die Vertreibung der Ungarn aus dem Gebiet der Tschechoslowakei wird weiterhin verschwiegen.

Ungarn hat offiziell seine historische Schuld an der Vertreibung der Deutschen, aber auch auch an der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 anerkannt. Dennoch gehen die endlosen Streitereien zwischen der Slowakei und Ungarn weiter. Im Zentrum stehen dabei vordergründig Rechte der ungarischen Minderheit in der Slowakei – und ungelöste Fragen der Vergangenheit.

Letztlich wurzeln die ständigen slowakisch-ungarischen Reibereien in der dunklen europäischen Vergangeheit. In diese gilt es Licht zu werfen. Wenn die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten weiterhin so saumselig und zögerlich sich mit Halbwahrheiten zufriedengeben, kann das gemeinsame Haus Europa nicht gelingen.

 Posted by at 08:29