Nov 172009
 

Kaum ein Deutscher wird mit dem Namen Antonescu etwas anfangen können, den Herta Müller auf S. 299 ihrer „Atemschaukel“ nennt. Es war der faschistische Diktator Rumäniens, der den Vorläufer zu linksgerichteten Diktatoren wie etwa Ceausescu abgab. Man könnte sagen: „Alles vorbei, ziehen wir endlich einen Schluss-Strich! Fangen wir doch ganz von vorne an!“

Und doch sollten, ja müssen wir uns mit der Vergangenheit der faschistischen und der kommunistischen Diktaturen der neuen EU-Staaten befassen. In Ungarn, aber auch in den östlichen Bundesländern Deutschlands hat sich eine weit verzweigte totalitäre, rechtsradikale Ideologie gehalten. Während des Kommunismus war sie geächtet, wurde kriminalisiert. Da der Sozialismus  nach und nach jeden Kredit verspielt hatte, wurde es unter Jugendlichen schick, rechtsradikal und nationalistisch zu sein.

Der Sozialismus ging aber listigerweise in den Staaten des Ostblocks ein Bündnis mit dem nationalen Gedanken ein. Alles, was die Erinnerung an eigene Verstrickungen hätte aufrühren können, wurde totgeschwiegen. Die eigene Nation – ob nun Slowakei, Ungarn oder Rumänien – gewann unter dem Sozialismus die Unschuld zurück, indem man die dunklen Flecken verschwieg.

Die Welt, ja selbst die meisten Deutschen glauben bis zum heutigen Tage, nur die Deutschen hätten eine rassistische Vernichtungspolitik gegenüber dem Judentum betrieben. Die Shoah wird ausschließlich auf das Konto der Deutschen geschrieben. Die Deutschen akzeptieren dies willig und wissentlich – aus Unwissenheit. Und doch gab es in den Staaten Ungarn und Rumänien, im besetzten Teil Frankreichs, ja sogar im nicht besetzten Teil Frankreichs, in der Sowjetunion, in der gesamten arabischen Welt in den vierziger Jahren eine aktive, eine keinesfalls erzwungene, sondern aktiv betriebene Verfolgungs- und Entrechtungspolitik gegenüber den Juden und anderen ausgegrenzten Minderheiten, etwa den nationalen Minderheiten innerhalb der eigenen Staatsgrenzen. Diese mündete dann in vielen besetzten und nicht besetzten Ländern in eine aktive Zuarbeit, eine wissentliche Unterstützung der verbrecherischen Ausrottungspolitik der deutschen Nationalsozialisten. Kaum ein Land hat diese Vergangenheit bisher offen zu bewältigen gewagt. Es ist viel einfacher, viel bequemer, die alleinige Schuld an der Katastrophe des Holocaust den Deutschen und nur den Deutschen, am besten nur den Westdeutschen anzulasten!

Dem war nicht so. Darüber gilt es zu reden, sonst kommen die Gespenster der Vergangenheit wieder zurück.

Der ungarische Historiker Paul Lendvai schreibt heute in der Morgenpost:

Antisemitismus – In Ungarn müssen sich Juden wieder fürchten – Kultur – Berliner Morgenpost
In einem bemerkenswerten Aufsatz betont der bedeutende ungarische Schriftsteller Ivan Sandor die Gefahr der verspäteten Distanzierung der Rechten von den Rechtsradikalen: Statt der „verschönten Scheinvergangenheit“ müsse man deutlich aussprechen, dass vom Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und nach dem schrecklichen Zwischenspiel der kurzweiligen „Räterepublik“ 1919 mit rotem und anschließendem weißem Terror alle rechtsgerichteten ungarischen Regierungen den Weg zum verhängnisvollen Bündnis mit Hitler-Deutschland und damit auch zum ungarischen Holocaust geebnet haben.
Tragödie des Judentums ist Tragödie des Ungartums

Der ungarische Historiker György Ranki hat darauf hingewiesen, dass sich die Juden nirgendwo in Osteuropa mehr mit einer Nation identifiziert haben wie in Ungarn. Deshalb war die Tragödie des Judentums auch eine Tragödie des Ungartums.

Drei Judengesetze1938-1941 zerstörten die Existenz von Hunderttausenden Menschen, und nach dem Einmarsch der Deutschen am 19. März 1944 lief die „Endlösung“ auf Hochtouren. Unter Aufsicht Adolf Eichmanns und seiner Schergen hat die ungarische Polizei in knapp sieben Wochen 437.402 Juden in 147 Zügen nach Auschwitz deportiert. Insgesamt 564.000 ungarische Juden wurden, zum Teil auf den Straßen von Budapest, umgebracht. Heute leben schätzungsweise nur noch 80.000 bis 100.000 Juden in Ungarn, überwiegend in Budapest.

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