Bioturbation: das immerwährende Sich-Umschaffen der Natur

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Sep 162023
 

Wasserbüffel beweiden die Pfaueninsel in der Havel im Südwesten Berlins. Aufnahme des Verfassers vom 3. Juli 2019.

Schaut hier hin: Großtiere wie diese Weidetiere schufen und schaffen durch Betreten, Äsen, Scharren, Wühlen, Absondern von Dung eine Vielzahl an kleinräumigen Habitaten für eine Unzahl an Lebewesen, von den humusbildenden Mikroben, den Asseln, Würmern, Insekten, den Kleinsäugern wie Mäusen, Hamstern bis hin zu den Beutegreifern wie Fuchs, Wolf, Habicht und Fischadler. Auch die vielgerühmte Schwarzerde der Ukraine, der Kornkammer der Welt, wie wir sie nennen dürfen, ist so entstanden!

Über diesen einst die Landschaften Europas und aller Kontinente prägenden Wirkzusammenhang schrieb Jan Haft im Jahr 2023:

„Unterirdisch lebende Tiere wie Regenwürmer, Käferlarven, Maulwürfe, Hamster, Ziesel und andere verfrachten den Humus beim Wühlen in immer tiefere Erdschichten. Dabei bringen sie Gesteinsbrocken und damit Mineralien an die Oberfläche und machen sie für die Pflanzen verfügbar. Hierfür gibt es sogar einen eigenen Fachbegriff: „Bioturbation“. Auf diese Weise sind überall auf der Welt mehrere Meter tiefe Braun- und Schwarzerdeböden entstanden, voller Humus und voller Kohlenstoff. Die Existenz dieser Böden beweist ihrerseits, dass es die offenen, von Großtieren dominierten Savannen gab. Sei es in der amerikanischen Prärie und Pampa oder den Steppen in Afrika, Asien, Australien und Europa.

Die wichtigsten Getreideanbaugebiete befinden sich heute im Bereich dieser Schwarzerden, von denen ein Drittel in der Ukraine liegt. So könnte man sagen dass die Menschheit ihre Nahrung zu einem beträchtlichen Teil den von ihr ausgerotteten Weidetieren zu verdanken hat.“

Zitatnachweis:
Jan Haft: Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur. Penguinverlag, München 2023, Seite 66

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Мир вам oder Мир вам? Wie unterscheidet man Ukrainisch und Russisch?

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Apr 232022
 

In einer früheren Zeit, als Kreuzberg meine zweite, dritte oder vierte Heimat war, hörte ich dort immer wieder den uralten, den ewig neuen Friedensgruß, der zugleich auch ein Alltagsgruß geworden ist: Мир вам, wie der Ukrainer sagt, oder auch Мир вам, wie der Russe sagt, oder auch Salam aleikum, wie die Moslems im Späti am Kotti um die Ecke sagen, oder auch Scholem aleichem wie die Juden sagen, oder auch der Friede sei mit Euch, wie Jesus nach seiner Auferstehung nach dem Zeugnis des Johannes dreifach zu den Jüngern sagte.

Es ist erstaunlich, dass im Evangelium des Johannes Jesus nur an dieser Stelle die Jünger ausdrücklich mit diesem so alltäglichen, drei Mal wiederholten Friedensgruß anredet. Der Evangelist verknappt die Begrüßung Jesu an seine Jünger ins Dichteste, Alltäglichste. So wie er den Judas mit „Freund“ anredete, so redet er jetzt die Jünger mit „Der Friede sei mit euch“ an.

Im griechischen Neuen Testament lautet das bei Johannes so:

ἦλθεν ὁ Ἰησοῦς καὶ ἔστη εἰς τὸ μέσον, καὶ λέγει αὐτοῖς· Εἰρήνη ὑμῖν.

Auf Ukrainisch lautet das so:

увіходить Ісус, став посередині та й каже їм: «Мир вам!»

Auf Russisch lautet das in der eigenwilligen russisch-jüdischen Übersetzung des Neuen Testaments, die David Stern vorgelegt hat, so:

пришёл Йешуа, встал посередине и сказал: „Шалом алейхем!“

Dies zu begreifen ist gar nicht so schwer. Kann man Russisch, wird man das Neue Testament auch auf Ukrainisch lesen können. Kann man Ukrainisch, wird man das Neue Testament mit seiner Friedensbotschaft auch auf Russisch lesen und verstehen können.

http://kifa.kz/bible/stern/stern_yohanan_20.php

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„Mourir pour Dantzig?“ Frieren für Kyjiw? 5% weniger BIP, nur um die Ukraine zu unterstützen?

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Mrz 132022
 

„Mourir pour Dantzig?“ – So fragte die Weltpresse, als das Deutsche Reich sich Mitte August 1939 völkerrechtswidrig die Freie Stadt Danzig einverleibte. Die Antwort lautete: nein. Niemand wollte für Danzig sterben.

Man ließ Hitler im August 1939 gewähren und bereitete so dem Deutschen Reich den Weg, ganz Europa in den Abgrund zu treiben. Man wollte den Diktator nicht provozieren, um ihn nicht weiter zu reizen.

Frieren für Kyjiw? Sollen oder wollen wir Deutschen frieren, wenn wir Russland kein Gas, kein Öl mehr abkaufen? Sollen wir dafür sogar 5% Prozent Rückgang unseres Bruttoinlandsproduktes in Kauf nehmen? Unser Bundeswirtschaftsminister Habeck befürchtet die Gefährdung des sozialen Friedens, wenn wir ein Ölembargo gegen Russland einziehen wollten.

https://www.deutschlandfunk.de/habeck-haelt-an-importen-aus-russland-fest-warnt-vor-gefaehrdung-des-sozialen-friedens-in-deutschlan-102.html

Der Minister traut uns einfachen Bürgern offenbar nicht so ganz über den Weg. Er unterschätzt unseren Idealismus, unsere Opferbereitschaft, unseren Menschenverstand.

„Frieren für Kyiw?“ Ich meine: Aber ja doch! Eine Absenkung der Durchschnittstemperaturen um nur 3°C in Innenräumen bringt bereits erhebliche Einsparungen beim Energieeinsatz von ca. 18%! Frieren muss niemand, bei 18°C kann jeder sich wohlfühlen. Dann zieht man halt noch einen zweiten Pullover an. Was ist so schlimm daran? Man bedenke auch den erheblichen Beitrag der Absenkung der Raumtemperatur zur Abmilderung des Klimawandels, denn die Gebäudeheizung verschlingt etwa 30% des Primärenergieverbrauchs in Deutschland.

„Drehen Sie der russischen Führung den Geldhahn zu!“, lautet der klare Appell in einem offenen Brief der Bürgerbewegung Campact, der unter anderem von der Klimaaktivistin Luisa Neubauer, dem Youtuber Rezo und dem Wissenschaftler Eckart von Hirschhausen unterzeichnet wurde.“

Luisa Neubauer, Rezo und andere fordern Importstopp von russischem Öl und Gas (rnd.de)

Natürlich wäre es auch gut, die heimischen Energieträger stärker zu nutzen, statt sich von den diktatorischen Regimes der Gas- und Erdoöllieferländer (z.B. Russland und Iran) abhängig zu machen.

An erster Stelle ist hier die Steinkohle zu nennen, von der Deutschland für etwa 200 Jahre reichlich besitzt. Moderne Steinkohlekraftwerke sind mittlerweile nahezu ebenso emissionsarm wie Gaskraftwerke!

Zweitens gilt es, die bereits errichteten, voll funktionsfähigen Kraftwerke bis zum Ende ihrer Nutzungsdauer laufen zu lassen. Das gilt neben den Atomkraftwerken insbesondere auch für die hochmodernen Braunkohlekraftwerke in der Lausitz. „Bis zum Ende der Nutzungsdauer sind technische Gerätschaften zu nutzen!“ Das war ehedem eisernes Gesetz der Umweltschutzbewegung, die übrigens auch mich geprägt hat! Nur so werden Ressourcen gespart. Das gilt sowohl für Autos wie auch für Kraftwerke. Klimapolitisch ist es vermutlich besser, bestehende Kraftwerke aller Art bis zum Ende der möglichen Nutzung laufen zu lassen. Denn gerade der Neubau von Kraftwerken ist extrem emissionsträchtig. Man denke nur an den hohen CO2-Ausstoß bei der Herstellung von Beton!

Drittens können auch erneuerbare Energien einen gewissen Beitrag zur Senkung der Importabhängigkeit leisten.

Und die Elektromobilität? E-Autos sind derzeit etwas für die Besserverdienenden wie etwa Umweltminister, CEOs von Industrieunternehmen und Professoren. Hübsches Angebergeraffel, Zweitautos, Spielzeug für die Reichen, Gesinnungsausweis! Mit der extrem spendablen Förderung von E-Autos (6000.- pro Stück) vergrößert sich derzeit der PKW-Fuhrpark nur noch. Nie rollten mehr private PKWs über deutsche Straßen als gerade jetzt! Unbegreiflich, dass die Ampel-Bundesregierung das Planziel von 15 Millionen neuen E-Autos in den Koalitionsvertrag geschrieben hat. Das ist staatliche Geldverbrennung und Ressourcenverschwendung. Die Grünen mischen da ganz vorne mit.

Ich meine: Jeder kann etwas tun, um die exorbitant hohen Zahlungen an das Putin-Regime zu vermindern. Ein bisschen Frieren für Kyjiw – das tut niemandem weh. Ein Gas- und Ölembargo gegenüber einem Aggressorstaat wie Russland scheint mir durchaus verkraftbar. Man muss es nur richtig anpacken!

Die Politik sollte umsteuern – hin zu einer Verringerung der Abhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern. Heimische Energieträger sollten stärker genutzt werden, insbesondere erneuerbare Energien, Steinkohle, heimische Braunkohle, bestehende Kraftwerke aller Art.

Und die Wirtschaftspolitik sollte die sinnlose Ressourcenverschwendung der planwirtschaftlichen Wirtschaftslenkung eindämmen, Rechenstift und Zahlenwerke zur Hand nehmen. Das geschieht meines Erachtens viel zu wenig.

Mourir pour Dantzig? Das verlangt niemand.

Frieren für Lviv, Kyjiw und Czernowitz? Ja, das ist machbar und sinnvoll.

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Der harte Taler der Träume klingt auf den Fliesen der Welt

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Mrz 122022
 
„Putins Freunden den Geldhahn abtreten – Ölembargo jetzt!“ Auf der Demonstration vor der Russischen Botschaft, 6. März 2022

Mit russischen, ukrainischen und deutschen Beratern tagte vergangenen Sonntag mein kleines Küchenkabinett. Gemeinsam beschließen wir, ein Plakat anzufertigen. Eine klare Botschaft für die Demo vor der Russischen Botschaft muss her – nur welche?

Vielleicht diese zwei Zeilen aus dem Band „Mohn und Gedächtnis“?

„Vorm Zelt zieht die Hundertschaft auf, und wir tragen dich zechend zu Grabe.
Nun klingt auf den Fliesen der Welt der harte Taler der Träume.“

Oder diese:
„Löwenzahn, so grün ist die Ukraine.
Meine blonde Mutter kam nicht heim.“

Ich bat: „Bedenkt: der Dichter, Paul Antschel, stammt aus dem heute ukrainischenЧернівці, dem damaligen טשערנאָװיץ oder auch dem heutigen Czernowitz.“ Ich denke sie an, ich schlage die Glocke des großen Dichters. Doch unerbittlich fällen die Freunde das Urteil: „Zu blumig, zu wolkig für eine Demo!“

„Also – was? Übersetzt ihr bitte mal diese zwei Verse das ganze Gemenge in zwei knappe Forderungen!“, bat ich die redlichen Freunde.

Sie rieten hin, sie rieten her, Ratschluss stand fest, verkündet ward es:

„Putins Freunden den Geldhahn abdrehen – Ölembargo jetzt!“

Quellennachweis:
Paul Celan: „Marianne„, „Espenbaum, dein Laub blickt weiß ins Dunkel„, in: ders., Mohn und Gedächtnis, in: ders., Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Mit den zugehörigen Radierungen von Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Barbara Wiedemann. suhrkamp taschenbuch. Erste Auflage 2020, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, S. 34 und S. 36

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Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen

 Krieg und Frieden, Polen, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Das allrussische Großmachtsreich strebt mit aller Gewalt nach Westen
Mrz 122022
 
Die Rote Fahne mit Hammer und Sichel auf einem russischen Panzer in der Ukraine. Screenshot RAI News 24, 12.03.2022

Welthistorische Erinnerungen tauchen auf, wenn ich in verschiedensten europäischen Sprachen – darunter Russisch, Ukrainisch, Italienisch – die Berichterstattung über den imperialistischen Zerstörungskrieg Russlands gegen die Ukraine verfolge und mir ein Gesamtbild zu verschaffen suche! Mit geballter Wucht rollen in diesen Augenblicken die russischen Panzer auf Kyiw zu. Sie sollen offenkundig das allrussische Reich, von dem schon die russischen Zaren und die russischen Bolschewiki träumten, mit Geschützdonner und Bombardierungen wiederaufbauen.

Stolz und aggressiv wie eh und je flattert heute, in diesen Augenblicken, die sowjetische Rote Fahne von diesem russischen Panzer. – Reib dir die Augen, sieh ihn dir an: da rollt doch die „Allrussische“ Union der Sowjetrepubliken heran. Wer dächte da nicht an das riesige Monumentalgemälde „Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern“ von Isaak Brodski, das Lenin herrscherlich am 19. Juli 1920 bei der Rede zeigt, in der er die berühmten Worte sprach: „Jawohl, die Sowjettruppen stehen in Warschau! Bald werden wir Deutschland haben!“

Dies war zwar eine glatte Lüge, wie so viele andere Lügen Lenins und der anderen sowjetisch-allrussischen Führer, die in seiner Nachfolge standen und stehen. Denn damals standen die russischen Panzer VOR Warschau, nicht IN Warschau. Und sie wurden zurückgeschlagen, sie nahmen Warschau nicht ein, sondern wurden in der Schlacht bei Warschau im August 1920 geschlagen, zerstreut und in den Rückzug getrieben. Józef Klemens Piłsudski vertraute übrigens damals nicht auf Diplomatie, Friedensappelle oder Handelssanktionen, sondern auf das letzte Mittel, das in solchen Situationen weiterhelfen konnte: eine schlagkräftige Armee, ein strategischer Schlachtplan, Entschlossenheit, Kampfwillen, Überlebenswillen seines Volkes.

Aber hier stellt sich nun die Frage: Wird ein Putin oder wer auch immer – hierin dem „allrussischen“ Vorbild Lenins folgend – bald sagen können: Unsere Panzer rollen auf Kiew zu – bald werden wir Polen haben?

Bitwa Warszawska – Wikipedia, wolna encyklopedia

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Мир Украине! Свободу России!

 Holodomor, Krieg und Frieden, Petrarca, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Мир Украине! Свободу России!
Mrz 012022
 

„Friede für die Ukraine! Freiheit für Russland!“ Starke, erhebende, erschütternde Momente bei der großen Kundgebung am Sonntag auf der Straße des 17. Juni gegen den verbrecherischen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine! Gut die Einsicht, dass nur ein diktatorisches System einen solchen Angriffskrieg lostreten kann, wie ihn am 24. Februar Russland gegen die Ukraine vom Zaun brach.

Ohne Freiheit für die Bürger Russlands selbst, ohne Rechtsstaatlichkeit in Russland selbst wird Russland keinen dauerhaften Frieden für seine Nachbarn zulassen, scheint mir. Erschütternd die Erzählungen, die mir im Zusammenhang der Demo von Russen und Ukrainern zugetragen werden, – von anonym verbrannten russischen Soldaten, die diesem russischen Krieg zum Opfer gefallen sind, von Flugzeugladungen voller russischer Leichen, die irgendwie und irgendwo anonym in der Ukraine aufgesammelt werden und dann heimlich nach Russland geflogen werden. „Niemand darf davon erfahren.“ – „Die jungen russischen Wehrpflichtigen werden zu einem Manöver gekarrt, und am nächsten Morgen sind sie in einem gepanzerten Transportfahrzeug und müssen schießen, müssen töten.“

Viele Reden waren zu hören, einige sehr bewegend! Beachtlich fand ich insbesondere die Rede der ukrainischstämmigen Olexandra Bienert. Sie bezeichnete diesen Krieg Russlands nicht als die wahnsinnige Tat eines Verrückten, sondern als „imperialistischen Krieg“. Sie stellte ihn in eine Reihe anderer imperialistischer Kampagnen des russischen Großreichs, in eine Reihe mit den zahlreichen staatlich orchestrierten Massenmorden, die die kommunistisch geführte Sowjetunion im Gebiet der Ukraine beging, – wobei der Holodomor zweifellos einen traurigen Tiefpunkt ukrainischer Geschichte darstellte.

Über all dem schrie laut Petrarca: „Ich gehe durch die Welt und rufe ‘Friede, Friede, Friede’.

“I’vo gridando: pace, pace, pace.”

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Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?

 Dante, Gemeinschaft im Wort, Russisches, Ukraine, Was ist europäisch?  Kommentare deaktiviert für Hält letztlich nur noch das Gas den Kontinent zusammen?
Feb 092021
 
Nicht Russland, sondern ein Blick in den Cheruskerpark, 8. Februar 2021

Mitunter wird ja behauptet, Gas und Geld seien doch immerhin noch fast die letzte verbleibende Brücke, die Russland, das größte Land Europas, mit den anderen Ländern Europas verbände. Da man sich auf anderen Ebenen nicht verstehe, müsse eben das durch neue Röhren fließende Gas herhalten, um eine gewisse Verbundenheit zwischen Russland und den anderen Ländern Europas zu bewahren. Ein bedeutender Vertreter unseres Landes wird soeben in der FAZ mit der Aussage zitiert, dass „die Energiebeziehungen fast die letzte verbliebene Brücke zwischen Russland und Europa seien“.

Ist das so? Hat er das so gesagt? Das kann und mag ich nicht glauben! Hier muss ein Fehler der FAZ vorliegen. Steht und fällt wirklich alles mit dem Gas (oder mit dem Geld)? Nun, bei allem Respekt vor deutschen Politikern, ich stimme jener Aussage nicht zu. Ich meine, es gibt neben dem Gas auch noch anderes, was uns verbinden könnte. Es gibt z.B. -… hmmm, Menschen, menschliche Beziehungen. Mehr als 600.000 russische Staatsbürger leben, studieren, arbeiten, lernen alleine in denjenigen europäischen Ländern, die der EU angehören, davon weit mehr als 200.000 im bevölkerungsstärksten Land der EU, in Deutschland. Die sind nicht nichts. Die sind eine lebende, eine quicklebendige Brücke. Viele Deutsche haben darüber hinaus Angehörige, Freunde, Verwandte in Russland, auch der hier Schreibende.

Als zweitwichtigste Brücke – nach den Menschen – sei hier die Kultur genannt. Die europäische Kultur – stellvertretend seien hier die Werke von Michelangelo, Puschkin, Gogol, Dante, Bach, Shakespeare, Fanny Hensel, Cervantes, Petrarca, Homer, Dostojewski, Immanuel Kant genannt, wird überall in den europäischen Ländern – natürlich auch in der Ukraine, in Belgien, auch in Russland, zum Teil sogar auch noch in Deutschland gepflegt, gehegt, weitergegeben.

Zu den erhebenden Erfahrungen im Jahr 2021 gehört es sicherlich, Dante, in meinen Augen den bedeutendsten europäischen Dichter dieser weltgeschichtlichen Stunde, in den unterschiedlichsten europäischen und nicht-europäischen Sprachen zu hören, darunter auch auf Ukrainisch und auf Russisch.

Man klicke auf die untenstehenden Links, und gleich fließt wie belebende, erquickende Luft der unversiegliche Verse-Strom der Göttlichen Komödie durch das Netz, als hätte man ein Ventil geöffnet.

Und das wird auch so bleiben. Die Menschen werden weiter die gleiche Luft atmen, die europäische Kultur, die europäischen, ineinander übersetzbaren Sprachen werden auch weiterhin als Brücke zwischen Menschen, Staaten und deren Politikern dienen. Kultur, das lebendige, in Freiheit gesprochene Wort wird weiterhin unzerstörbare Brücken bauen.

Gas her, Gas hin.

Höre Dante auf Ukrainisch:
Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – UK – Данте – Божественна комедія (google.com)

Höre Dante auf Russisch:

Dalla selva oscura al Paradiso – From the dark wood to Paradise – RU – Dante – Божественная комедия (google.com)

 Posted by at 14:27

Müssen oder sollen katholische Priester ehelos leben?

 Adolf Hampel, Religionen, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Müssen oder sollen katholische Priester ehelos leben?
Feb 122020
 
Statue des Hl. Wolodymyr von Kiew, aufgestellt vor dem Moskauer Kreml

Die Kollateralschäden von Benedicts Zölibatsmahnung

Unter diesem Titel erreichte uns vor wenigen Tagen der Zwischenruf des katholischen Theologen Adolf Hampel, der bis zu seiner Emeritierung an der Universität Gießen lehrte – und dem der hier Schreibende das Gnadengeschenk der christlichen Taufe verdankt. Wir geben den Text hier gerne unverändert wieder:

„Die Behauptung einer geradezu notwendigen Verbindung von Ehelosigkeit und Priestertum lässt nicht nur die Kenntnis der Geschichte, sondern auch die Existenz Tausender legal verheirateter katholischer Priester vermissen.

Die Verherrlichung zölibatären Lebens wirkt angesichts der Sexualverbrechen zölibatärer Priester nicht nur peinlich, sondern degradiert die verheirateten Priester zu Priestern zweiter Klasse. Metropolit Wolodymyr Sterniuk (1907 – 1997), der im Untergrund gewählte Bischof der Griechisch-Katholischen Kirche der Ukraine, hat die Degradierung seiner Priester durch einen Brief von Johannes Paul II erfahren. Am Ende dieses päpstlichen Schreibens, das ich einsehen konnte, stand ein Satz, der ihn beleidigte: „Bei aller Treue zum Heiligen Stuhl darf das Ideal des ehelosen Priesters nicht verdunkelt werden.“ Der Vater von Sterniuk war ein in der ganzen Gegend geachteter Priester.

Die verheirateten Priester der von Stalin 1946 verbotenen griechisch-katholischen Kirche haben ihre Treue zum Stuhle Petri in Gefängnissen und Zwangsarbeitslagern in Sibirien bewiesen. Nachdem sie 1989 durch Gorbatschow die Freiheit erlangten, erfahren sie von Wojtyla und Ratzinger, dass sie Priester 2. Klasse sind. Die von ihnen gestaltete religiös-kirchliche Wiedergeburt ihrer Kirche kann heute auf einen festen Bestand blicken: 4 500 000 Gläubige, 50 Bischöfe, 3000 meist verheiratete Diözesanpriester, 400 Ordenspriester, 1500 Ordensschwestern.

Dem Synodalen Weg ist zu empfehlen, der griechisch-katholischen Kirche der Ukraine Aufmerksamkeit zu schenken.“

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„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ Hoffnung und Zuversicht für die Ukraine und Russland

 Bach, Das Gute, Europas Lungenflügel, Freiheit, Krieg und Frieden, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ Hoffnung und Zuversicht für die Ukraine und Russland
Nov 282018
 


„Для нас всегда Бах Бах / Für uns bleibt Bach immer Bach.“ So vertraute es uns im März 2014 eine Musiklehrerin aus der Stadt Керч oder auch aus der Stadt Керчь oder auch aus der Stadt Keriç an. Sie meinte damit: Trotz aller unschönen Entwicklungen in den ukrainisch-russischen Beziehungen glaubt sie fest an das Gute und Schöne, das sie als Musikpädagogin den Kindern in der Musikschule Kertsch weitergeben kann. Johann Sebastian steht offenbar in der großen östlichen Hälfte Europas unerschütterlich für das Wahre, das Schöne, das Gute. Bach verbindet die Ukraine und Russland – zwei eng benachbarte, ja kulturell und menschlich verschwisterte Staaten Europas – unauflöslich wie etwa Gogol oder Puschkin auch. Das habe ich immer wieder in Gesprächen mit Russen und Ukrainern erlebt.

Vorgestern besuchten wir ein Konzert ukrainischer Virtuosen im Kammermusiksaal der Philharmonie. Bach, Beethoven, Myroslav Skoryk, Saint-Saëns standen auf den Programm.

Den kraftvollen Anfang – in Abweichung vom gedruckten Programm – setzte ohne jede Erklärung der Geiger Valeriy Sokolov mit der Chaconne aus Bachs d-moll-Partita. Das war mehr als ein meisterhaft virtuos vorgetragenes Stück, es war ein glühendes Bekenntnis, das war ein Aufruf, ein Herabflehen – ja es war fast schon ein Gebet um Versöhnung des Widersprüchlichen. Sokolov spielte an diesem Abend mit fast schon altertümlicher Brillanz, leuchtend strahlte jeder Ton auf, der Bogenarm vollführte bei den gebrochenen Akkorden wahre Wunder an Gelöstheit und Souveränität. In manchem erinnerte mich Sokolov an die großen Meister der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, etwa Hubermann, Milstein, Stern. Schloss man die Augen, so konnte man nicht heraushören, ob dieser oder jener drei- oder vierstimmige Akkord im Auf- oder im Abstrich gespielt wurde. Und so soll es sein! Sokolov zeigte uns an diesem Abend einen großen, oft warmen, manchmal auch messinghaft glänzenden Ton, völlige Konzentration, endlose Spielfreude, aber eben doch auch eine gewaltige Seelenspannung, eine erhabene Würde. Das können heute nur wenige Geiger dieser Welt, viele können es nicht. Ihnen fehlt manchmal der Glaube an das, was sie spielen. Sokolov hat ihn.

Der ukrainische Botschafter Andriy Melnyk erinnerte in seiner mich sehr ansprechenden, überzeugenden Rede zum 5. Jahrestag der Revolution der Würde an den überragenden Wert der Freiheit und der Gleichheit aller Staatsbürger. Er sprach sehr persönlich aus seiner Erfahrung als Mensch: „Ich kann jetzt auf Augenhöhe mit meinem Präsidenten sprechen.“ Dieser werde ihm stets zuhören, und manchmal gelinge es ihm, dem Botschafter, ihn zu überzeugen. Das sei früher anders gewesen. Man sei in seiner Kindheit noch zu kritikloser Ergebung, Gehorsam und Nachahmung erzogen worden. Die Ereignisse auf dem Maidan hätten ihn damals, vor 5 Jahren, endgültig von Angst und Unterwürfigkeit befreit.

Der glanzvolle Konzertabend wurde passenderweise mit einer wehmütigen Ballade, dem Dumky-Trio von Antonín Dvořák beendet. Die Dumka ist ja ein ukrainischer Tanz, und in der Tat schienen die ukrainischen Musiker Kateryna Titova (Klavier), Aleksey Shadrin (Cello) und Valeriy Sokolov (Geige) besorgt hinüberzulauschen in das Land oder die Länder, denen sie entstammen und denen sie so viel verdanken. Sie spielten so ergreifend, so hingebungsvoll, dass man als Zeitgenosse der heutigen politisch-militärischen Bedrohungen geneigt war zu fragen: „Und? Warum all dieses Ungemach? Warum der Streit? Warum die Gewalt? Sind wir nicht alle Europäer? Sind wir nicht alle geeint durch die Musik eines Bach, eines Beethoven, eines Skoryk, eines Saint-Saëns? Bleibt denn nicht Kertsch Kertsch? Bleibt denn nicht Bach Bach?“

Die Antwort liegt auf der Hand und klang in unsere Ohren hinein. Sie wurde schon vor vier Jahren durch jene Musiklehrerin in Kertsch gegeben:

Для нас всегда Бах Бах

Bild: Der Europaplatz in Moskau mit den Flaggen der 49 europäischen Staaten, eine 2003 gebaute Manifestation des gemeinsamen Kontinents Europa

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Jun 012015
 

„Sonderfall Ukraine“, unter diesem zutreffenden Titel beschreibt Hugo Portisch in seinem phantastisch reich bebilderten Band über „Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus“ das in der Tat beispiellose Leiden der Ukraine unter der militärischen Bedrohung, der Unterdrückung und Zerstückelung der Ukraine durch Polen, durch das Russische Reich, durch die Sowjetunion und durch das Deutsche Reich in den Jahren 1917-1945. Wir fassen einige Grunddaten ukrainischer Geschichte zusammen:

Starke Bestrebungen, das Land aus russischer Herrschaft in die Unabhängigkeit zu führen, brachen sich nach der russischen Februarrevolution des Jahres 1917 Bahn. Alle ukrainischen Parteien – auch die linken Sozialdemokraten – forderten damals nationale Unabhängigkeit, wobei grundsätzlich der Verbleib innerhalb des Russischen Reiches nicht ausgeschlossen wurde. Nach dem gewaltsamen bolschewistischen Staatsstreich, der „Oktoberrevolution“ des Jahres 1917, verweigerte die ukrainische Rada den Bolschewiki Lenins die Anerkennung und erklärt die staatliche Eigenständigkeit. Die neue Sowjetregierung erklärt der Ukraine umgehend am 17.12.1917 den Krieg.

Am 9. Januar 1918 ruft die Zentralrada in Kiew die „Unabhängige Souveräne Ukrainische Volksrepublik“ aus. Danach marschieren die deutschen sowie die österreichisch-ungarischen Truppen ein. Am 1. November 1918 wird die „Westukrainische Volksrepublik“ proklamiert. Am 6. Februar 1919 marschiert die Rote Armee Trotzkis in Kiew ein, und die Ukraine wird am 8. April 1919 fester Bestandteil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Am 25.04.1920 wiederum erteilt der polnische Diktator, der General Józef Piłsudski, den Befehl, Sowjetrussland entlang der gesamten Grenze anzugreifen.

Allein schon diese wenigen Daten zeigen, dass die Ukraine in der sogenannten „Zwischenkriegszeit“ mehrfach von Polen, Russland und Deutschland angegriffen wurde, ehe sie dann vorerst endgültig Teil der Sowjetunion wurde.

Doch das Schlimmste waren nicht die Kriege, die Russland, Polen und das Deutsche Reich gegen die Ukraine vom Zaun brachen, das Schlimmste war der sowjetisch-nationalsozialistische Doppelschlag aus erstens dem Holodomor und zweitens dem Holocaust. Letzterer, der Holocaust, füllt viele Buchregale, Videotheken und Bibliotheken, der erste, der Holodomor ist nahezu vergessen. Wie kam es dazu?

Im Jahr 1929 fordern die sowjetischen Kommunisten wegen der schlechten wirtschaftlichen Lage die Vernichtung eines Großteils der ukrainischen Landbevölkerung, der sogenannten Kulaken.

Die bäuerliche Landwirtschaft wird von der kommunistischen Führung im Zuge der Zwangskollektivierung systematisch zerstört. Die Kulaken – also die selbständige ukrainische bäuerliche Bevölkerung – werden teils sofort erschossen, teils in Lager deportiert, aus denen sie meist nicht wiederkehren. Andere Kulaken werden verbannt, die Menschen werden in Viehwaggons eingepfercht, „in eisiger Kälte oder in brütender Hitze ohne Wasser“. Die Ärmsten unter den Kulaken werden obdachlos gemacht, sie vegetieren in den 30er Jahren unter sowjetischer Herrschaft auf den Straßen dahin und sterben wie die Fliegen.

Es gibt Augenzeugenberichte und Fotos darüber, wie hungernde ukrainische Familien in ihrer abgrundtiefen Verzweiflung nach und nach die Schwächsten töteten und danach verspeisten. Kannibalismus, Menschenfresserei aus Hunger – von Trotzki ausdrücklich gutgeheißen – war unter der Herrschaft der sowjetischen Kommunisten in der Ukraine, der einstigen Kornkammer des Russischen Reiches, ein nicht nur vereinzeltes Phänomen.

Berichte über diese Massenmorde, über die Vernichtung eines großen Teils der ukrainischen Bevölkerung erreichten sehr wohl regelmäßig das Ausland. Doch keine ausländische Macht griff ein.

Etwa 10 Millionen Ukrainer wurden in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die sowjetische Führung planmäßig durch Massenerschießungen, durch Vertreibungen und Zwangsarbeit sowie durch gezieltes Verhungernlassen vernichtet. Massenerschießungen, Deportationen, häufig zum Tod führende Zwangsarbeit in der Sowjetunion: Es handelt sich zusammen mit den Kolonialgreueln in Kongo unter dem belgischen König Leopold und zusammen mit dem nationalsozialistischen Holocaust an den europäischen Juden wohl um den schrecklichsten Genozid im Europa des 20. Jahrhunderts. Je nach Bewertungsmaßstab übertrifft der Holodomor am ukrainischen Kulakentum den Holocaust an den europäischen Juden in Grausamkeit und Brutalität sogar noch oder kommt ihm nahe. Der Holodomor ist zweifellos grausamer und schrecklicher gewesen selbst noch als die auf ihn folgenden „Säuberungen“ des sowjetkommunistischen Systems der späten 30er Jahre. Denn der Holodomor dauerte länger als die Säuberungen, der Holodomor forderte nach Schätzungen 8 bis 10 Mal so viele Menschenleben, er betraf eine gesamte Bevölkerung. Und es gab fast keine Überlebenden. Selbst heute ist dieser Genozid am ukrainischen Volk, der ungesühnt und kaum erinnert dem ebenso schrecklichen Holocaust vorausging, selten Gegenstand der öffentlichen Erinnerung außerhalb der Ukraine.

Der Bildband von Hugo Portisch (ich kaufte ihn gestern auf dem Flohmarkt am Rathaus Schöneberg für € 1.-) sei allen empfohlen, die sich für eine vollständige Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts im Zeitalter der Weltkriege interessieren und insbesondere das militärisch-politische Zusammenspiel zwischen der kommunistischen Sowjetunion und dem Deutschen Reich in den Jahren 1924 bis 1941 näher erkunden möchten.

Hinweis:
Hugo Portisch: „Sonderfall Ukraine“, „Die Vernichtung der Kulaken“, in:
Hugo Portisch: Hört die Signale. Aufstieg und Fall des Sowjetkommunismus. Mit einem Nachwort zur Taschenbuchausgabe. Mit zahlreichen Schwarzweißfotos. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, S. 124-131 sowie S. 220-223

 Posted by at 18:00
Sep 032014
 

«Мы один народ», so äußerten sich in den letzten Tagen sowohl Gorbatschow als auch Putin. Sie beschwören damit hochheilig die ewige Bruderschaft, die ihrer Meinung nach die Ukraine seit jeher an Russland binden soll, ja die Ukraine geradezu zu einem Teil Russlands mache.

Ich besprach diese Aussagen in Russland mit einer Moskauer Kinderärztin. Unser gemeinsamer Befund dieser mittlerweile nur noch mit den Begriffen der Psychopathologie zu erfassenden Konfliktlage: Genau in diesen Aussagen Putins oder Gorbatschows liegt der Kern des Problems. Wenn der Stärkere sagt: „Ihr gehört uns, ihr seid unser“ und diesen Anspruch mit Waffengewalt durchsetzt,  der Schwächere aber das anders sieht, dann liegt genau hierin das Problem. Es ist der Keim des Krieges. Zwar mag es durchaus sein und es ist wohl auch so, dass ein Teil der Ukrainer sich als durch und durch russisch fühlt. Russland lockt darüber hinaus mit höherem Lebensstandard, höheren Renten, besserer Versorgungslage als die Ukraine. Wenn Russland meint, diese Lasten stemmen zu können, sollte es diese Neubürger innerhalb seiner jetzt bestehenden Grenzen aufnehmen und integrieren.

Noch wichtiger scheint aber die historische Tiefenprägung zu sein. Diejenigen Ukrainer, die sich zur Orthodoxie bekennen, suchen vielfach weiterhin den Zaren, den Herrscher, der beide Schwerter, das der weltlichen und geistlichen Macht, in einer Hand hält. Sie erblicken in Putin eine Art Sendboten des Weltgeistes, eine mächtige Kaiser- und Vatergestalt, dessen Macht sie sich willig unterwerfen: sie vollführen das seelische Sich-Niederwerfen, die Prostration  vor einer historischen Herrschergestalt. Der Zar stiftet die Brücke zwischen Gott und dem Volk. „Du betest jetzt für Putin!“ schrieen sie einen Popen an, der sich weigerte, sich politisch im Gottesdienst auf Seiten Russlands zu stellen. Dann wurde er von der aufgestachelten Menge mit Tomatensaft bespritzt. Er ließ es abprallen, verlor die Ruhe nicht. So verlief vor drei Wochen eine Szene im russischen Fernsehsender 1, die ich mit eigenen Augen sah! Die identitätsstiftende Rolle der Konfessionen in diesem Konflikt wird übrigens im Westen nicht ansatzweise erkannt. Sie ist nicht zu unterschätzen!

Diesen Menschen, die sich dem Blute nach als völkische Russen fühlen,  muss selbstverständlich freistehen, die ungeliebte Ukraine zu verlassen. Russland hat unendlich weite Steppen, unbesiedelte Räume; in ihnen sollten die Neubürger ihr Neu-Russland innerhalb der heutigen Grenzen der Russischen Föderation  aufbauen.

Ein sehr großer Teil der Ukrainer sieht sich aber eben durch historische Tiefenprägung nicht als Untertanen des russischen Autokrators. Das sind insbesondere die weiten Landesteile, die früher unter österreichisch-ungarischer bzw. polnisch-litauischer Hoheit standen und erst im 20. Jahrhundert an die Sowjetunion fielen.  Dieser große Landesteil der heutigen Ukraine kämpfte sowohl nach dem ersten wie nach dem zweiten Weltkrieg noch jahrelang gegen das sowjetische Joch. Letztlich behielten die Kommunisten die Oberhand. Aber die gezielten Ausplünderungen der Ukraine durch die sowjetische Führung, die Auslöschung der Kulaken zu Hunderttausenden unter dem Vorwand „antisowjetischer Umtriebe“, sind in der Ukraine zumindest unvergessen.

7000 eingesickerte Tschetschenen scheinen bereits in der Ukraine auf Seiten der Separatisten zu kämpfen.  So berichtete es mir eine Ukrainerin, deren Vorhersagen seit Monaten bisher alle eingetroffen sind. Diese nichtrussischen, durch die früheren Grenzkriege gestählten Kämpfer sind in der Tat nicht mehr zentral zu steuern.

Eine Aussöhnung zwischen diesen in der historischen Tiefenprägung so verschiedenen Bevölkerungsteilen hätte Offenheit, Klarheit, Versöhnungswillen und Transparenz auf beiden Seiten der Grenze verlangt. Daran hat es aber gefehlt. Daran fehlt es bis zum heutigen Tag. Und so mag denn das „Auseinandergehen“ ohne allzuviel Blutvergießen im Augenblick tatsächlich eine Art Lösung sein. So meine Eindrücke, die ich in Gesprächen mit Ukrainern und Russen gewinnen konnte.

via  ВЗГЛЯД / «Мы один народ».

In deutscher Sprache zu empfehlen:
Claus Leggewie: Holodomor: die Ukraine ohne Platz im europäischen Gedächtnis? In: ders., Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt. Beck Verlag, München 2011, S. 127-143.

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„Was hat denn Russland damit zu schaffen?“

 Ethnizität, Europas Lungenflügel, Krieg und Frieden, Russisches, Ukraine  Kommentare deaktiviert für „Was hat denn Russland damit zu schaffen?“
Aug 182014
 

2014-08-16 09.30.01

Wie ist die aktuelle Lage in der Ukraine einzuschätzen?

Recht offen sprechen zwei Führer der in der Ostukraine operierenden Milizen, Alexander Kostin und Wladimir Stepanow, zwei ehemalige Offiziere der Sowjetarmee, über ihre politischen Ziele und ihre Unterstützer in der aufschlussreichen, auf Deutsch erscheinenden „Moskauer Deutschen Zeitung“.

Zusammenfassung:

1) Die Führer wollen einen von Russland unabhängigen neuen Staat Donbass.
2) Sie erklären, von der russischen Regierung unabhängig zu kämpfen. „Sind wir etwa nach Moskau gefahren, um uns den Segen von Putin zu holen?“
3) Sie stellen fest, dass die ukrainische Regierung gar nicht das Geld habe, um den Feldzug gegen sie, die unabhängigen Milizen, lange aufrechtzuerhalten.
4) Die Vorhaltung des Journalisten, die Milizen würden von Russland mit schweren Waffen ausgerüstet, weisen sie weder zurück, noch bestätigen sie sie. Vielmehr sagen sie: „Woher die Waffen kommen, wird Ihnen bis ins Detail keiner beantworten.“

Es lohnt sich, dieses spannende Interview zu lesen! Mir scheint, die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland war generalstabsmäßig durchgeplant; die Kämpfe in der Ostukraine sind jedoch offensichtlich von der Moskauer Regierung nicht mehr zu steuern. Ein neuer unabhängiger Staat, der finanziell auf eigenen Füßen stehen möchte, Milizen, die es nach eigenem Bekunden an Finanzstärke mit einem Staat von 44 Millionen Einwohnern aufnehmen können … das klingt abenteuerlich, klingt verwegen! Werden die Führer dazu aber auch das nötige Fachwissen mitbringen?

Die Äußerungen der Führer scheinen mir ferner ein weiterer Beleg dafür, dass der russische und auch der ukrainische Staat keineswegs nach Art einer Diktatur straff von oben nach unten durchorganisiert sind, sondern im Gegenteil vielmehr geprägt sind durch eine Vielzahl an begrenzt autonom operierenden Kräften, die häufig konflikthaft miteinander um Anteile an der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht kämpfen. Dies gilt insbesondere für ehemalige Soldaten der sowjetischen Armee, aber mehr noch für Angehörige der zahlreichen bewaffneten „anderen Kräfte“. Diese suchen offensichtlich Betätigungsfelder außerhalb des bisherigen Territoriums der Russischen Föderation, zumal bei einer russischen Truppenstärke von etwa 1 Million Mann (!) und geplanten Kürzungen ein unerschöpfliches Reservoir an Ehemaligen nach neuen Aufgaben sucht.

Der Osteuropaforscher Hannes Adomeit schrieb dazu im Jahr 2010:  „Die Umstrukturierung der „anderen“ Truppen, insbesondere der Truppen des Innenministeriums ist nicht vorangekommen. Der Widerstand dieser militärischen Formationen gegen Kürzungen und organisatorische Veränderungen konnte nicht gebrochen werden. Der Wirrwarr von Streitkräften und Sondertruppen mit ihren vielfältigen Aufgabenüberschneidungen besteht weiter.“

Fazit: Die aktuellen kriegerischen Zusammenstöße im Osten der Ukraine sind ein Bruderkrieg zwischen verwandten, versippten und verschwisterten Formationen, eine Art hybrider, „simmernder“ Krieg zwischen regulären und irregulären Truppen mit unklarer Legitimität, unklaren Kriegszielen, mit gemischter Provenienz und unklarem Kombattantenstatus. Eine klare Strategie Moskaus ist nicht zu erkennen. Viele Kombattanten haben keinerlei politische oder administrative Erfahrung im Hintergrund.

Für die deutsche Außenpolitik und die EU-Außenpolitik sollte dies meines Erachtens ebenso wie für die NATO bedeuten: Ein Eingreifen in den Konflikt, ganz zu schweigen von einer militärischen Hilfe für die Ukraine, ist höchst inopportun, zumal es dabei nicht nur zwei, sondern 2+x Seiten gibt. EU und NATO sollten erkennen, dass eigene vitale Interessen derzeit nicht berührt sind. Weder NATO noch EU sollten einseitig Partei in diesem Bruder- und Bürgerkrieg ergreifen. Die NATO soll und muss Verteidigungsbereitschaft für die eigenen Mitgliedsländer zeigen, mehr nicht.

Das zentrale, jahrhundertealte Grundproblem in der russischen und der ukrainischen Politik, nämlich die Frage der Legitimität der Herrschenden, ist nicht eindeutig beantwortet! Es ist neben den eklatanten Mängeln der ukrainischen Wirtschaft der Dreh- und Angelpunkt der  Auseinandersetzung.

Die Botschaft an die kämpfenden Parteien müsste sein: „Männer! Soldaten! Kämpfer! Ihr seid alt genug, um für Euch Verantwortung zu übernehmen. Ihr seid doch erwachsene Männer. Einigt Euch untereinander. Wenn ihr Vermittlerhilfe und ein paar gute Worte braucht, könnt Ihr Euch an uns wenden. Das liegt bei euch. Schafft Sicherheit, schafft Strom, Wasser, Nahrung für die Zivilbevölkerung heran. Wir im Westen werden euch weder Waffen noch Geld zur Verfügung stellen. Wir wünschen euch Frieden – auf gut Ukrainisch: Мир вам. Oder, um es auf gut Russisch zu sagen:  Мир вам. Denkt auch an die Worte Jesu Christi: Wer das Schwert zückt, wird durch das Schwert umkommen.“

Diese meine Schlussfolgerung mag resignativ klingen. Sie ist es nicht. Im Gegenteil! Sie entspringt der Einsicht, dass hier über die Jahre hinweg vom Westen unbeachtet und kaum verstanden eine höchst verworrene Gemengelage entstanden ist, die von außen auf keinen Fall direkt mehr geordnet werden kann. In der EU-Außenpolitik scheint mir offen gestanden auch kaum die Fachkunde, die Sprach- und Landeskenntnis vorhanden zu sein, um hier – im Osten der Ukraine – auch nur das sprichwörtliche „Bein auf den Boden zu kriegen“.

Zitate:

Kiew kann diesen Krieg nicht gewinnen.“ Milizenführer aus der Ostukraine über sich, ihre Unterstützer, ihre Waffen und ihre Ziele, in: Moskauer Deutsche Zeitung. Unabhängige Zeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur. Gegründet 1870. Nr. 15 (382), August 2014, hier besonders Seite 2
www.mdz-moskau.eu

Hannes Adomeit: Russische Militär- und Sicherheitspolitik, in: Heiko Pleines / Hans-Henning Schröder (Hrsg.): Länderbericht Russland. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2010, S. 263-285, hier besonders S. 276

Bild:

Ein Blick in ein russisches Technikmuseum in der Nähe von Moskau am 16.08.2014. Merke: Die Einstellung gegenüber Waffen und schwerem Kriegsgerät ist in Russland deutlich unverkrampfter als bei uns in Deutschland.

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Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?

 Frau und Mann, Integration durch Kultur?, Katharina, Krieg und Frieden, Russisches, Sprachenvielfalt, Ukraine  Kommentare deaktiviert für Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?
Aug 042014
 

Meine lieben Russen sagen dies, meine lieben Ukrainer sagen das. Dies oder das – wer weiß da noch, wer recht hat? Vielleicht beide, oder? Ich würde sagen: Versöhnt euch lächelnd und lachend, o ihr Russen, und o ihr Ukrainer.

War Mikola Gogol bzw. Nikolai Gogol eigentlich Russe oder Ukrainer? Eine endlos zu diskutierende Frage! Ich selber halte mich bedeckt dazu. Wer bin ich, dass ich darüber urteilen könnte? Ein bayerisches Nichts, ein schwäbischer Niemand!

Der große ukrainisch-russische Schriftsteller schrieb seine Werke auf Russisch und zollte nichtsdestotrotz lebenslang seiner ukrainischen Herkunft dankbar lächelnd oder auch laut lachend Tribut. Und über die Missstände im russischen Riesenreich schrieb er – Bände. Der Revisor ist eine einzige lachhafte Anklageschrift gegen Duckmäusertum, Passivität, Spiegelfechterei und blinde Unterwerfung gegenüber den Autoritäten des riesigen Reiches.

Ukrainer oder Russe? S’ist unerfindlich, wie es Nathan der Weise  in Lessings Nathan dem Weisen sagt. In jedem Fall – ich erinnere mich einer sehr unterhaltsamen Puppentheater-Aufführung seiner „Schuhe der Zarin oder die Nacht vor Weihnachten“ – die wir vor einigen Jahren zur Weihnachtszeit in Moskau belachten.

Bullernde Wärme herrschte drinnen in der guten Stube im tiefverschneiten knackig-frostigen russisch-ukrainischen Winter. Deutlich hörte ich den strengen deutschen Akzent heraus, mit dem die Zarin Katharina die Große sich zum Thema Schuhe äußerte. Die FRAU und die Welt der SCHUHE – ein endloses, für Männer kaum eindeutig zu entwirrendes Drama. Hat Gogol das ganze Drama je durchschaut? Ich bezweifle dies sehr. Den ukrainischen Akzent des Schmieds hörte ich damals noch nicht heraus, meine bayrisch-schwäbischen (oder deutschen?) Ohren waren vollauf beschäftigt, der verworrenen Handlung in dem ukrainischen Dorf mehr oder minder vollständig zu folgen. Eher minder. Aber es war verteufelt, der Teufel steckte noch im kleinsten Detail.

Ich denke – niemand hindert die Russen und die Ukrainer daran, sich gemeinsam lachend über ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu freuen. Große Schriftsteller können Brücken schlagen.

 

 

 

 Posted by at 15:47