Jan 282012
 

Wir brauchen einen offenen Nord-Süd-Dialog im Geiste der Redlichkeit! Eben las ich im Tagesspiegel den folgenden Artikel:

Vier Zahler, zwölf Nehmer: Berlin könnte ein Hauptziel der Angriffe aus dem Süden werden. – Politik – Tagesspiegel
Ein Siebtel des Berliner Haushalts wird aus Bayern finanziert.

Da ich mittlerweile Berliner bin, muss ich meinem Herkunftsstaat Bayern beispringen: Wir haben hier in diesem weithin vulgärsozialistischen Bundesland in der Tat in fast allen Belangen bessere staatliche Versorgung als in Bayern. Es stehen mehr kostenfreie Kita-Plätze bereit, das Schwimmbadwasser ist wärmer, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist in Berlin viel viel besser ausgebaut als in Bayern, und auch der neue Senat wird alles tun, um die Mieterschaft der Stadt durch Staatsknete trotz 100.000 leerstehender Wohnungen bei bester Laune zu halten.  Die Arbeitslosigkeit ist dennoch hier drei Mal so hoch wie in Bayern. Warum? Weil: Auch wenn man nicht sozialversicherungspflichtig arbeitet, kann man dank staatlicher Unterstützung und sonstiger unangemeldeter Tätigkeit sehr gut leben. Armut gibt es in Berlin nicht. Obdachlosigkeit und Hunger gibt es nicht, alle haben medizinische Versorgung, ob sie nun von nah oder fern kommen. „Wir haben hier alles, was wir brauchen, wir haben ein Recht hier in unserer Heimat zu sein. Wieso sollen wir dorthin ziehen, wo wir arbeiten müssten um zu leben?“ So denken viele.

Über eine Vielzahl an staatlich finanzierten „Projekten“, „Netzwerken“, „Initiativen“, „Agenturen“, „Programmen“ hat sich das Bundesland Berlin ein kaum mehr überschaubares Netzwerk an staatlich finanzierten Pfründen geschaffen. Das alles trugen die  Südstaaten Bayern, Baden-Württemberg und Hessen weitgehend klaglos mit.

Ich verstehe, wenn sie jetzt mit der Faust auf den Tisch hauen.

Berlin muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen, muss sich abnabeln. Eine Reform, also eine deutliche Abspeckung oder auch Abschaffung des bisherigen Länderfinanzausgleiches wäre eine sehr kluge, gewissermaßen erzieherische Maßnahme, um Berlin aus dem Zustand der selbstgewählten, wie eine lähmende Droge wirkenden  Unmündigkeit zu befreien.

Das bringt gewisse unvermeidliche Härten mit sich. Manche Mieter werden sich mit weniger Wohnraum in weniger attraktiven Lagen begnügen müssen, andere, vor allem Kinder, Jugendliche und jüngere Erwachsene werden es anstreben, durch Lernen, Bildung und Ausbildung einen höheren Lebensstandard zu erarbeiten, um ein besseres Auto kaufen zu können als das jetzige.

Ich sage: Dann ist es eben so. Dann würde sich erweisen, dass kein Staat auf Dauer stets gleichbleibende oder stetig verbesserte Lebensverhältnisse garantieren kann, wenn die Bürger nicht mittun.

Der undurchdringliche Sozialkokon, dieses Gespinst an unerfüllbaren Erwartungen an das Gemeinwesen würde endlich zerplatzen.

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Jan 272012
 

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„Frage niemanden nach seiner Herkunft, er wird sie dir in seinen Erzählungen offenbaren.“ Ein treffliches Sprichwort, das ich gern meiner Sprichwort- und Volksliedsammlung einverleibe. Berichtet hat es uns die redliche Hatice Akyün, deren Kolumnen ich gerne verfolge.

Ich ergänze als wackerer Deutscher: Frage niemanden nach seiner Stimmung im Gemüt, er wird sie dir in seinen Liedern offenbaren.

„Ehre Vater und Mutter, damit es dir wohlergehe auf Erden!“ Dieses alte Gebot, das noch bis vor wenigen Jahrzehnten in Deutschland häufig zu hören war, fällt mir ein, wenn ich Hatice Akyüns gute, anrührende, in Spruchweisheiten mündende  Erzählungen lese. Bitte beachtet den zweiten Teil! Das weithin vergessene Gebot meint, dass zum glücklichen Leben auch eine stete Auseinandersetzung, eine pflegende, achtungsvolle Aufmerksamkeit für die Älteren, die „Eltern“ gehört.  Da ist was dran. Hatice ist mit ihren wöchentlichen Kolumnen vorbildlich in der Entfaltung dieses Gebotes.

Aber auch sonst ist heute ein Freudentag. Denn die Schulwelt würdigt am heutigen Zeugnisverteilungstag den Einsatz des armen Kreuzberger Bloggers, des Herrn Hampel, wie er auch heißt, für das heimatliche Liedgut der Altvorderen mit einer Urkunde. Danke, Hatice, danke, Schulwelt!

Kolumne „Meine Heimat“: Ganz warm ums Herz – Meinung – Tagesspiegel
„Sorma kisinin aslini, sohbetinden belli eder“

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Zeichen der Aussöhnung setzen!

 Das Böse, Einzigartigkeiten, Flüchtlinge, Versöhnung, Vertreibungen  Kommentare deaktiviert für Zeichen der Aussöhnung setzen!
Jan 262012
 

Vor 20 Jahren erfuhr ich zum ersten Mal von dem Massenmord, den Massenvertreibungen der Armenier während der Osmanenherrschaft in den Jahren ab 1915. Freunde schenkten mir damals im italienischen Bari zum Geburstag Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, den ich allerdings nie von der ersten zur letzten Seite las, weil er mir zu viele Grausamkeiten enthält.

Später sah ich den Film Aghet, traf ich immer wieder französische und amerikanische Armenier, die mir persönliche Schicksale erzählten. Hier ist wirklich ein Volk unter brutalsten Bedingungen zum großen Teil ausgelöscht worden.

In der Türkei wurden durch das Denkmal des bekannten Mit-Kreuzbergers Mehmet Aksoy bei Kars kraftvolle Zeichen der Versöhnung zwischen den ehemals verfeindeten Völkern ausgesendet. Wir sind und bleiben halt doch die Guten, wir Kreuzberger!

Gute Initiative,  dass jetzt viele Dokumente zum Völkermord an den Armeniern online gestellt worden sind! Die Forschung ist noch keineswegs abgeschlossen. Gut, dass auch in Deutschland mittlerweile die deutsche Mitwisserschaft (Mittäterschaft?) offen angesprochen wird! Wann folgen Österreich und Bulgarien nach? Sie waren doch ebenfalls Verbündete der Osmanen, ihnen lag nichts daran, die gegen die Armenier begangenen Greueltaten zu verhindern. 

Dennoch bin ich – ebenso wie seinerzeit Hrant Dink, der vor seiner Ermordung sagte, er werde als erster in Paris gegen das Gesetz demonstrieren –  gegen das strafrechtlich bewehrte Genozidleugnungsverbotsgesetz, wie es jetzt in Frankreich verabschiedet worden ist. Ich halte das Gesetz für nicht zielführend. Meinungen kann man nicht bestrafen! Dann könnte man auch die GULAG-Leugnung unter Strafe stellen, dann kann man ja gleich auch die Holodomor- oder Katyn-Leugnung, die Leugnung der französischen Kolonialgreuel in Algerien  strafrechtlich verbieten.

Das Äußern einer Meinung unter Strafe zu stellen, halte ich stets für falsch. Ich bin da ein geschworener Anhänger des US-amerikanischen Free-Speech-Act, und ich bleibe ein Anhänger Galileo Galileis.

Also: Wir brauchen noch mehr Forschung, mehr Dokumentation, mehr internationale Kooperation zwischen Armenien, Türkei, Österreich, Bulgarien, Deutschland, mehr Aufklärung im Schulunterricht, sowohl in der Türkei selbst wie auch in Deutschland, wo fast ideale Bedingungen zur Aufarbeitung des Massenmords bestehen. Die Schulbücher Brandenburgs setzten da ebenfalls wie Mehmet Aksoy ein wichtiges Zeichen.

http://www.armenocide.de/

La loi sur le génocide divise les intellectuels turcs – LeMonde.fr

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Jan 252012
 

Ein kühnes Unterfangen legt der britische Verleger Peter McGee mit seinen Zeitungszeugen hin.

„Berlin bleibt rot!“ Unter diesem Kampfruf versammelten sich im Februar 1933 täglich Menschen, Vereine, Chöre in Berlin.  Das kann man alles im Vorwärts in orginalen Beiträgen nachlesen.

Die in dieser Woche nachgedruckten Zeitungen, etwa der „Vorwärts“ vom 28.02.1933 oder die „Vossische Zeitung“ vom 28.02.1933 sind wahre Schatzgruben der Erkenntnis für jeden historisch interessierten Zeitgenossen, der in Berlin lebt. So bringt der „Vorwärts“ einen profunden Artikel über die Karl-Marx-Schule in Neukölln – ein Vorbild der heutigen Rütli-Schule! Beide Zeitungen berichten beispielsweise auch über die per Gesetz erlassene Beschränkung der „ungerechtfertigt hohen“ Vorstandsgehälter in staatlich subventionierten Unternehmen durch die Reichsregierung. Wer Staatsknete bekommt, der muss auch hinnehmen, dass die Regierung die Managergehälter beschränkt.

Das war ein eindeutiger Eingriff in die Eigentumsrechte der Kapitaleigner durch die Regierung Hitler! Wie mag diese Maßnahme wohl auf den marxistischen Leser des Vorwärts gewirkt haben? Beschränkung der Managergehälter! Sie erraten es: Sie wurde mit Sicherheit begrüßt.  Die neue Reichsregierung strich offenbar ganz bewusst das sozialistische Element ihrer Programmatik in der Wirtschaftspolitik hervor. Das schuf ganz offensichtlich Zustimmung weit ins rote Lager hinein. Berlin blieb nicht rot, sondern wurde braun, wobei braun ja bekanntlich eine starken Rot-Anteil erhält.

Es lohnt sich in jedem Fall, einmal eine Ausgabe der Zeitungszeugen zu kaufen! Denn hier kann man erfahren, wie das Regime sich Schritt um Schritt Zustimmung sicherte.

Zeitungszeugen | Geschichte erlesen

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Jan 212012
 

Weiterhin steuern wir das Schifflein der Singgruppe an unserer Lomonossow-Grundschule durch das mäandernde Band der Wochen. Ab kommender Woche treffen wir Eltern uns jeweils am Dienstag (nicht mehr am Montag), um mit den Kindern bekannte deutsche Lieder einzulernen, die wir meist  einem von einigen Ungarn herausgegebenen, in China gedruckten Buch „Deutsche Volkslieder“ entnehmen. Die Ungarn, die Chinesen, das sind offenbar zwei Völker, die noch deutsche Volkslieder singen und sie wertschätzen.

Eltern, die mit Kindern einfache alte Lieder singen! Fast die letzten der Art, dieses klamme Gefühl beschleicht mich manchmal.

Doch große Hoffnung flößen mir andere Stimmen ein, die vom hohen Wert des Singens für die Kinder ebenfalls überzeugt sind: die Lehrer, mit denen ich spreche, viele Eltern, mit denen ich spreche, die Wissenschaftler, die sich dazu äußern. Toll: Am Evangelischen Gymnasium am Grauen Kloster gibt es einen Elternchor, der zu Weihnachten das Weihnachtsoratorium von Bach aufführte. Klasse! Gestern sehr gutes Interview in der Berliner Morgenpost auf S. 17 mit dem Prof. Eckart Altenmüller. Ein paar Leitmotive:

„Kinder, die viel singen, haben ein besseres Sprachgefühl.“

„Singen im Chor ist auf Harmonie ausgerichtet, man geht aufeinander ein, hört auf den anderen.“

„Der gemeinschaftsbindende Charakter ist offenbar beim Singen besonders stark.“

Singen stärkt das Immunsystem.“ Klasse, aber wovon leben dann die Immunologen, die sich doch darauf verlassen können müssen, dass die Zahl der Allergiker weiterhin steigt?  Sollen die alle zu Chorleitern umgeschult werden?

Ich bin überzeugt: Würden Kreuzberger Kita-Gruppen und Kreuzberger Grundschulklassen täglich zwei bis drei Mal ein gemeinsames Lied in deutscher Sprache in allen Strophen singen, zerstöben die niederschmetternden Sprech- und Sprachdefizite der Kreuzberger Kinder innerhalb weniger Jahre. Dass so viele Erwachsene, die hier in Kreuzberg geboren sind, hier aufgewachsen sind, hier die Kita und die Schule besucht haben, ihr Leben lang nur gebrochen Deutsch und kein Hochdeutsch reden geschweige denn schreiben, wäre ein Kapitel der Vergangenheit. Die zeitraubende Maschinerie der individuellen Sprachstandsmessungen würde weitgehend überflüssig.

Besonders erfreulich finde ich, dass es jetzt eine große Bewegung Klasse wir singen gibt, an der sich sogar Berliner Schulklassen beteiligen. Dort werden 16 Lieder – darunter Hey Pippi Langstrumpf, Der Mond ist aufgegangen, Morning has broken –   gemeinsam einstudiert und später bei einem viertausendstimmigen Konzert aufgeführt. Klasse. „Das Konzept sieht vor, dass sich Schulklassen geschlossen anmelden und sechs Wochen lang dazu verpflichten, mindestens ein Lied pro Tag während der Unterrichtszeit gemeinsam zu singen“, schrieb Annette Kuhn gestern in der Berliner Morgenpost auf S. 17.

Ein ermutigender erster Schritt auf dem Pilgerweg zu einer neuen Gesangs- und Sprachkultur. Klasse.

Bis 31. Januar 2012 können sich Schulklassen hier noch anmelden. Klasse. Macht es!

Interview: Eckart Altenmüller – „Singen stärkt das Immunsystem“ – Familie – Berliner Morgenpost – Berlin

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Jan 192012
 

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The British, the British, the British are best,
I wouldn’t give tuppence for all of the rest

Derartig stolzgeschwellte Bocksgesänge sang ich gern selbst gelegentlich mit meinen britischen Kolleginnen und Kollegen mit, wenn es um lustiges Laienspiel ging. Diese Zeilen fielen mir wieder ein, als ich kürzlich  „The Kaiser’s Holocaust – Germany’s forgotten Genocide“ von David Olusoga und Casper W. Erichsen las. Kein lustiges Thema. Die Autoren stellen bereits im Titel die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage. Denn wenn der deutsche Kaiser bereits in Deutsch-Südwest-Afrika einen Holocaust beging, wird dadurch unterstellt, es habe nicht nur einen von den Deutschen begangenen Holocaust gegeben. Die Deutschen wären erneut gebrandmarkt als das Volk des – diesmal doppelten – Holocaust. Soweit nichts Ungewöhnliches.

Gefröre einem nicht das Blut in den Adern, wäre man versucht zu singen:

The Germans, the Germans, the Germans are worst
I wouldn‘ give twoppence for all others‘ burst …

Dürfen die Autoren aber eigentlich die Einzigartigkeit des Holocaust in Frage stellen? Viele kluge und weniger kluge Argumente für und wider sind darüber gesagt und gedruckt worden.

Die Welt ist offenbar weiterhin einig, dass die Deutschen und nur die Deutschen die schlimmsten Menschheitsverbrechen begangen haben. Selbst die Deutschen fangen ja bereitwillig an dies zu glauben. Das geht so weit, dass man sagen kann: Selbst wenn es einen zweiten Holocaust gegeben haben sollte, hätten ihn denknotwendig immer noch die Deutschen und nur die Deutschen begangen. So bleibt alles in Ordnung. Das ist der Sinn des Buchtitels „The Kaiser’s Holocaust“.

Auf über 6 Millionen Tote schätzen Historiker die Zahl der in der Shoah (vulgärsprachlich Holocaust) von staatlichen Organen und deren willigen Helfershelfern ermordeten europäischen Juden. Staatliche Organe und Bürger fast aller europäischen Länder waren an diesem entsetzlichen Massenmord beteiligt. Historiker, die sich in die Archive und Zeitzeugenberichte hineinwagen, wissen es längst: Offenkundig war der Holocaust nicht die alleinige Schuld Deutschlands und der mit ihm verbündeten Staaten. Sowohl besetzte Länder als auch unbesetzte europäische Länder haben mit staatlichen Organen und mit Bürgern am Holocaust mitgewirkt.  So hat etwa der nicht von den Deutschen besetzte Teil Frankreichs, der Französische Staat (vulgärsprachlich „Vichy-Regime“ genannt), haben französische Polizisten und Gendarmen bereitwillig und ohne jeden Zwang Juden an den deutschen Staat zur Ermordung ausgeliefert.

6 Millionen – eine schreckliche Zahl, hinter der sich unbeschreibliches Elend und Grauen verbirgt!

Auf weit über 55 Millionen Tote schätzt der Historiker Norman Davies die Zahl der von staatlichen Organen und Institutionen Getöteten, die von 1917-1953  in der Sowjetunion und sowjetisch annektierten Ländern ums Leben kamen – wohlgemerkt ohne Kriegsopfer. Weit über 55 Millionen tatsächliche oder vermutliche, echte oder eingebildete Gegner der kommunistischen Diktatur verloren ihr Leben in systematischen oder willkürlichen Erschießungen, durch Hinrichtungskommandos, in Lagern, in Gefängnissen, wurden erschlagen, deportiert, vertrieben, in den Hungertod getrieben. Schrecklich.

„Ein Toter ist eine Tragödie – eine Million Tote sind nur Statistik“, so sagte Stalin einmal. Die staatlichen Organe der Sowjetunion haben von 1917 bis mindestens 1953 dementsprechend gehandelt. Hinter den Dutzenden und Dutzenden Millionen Ermordeter der kommunistischen Diktaturen in der Osthälfte Europas stecken Tragödien, zerbrochene Familien, zerstörte Existenzen, verwüstete Landstriche.

6 Millionen Ermordete! 55 Millionen Ermordete! Das sind atemberaubende Zahlen, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen. Leider muss man die ungefähren Opferzahlen zusammenrechnen, um eine Vorstellung von der Dimension der Verbrechen zu erhalten. Kein Zweifel kann daran bestehen, welches der beiden totalitären Regime mehr Ermordete durch brutale Repression auf dem Gewissen hat. Offenbar haben die kommunistischen linken Diktaturen durch Verfolgung und Repression insgesamt weit mehr Tote, weit mehr Ermordete in den eigenen zivilen Bevölkerungen verursacht als die nationalsozialistischen und faschistischen rechten europäischen Diktaturen.

Ob man nun den Holocaust oder die Shoah der europäischen Juden einzigartig nennt oder nicht, ist meines Erachtens zweitrangig. Man sollte sich nicht den Mund fusslig über Einzigartigkeit reden, sondern der Millionen Opfer aller systematischen Massenmorde, die sich gegen Völker, gegen Klassen, gegen echte oder eingebildete Feinde richteten, gedenken.

Jeder Mord ist in gewisser Weise einzigartig, ist das schlimmste Verbrechen. „Wer einen Menschen tötet, tötet die Menschheit“, sagen Talmud und Hadithe übereinstimmend.

Dass aber systematischer Massenmord sich geplant oder willkürlich gegen ganze Völker, gegen Religionen oder Menschengruppen, gegen Klassen oder Rassen richtete, ist leider in der Menschheitsgeschichte mehrfach vorgekommen. Es geschah in deutschem Namen in Deutsch-Südwestafrika, es geschah aber auch nicht minder brutal in belgischem Namen in Belgisch-Kongo, in französischem Namen in Algerien, in italienischem Namen in Libyen und Abessinien.

Das EU-Parlament sollte versuchen, auch den vergessenen Opfergruppen Gerechtigkeit im trauernden Gedenken widerfahren zu lassen. Dabei sollten Deutsche vor allem die Opfer der von Deutschen begangenen Verbrechen, Russen die Opfer der von Russen begangenen Verbrechen, Belgier die Opfer der von Belgiern begangenen Verbrechen, Europäer die Opfer der von Europäern begangenen Verbrechen betrauern. Nur aus der Trauer über die selbstbegangenen Verbrechen der eigenen Völker kann Versöhnung erwachsen.

Ganz anders sieht dies jedoch eine Gruppe von EU-Abgeordneten, – worüber heute die taz berichtet:

EU-Abgeordnete formulieren Appell: Der Holocaust ist einzigartig – taz.de

Quellenangaben:

David Olusoga und Casper W. Erichsen: The Kaiser’s Holocaust – Germany’s forgotten Genocide. Faber & Faber, London 2010

Frank Brendle: Der Holocaust ist einzigartig. taz online, 19.01.2012

Norman Davies: Categories of people killed in Soviet Russia and the Soviet Union 1917-1953 (excluding war losses, 1939-1945), in: Europe. A History. Pimlico, London, 1997,  S. 1328-1329

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„Ich brauche meine Familie“, oder: jede lebe ihren Stiletto!

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Jan 182012
 

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Der arme Kreuzberger Blogger genoss nach dem Frühstück das herrlich frauliche Gespräch zwischen den feschen Münchner Darstellerinnen Birgit Minichmayr und Bibiana Beglau in der neuen Vogue deutsch, ab S. 206. Lesenswert, da wär ich aber gern dabeigewesen! Ein klares, spielerisches Plaudern über den Zwang zur Androgynität auf deutschen Bühnen, in deutschen Filmen, die fest in der Hand der ewigen Jünglinge, der ewigen Mädchen sind – und deren Herrscher natürlich vorzugsweise ihresgleichen einkaufen und einstellen.  

Toll andererseits das Geständnis: „Ich brauche meine Familie“, so Birgit Minichmayr . – Na endlich singt jemand wieder ein sehr sehr verdruckstes Loblied der Familie. Schön. Wobei Familie stets die eigenen Eltern sind, nie der Mann, die Frau oder die eigenen Kinder. Eigene Kinder, eigener Mann, das kannst du als Künstlerin und öffentliche Frau nicht bringen, mindestens nicht in der Öffentlichkeit! Dann bist du nicht mehr en vogue! Denn jede lebt ihren Stiletto und tankt auf bei Mutti.

FreundInnen! Die neueste VOGUE erzählt so viel über unsere Gesellschaft! Zunächst einmal: Das völlige Verschwinden des Mütterlichen aus dem öffentlichen Frauenbild. Das Abmagern, das Hinmagern zum knabenhaften Körper! Herrlich dieses Hermaphroditische, artistisch herausgestellt in der Schwarz-Weiß-Photographie eines Axel Hoedt, in Frisur, Körperhaltung und Makeup!  Jeder, die magersüchtige Mädchen kennt, weiß, welche Leiden dieser gesellschaftliche Druck erzeugt. Und doch die tiefe Sehnsucht nach dem Mütterlichen – vorzugsweise von Frau zu Frau – aber eben unter Ausschluss des Kindes, unter völliger Leugnung des Kinderwunsches, unter Leugnung des Älterwerdens. Supi! So entsteht die organisch schrumpfende Gesellschaft. Ein schallender Beleg dafür sind die neuesten, gestern herausgekommenen Bevölkerungsstrukturdaten der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK)! Die Zahl der alleinlebenden Singles, der alleinlebenden Alten und der Alten überhaupt, die Zahl der zeitweilig zusammenlebenden Paare ohne Kinder nimmt weiter zu – das sind wichtige, geldwerte Daten für Konsumforscher, Städteplaner, Autobauer, Friseure und Designer.

Auch die politischen Parteien haben sich längst auf diesen Megatrend der Konsumforscher eingeschworen. Es gibt beispielsweise in Deutschland keine Partei, die offen das Gründen von Familien, das Zeugen und Aufziehen von Kindern, das Zusammenleben mit Kindern und mit Großeltern, das Gründen und Wachsenlassen einer Familie für ein vorrangiges Ziel der Gesellschaftspolitik erklärte. Ich persönlich halte es allerdings für ein überragendes Ziel.

Ebenso gibt es meines Wissens keine namhaften PädagogInnen oder BildungsforscherInnen mehr, die Erziehung zu zwischenmenschlicher Verantwortung zu einem der obersten Ziele von Bildung und Erziehung zu erklären wagten. Motto ist heute: JedeR sorge für sich – der Staat sorge für alle!

Wichtig sind heute Punktezahlen im VERA-Test, sind die Erfüllung der EU-Konvergenzkriterien, sind Bologna-Prozesse und Europäische Qualifikationsrahmen.

Was heute gesellschaftspolitisch zählt, sind Quoten: Studierendenquoten – mindestens 40% eines Altersjahrgangs müssen es schon sein, die die Universitäts-Hörsäle füllen. Dass händeringend HandwerkerInnen gesucht werden – egal! Auch zählen die Frauenerwerbsquoten: je mehr Frauen im Erwerbsleben, desto besser! Mutterwerden muss warten können oder ganz ausfallen.  Lohnabstandsgebote, demographische Faktoren, Inflationsausgleich, Rentenformel, Kleinkinderbetreuungsquoten – das sind die Stellschrauben.

Überragendes Ziel ist ausweislich der VOGUE und der Gesellschaft für Konsumforschung offensichtlich die komplett verwertbare, ewig junge, selbständige, mädchenhafte, androgyne, die vollkommene Frau, die ewige Tochter und marktgerechte junge Frau. Sie soll es auch noch genießen, sie soll glücklich sein dabei.

Ohne SORGE, seid OHNE SORGE!

Das Gespräch zwischen Birgit Minichmayr und Bibiana Beglau offenbart die tiefen Risse, das tiefe Unwohlsein in diesen einseitigen Zuschreibungen dessen, wie die moderne Frau zu sein hat. Die moderne Frau zahlt einen hohen Preis für ihr ständiges Streben nach Bühnen- und Marktgerechtigkeit.

Danke, Frau Beglau, danke, Frau Minichmayer!

Quellennachweis: SPIEL-LUST. Birgit Minichmayer und Bibana Beglau über Liebe, Nacktheit auf der Bühne und den Verdacht, eine Diva zu sein. Moderation: Eva Karcher. VOGUE deutsch, 2/2012, Februar 2012, S. 206-211

Mode, Trends, Beauty und People – VOGUE

Foto: die Kirche St. Nikolai am Gasteig, München, aufgenommen gestern

 Posted by at 20:28

Die guten Nachrichten des Tages

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Jan 152012
 

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Gute Nachricht 1:Der arme Blogger hat soeben einen N150 Wireless ADSL2+ Modemrouter erfolgreich – diesmal fehlversuchsfrei, diesmal sogar ohne Hilfe seines weit technik-kundigeren Sohnes – installiert. Alle, die mich besuchen, dürfen auch mal surfen, besonders mein weit technikkundigerer Sohn!

Gute Nachricht 2: Von Erna Woll, einer Komponistin, die wir in meiner Kindheit einige Male besuchen durften, entdeckte ich ein Lied beim Blättern durch ein vor wenigen Tagen im Kreuzberger Buchladen Anagramm gekauftes Buch. Ja, sie war ja eine Norddeutsche, und mit der spröden Schönheit ihrer Musik hatte sie es in Bayern nicht leicht! Ein paar Verse über gute Erziehung entnehme ich daraus – Lothar Zenetti dichtete sie:

[…]  hilf uns ihm zu helfen
daß es greifen lernt mit seinen eignen Händen
nach der Hand seiner Freunde,
nach Maschinen und Plänen,
nach dem Brot und den Trauben […]

Gute Nachricht 3: Die erste computergefertigte Papier-Ausgabe des „Kerzendorfer Blitzes“, herausgegeben von W. (9 Jahre), ist da! Auflage: 8 Stück. Rubriken:
Witziges
Kerzendorf-Nachrichten
Es weihnachtet sehr
Eisenbahniges
INTERNET (Sondermeldung),
Einkauftipps
Alles wohlgemerkt ohne Hilfe des Vaters oder eines anderen Erwachsenen!

Unser Foto zeigt einen Blick nach Kerzendorf, aufgenommen noch im Dezember 2011

Quellenangaben:

NETGEAR N150 Wireless ADSL2+ Modemrouter DG1000B Installationsanleitung Ressourcen-CD

Gotteslob Morus Vrlg Brln üb.arb. Aufl. 1996 GL 636 S 593

Kerzendorfer Blitz Ausgabe 1/2012 Kreuzberg 14. Januar 2012

 Posted by at 00:41
Jan 122012
 

Gepriesen sei der unerschöpfliche Vorrat türkischer Sprichwörter! Mit kaum jemand unterhalte ich mich so gern wie mit den Kreuzberger Türken — oder Türk-Innen, wie ich korrekterweise und hässlicherweise sagen müsste. Fast immer springt eine verbindende Einsicht in Form einer Volksweisheit heraus.

„Unter den Füßen der Mütter ist das Paradies!“ Das erfuhr ich gestern. DARÜBER kann man aber lange nachdenken. Und das ist ja auch der Sinn der Sprichwörter.

 Posted by at 12:26
Jan 092012
 

Weiterhin schwierig bleibt die hochdeutsche Sprache für uns Deutsche! Hier wieder ein beliebiges kleines Fundstück, diesmal aus der aktuellen Berliner Zeitung. Als Hintergrund sei erklärt: Ein malaysischer Politiker wurde von einem Gericht des Landes für unschuldig erklärt. Anwar Ibrahim habe sich nichts Strafwürdiges zuschulden kommen lassen. Denn er sei gar nicht homosexuell, und darüber jubelt die deutsche Presse von SPIEGEL bis TAGESSPIEGEL einmütig. Es war also nichts dran an der grundlosen Unterstellung, er sei homosexuell. Es war also nur versuchter Rufmord. Große Erleichterung für die deutsche und die malaysische Presse! Alles in Butter für unsere butterweiche deutsche Presse!

Dass nicht nur in Malaysia, sondern in vielen Ländern homosexuelle Handlungen unter hohen Gefängnisstrafen oder gar unter Todesstrafe durch Steinigung verboten sind, kümmert die deutsche Presse in ihrem Jubel nicht. Die Journalisten sind ja auch alle tagaus tagein mit Herrn Wulff beschäftigt. Da können sie sich tummeln – ohne jede Strafandrohung. Toll. Alles in Butter.

Hier unser deutscher Satz des Tages aus der Tagespresse:

Malaysia: Freispruch für Oppositionsführer Anwar Ibrahim | Politik – Berliner Zeitung
„Die Proben waren am Körper des ehemaligen Mitarbeiter – dem Hauptbelastungszeugen – gefunden worden.“

Richtig war bis meines Erachtens bis vor wenigen Jahrzehnten:

„Die Proben waren am Körper des ehemaligen Mitarbeiters – des Hauptbelastungszeugen – gefunden worden.“

Denn nicht der Körper des ehemaligen Mitarbeiters, sondern der ehemalige Mitarbeiter war Hauptbelastungszeuge. Sonst wäre es Mord gewesen.

Man nannnte das Phänomen Genitiv.

 Posted by at 13:21
Jan 092012
 

Mit zünftigen Anhängern der Augsburger Panther heizte ich am Donnerstag im Kreuzberger Yorckschlösschen für das Match gegen die Berliner Eisbären vor.

„Bei euch in Berlin wird noch um 21 Uhr der Briefkasten geleert!“, staunte ein Panther, als ich einen Brief vor dem Rathaus Kreuzberg einwarf. „Bei uns in Augsburg wäre das undenkbar!“. „Ja, so ist das bei uns“, erwiderte ich: „Nehmt Briefkastenleerung, nehmt Kindergartendichte, nehmt Zahl der Lehrer pro Schüler, nehmt BVG-Taktung, Schuldnerberatung  oder Sozialarbeiter, Warmwasserbeheizung im Prinzenbad – bei uns ist der öffentliche Dienst üppigst ausgebaut. Die Stadt tut alles, was sie kann, um ihre Bürger, die Prinzen, bei guter Laune zu halten. Jetzt haben wir sogar auch eine öffentliche Beratungsstelle gegen Spielsucht in der Wartenbergstraße – zusätzlich  zu all den herrlichen neuen privaten Spielhallen in Kreuzberg-West, die überall aus dem Boden sprießen!“, pries ich das öffentliche Füllhorn.

„Und das Beste ist: Alle Südstaatler können hier in Kreuzberg ihre Post um 21 Uhr einwerfen, sie kommt dann eher in Augsburg an, als wenn sie sie in Augsburg selbst einwürfen!“ Ich geriet aus dem Hymnus auf die Großzügigkeit der arbeitsamen Südstaatler gar nicht mehr heraus.

Im Yorckschlösschen zeigte ich mich als redlicher Empfänger der wundersamen Geldgeschenke. Ich begann die Trinkrunde mit einem tiefempfundenen Dankeschön eines Berliners an die südlichen Bundesländer:

„Danke an euch Bayern und Schwaben, dass ihr Jahrzehnt um Jahrzehnt Dutzende von Milliarden ohne Murren und Klagen an uns Berliner überweist. Denn ihr wisst ja, dass wir Berliner nur etwa 42% unseres Haushaltes selbst erwirtschaften, alles andere, mehr als die Hälfte unseres Geldes kommt von euch, ihr edlen Spender, ihr anderen Bundesländer! Ihr seid um so mehr zu preisen, als die öffentliche Versorgung mit Geschenken und Wohltaten in euren Bundesländern nicht im entferntesten an uns heranreichen kann! Seht, wie gut euer sauer erarbeitetes Geld hier in Berlin gedeiht! Seid willkommen in Kreuzberg, oh Augsburger!“

Prost! Aber hallo!

Bild: So sah es gestern im Yorckschlösschen aus.

 Posted by at 00:20

La verità è contro-vertibile – die umkehrbare Wahrheit

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Jan 052012
 

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Zu Beginn des unterhaltsamen Buches Der Name der Rose versetzen wir uns in eine Mönchsseele hinein. Sie sagt, es sei ihre Aufgabe, jeden Tag das einzige Ereignis zu wiederholen, dessen Wahrheit unbestreitbar sei, oder, in der unvergleichlich anmutigen Lautung der Muttersprache des Jubilars, der heute seinen 80. Geburtstag feiert:

ripetere ogni giorno con salmodiante umiltà l’unico immodificabile evento di cui si possa asserire l’incontrovertibile verità.

Schön gesagt! Und umgekehrt drückt’s auch das aus, worin ich das Wesen dieses großartigen Europäers, dieses unerschöpflichen Geschichtenliebhabers und Rätselerzählers sehe: Die Wahrheit ist bestreitbar, die Wahrheit ist im Wortsinn umkehrbar, sie ist ein wieder holbares Ereignis, sie ist das Ereignis der Wieder-Holung.

Ich entbiete somit Umberto Eco con salmodiante umiltà allerherzlichste Glückwünsche zur 80. Wiederholung des unbestreitbar großen, ja vielleicht des unbestreitbar größten Ereignisses seines Lebens!

In aenigmate la verità!

Quelle:

Umberto Eco: Il nome della rosa. Gruppo editoriale Fabbri, XXVII edizione „I Grandi Tascabili“, Milano, febbraio 1990, Seite 19

 Posted by at 12:55

Wo war eigentlich das Wort am Anfang?

 Griechisches, Johannesevangelium, Koran, Latein, Novum Testamentum graece  Kommentare deaktiviert für Wo war eigentlich das Wort am Anfang?
Jan 032012
 

In the beginning were the words … so leitet der aktuelle Economist seine sehr kluge, sehr bedachte Umschau über die kritische Erforschung des Korans ein (S. 42-43). Lesenswert!

Also: Am Anfang waren die Worte. In der Tat, ausgerechnet am 27. Dezember kamen wir wieder jene vielzitierten Einleitungssätze des Johannes-Evangeliums in den Sinn, an denen sich der arme Faust schon abmühte:

Geschrieben steht: >>im Anfang war das W o r t!<<
Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir weiter fort!
Ich kann das W o r t so hoch unmöglich schätzen,
Ich muß es anders übersetzen, […]

Eine kleine Übersicht in  wichtigen europäischen Sprachen der Jetztzeit ergab, dass alle das griechische Logos mit Wort (verbum, parola, слово, …) übersetzen. Es ist eine ur-europäische Tradition: das schaffende, das gesprochene, das zeugende Wort rückt im Johannes-Prolog in die höchste Wertigkeit auf.

Wie geht der Text weiter? „Sie können doch Griechisch – zitieren Sie doch mal bitte!“ So fragte mich kürzlich eine Runde an Fragenden. Ich ließ mich nicht bitten und antwortete:

καὶ ὁ λόγος ἦν πρὸς τὸν θεόν

… und merkwürdig, da fiel mir zum ersten Mal auf, wie seltsam dieses pros ton theon klingt. Ja, wer da mit den Augen hören, mit den Ohren denken möchte! Wer griechische Texte nicht nur stumm liest, sondern sie gelegentlich auch laut rezitiert, dem muss dieses πρὸς τὸν θεόν hart aufstoßen. Es klingt irgendwie falsch. Denn diese Präposition pros drückt zusammen mit dem Akkusativ  stets eine Richtung, eine Bewegung aus, fast niemals aber einen ruhenden Ort – pros mit Akkusativ bedeutet motus ad locum, nicht situs in loco. Dies gilt unverrückbar für die gesamte griechische Sprache bis weit über die Zeitwende hinaus – es gilt ohne Ausnahme auch für den Sprachgebrauch des Evangelisten Johannes.

Ich meine aus diesem Grund, dass die übliche vulgärsprachliche Übersetzung  nach der Vulgata „et verbum erat apud deum“ – „und das Wort war bei Gott“ den Sinn des zweifelsfrei überlieferten originalen griechischen Wortlautes nicht treffend wiedergibt.

Denn die Präpositionen bei oder auch lateinisch apud drücken keine Bewegung, sondern einen festen Ort aus. Ihr seht: Wie der arme Faust bin ich unzufrieden mit den jahrtausendealten verehrten Übersetzungen. Sie sind mir zu statisch, nicht dynamisch genug!

Es gibt jedoch eine Übersetzungsmöglichkeit, die das im griechischen Text Angelegte besser verstehbar macht, nämlich das lateinische „ad“ bzw. das deutsche „zu“.

Ich meine somit, als Übersetzung des griechischen

καὶ ὁ Λόγος ἦν πρὸς τὸν Θεόν

folgende Möglichkeiten vorschlagen zu dürfen:

lateinisch: et verbum erat ad deum

deutsch: und das Wort war zu Gott

Dieser deutsche Satz klingt ungewöhnlich, klingt gewagt – und genau so klingt auch das griechische Original, wie jeder gute Kenner des Griechischen bestätigen wird.

Wagnis – Ungewöhnliches – Regelverletzung!

Diese beiden Übersetzungen sind grammatisch zweifellos näher am griechischen Wort, sie eröffnen darüber hinaus ein räumlich-bildliches Verständnis des Prologs, das geeignet ist, auch die nachfolgenden Texte und Gleichnisreden besser, nämlich körperlicher zu begreifen. Man braucht dann viel weniger Theologie, viel weniger Kommentar, viel weniger Regalmeter Sekundärliteratur, wenn man mithilfe guter, freilich unerlässlicher Vertrautheit mit dem Griechischen versucht, diesen Grundtext, wie ihn der arme Faust nennt, besser zu verstehen.

Johannes sagt also:

Das Wort war zu Gott.

Es war nicht ortsfest, nicht am festen Ort angekommen, es war am Anfang nicht bei Gott, sondern es war unterwegs, es war gerichtet auf denjenigen, den keiner je gesehen hat.

Quellen:

Muslims and the Koran: In the beginning were the words | The Economist December 31st 2011-January 6th 2012, Seite 42-43

Johann Wolfgang Goethe: Faust. Texte. Herausgegeben von Albrecht Schöne. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main, 1999, S. 61

Nestle-Aland: Novum testamentum graece, ed. vicesima septima, Deutsche Bibelgesellschaft, Suttgart 1999, S. 247

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