Der leicht zum Schmollen aufgelegte Kreuzberger (siehe Bild!) schmökert noch einmal genüsslich in Jacques Attalis spannendem Buch „Tous ruinés dans dix ans?“, erschienen im Jahr 2010, das ihn damals stark in seinen volkswirtschaftlichen Analysen mitprägte. Zahlreiche Entwicklungen hat Attali zutreffend vorausgesagt; er erwartete damals, im Jahr 2010, stark ansteigende Spannungen innerhalb des Euro-Währungsverbundes; er entwarf auch ein mögliches düsteres Szenario, das etwa 2020 zum Auseinanderbrechen des Euro-Verbundes führen werde, und zwar wegen der auf Dauer nicht beherrschbaren Staatsverschuldung, die von den starken EU-Volkswirtschaften allein (bsd. Deutschland) nicht mehr geschultert werden könne (Le scénario du pire, Kapitel 6).
Staaten, so führt Attali aus, verschulden sich seit Menschengedenken namens ihrer Souveränität im Bewusstsein ihrer „Ewigkeit“; sie glauben nicht daran, dass sie je scheitern könnten. Und doch gab es in Europa viele Staatsbankrotte, ausgelöst durch Überschuldung, Verschwendung, Misswirtschaft, Kriege und Eroberungen. Ein Beispiel: „Le 10 décembre 1893, le Premier ministre grec annonce, après cinquante ans de surendettement, le défaut de son pays“ – Staatsbankrott Griechenlands am 10.12.1893 (S. 82).
Die Staatsverschuldung ist in der Tat seit 2001 im Großen und Ganzen in den Industrieländern weiter angestiegen, sogar in Deutschland, das mehr Steuern einnimmt als je zuvor.
Super spannend find ich folgendes: Attali nimmt das Modell der sozialen Marktwirtschaft eines Ludwig Erhard/Konrad Adenauer in dessen Eigenart nicht zur Kenntnis – und Attali gleicht darin fast aufs Haar der heutigen Jakob-Kaiser-Angela-Merkel-CDU! Die ordoliberale Freiburger Schule ist ihm offensichtlich unbekannt, er zitiert keinen einzigen deutschen Volkswirtschaftler. Sein Literaturverzeichnis bringt nur französische und englischsprachige Autoren! Ludwig Erhard wird nirgends erwähnt.
Die Frage drängt sich auf: War denn die alte Bundesrepublik Deutschland vor 2001 so schlecht, dass sie nun im Zeichen des Euro ihr ganzes Erfolgsmodell, das von 1948 bis 2001 höchst belastbar war, sang- und klanglos dem Euro opfert? Dazu findet im Bundestagswahlkampf keine richtige Debatte statt. Warum eigentlich?
Attali schlägt als Lösung – wie etwa die deutschen Grünen – die Vergemeinschaftung aller Staatschulden und die Ausgabe von Eurobonds vor, kombiniert mit einer starken zentralen Bankenaufsicht. Gerade heute verlangt in eben diesem Sinne EZB-Direktor Asmussen die zentrale Oberaufsicht der EU über alle Banken.
Das würde bedeuten, dass eine zentralistische europäische Instanz über Wohl und Wehe, über Sein oder Nichtsein jeder einzelnen Bank entscheiden darf – nicht der Markt, nicht die Eigner und schon gar nicht die einzelnen Staaten! Das ist Über-Staatswirtschaft, das ist ein weiterer Schritt zur EU-Planwirtschaft! Jeder kann sich ausmalen, was das etwa für die deutschen Sparkassen und Raiffeisenbanken bedeuten würde!
Von finanzpolitischer Subsidiarität, von Föderalismus ist in Europa kaum mehr die Rede. Wundern sollte uns das nicht. Weil halt leider niemand mehr Deutsch lernt. Das Deutsche hat furchtbar schlechte Karten in der EU – obwohl es die am häufigsten gesprochene Muttersprache der EU ist. Selbst Bundespräsident Gauck hat ja in seiner Europa-Rede am 22. Februar 2013 vorgeschlagen, das Deutsche zugunsten des Englischen ganz aus dem zwischenstaatlichen Verkehr der europäischen Länder zu ziehen.
Das völlige Verleugnen der guten deutschen Traditionen, die Selbstaufgabe der Mutter- und Wissenschaftssprache eines Goethe, Albert Einstein, Franz Kafka, Hannah Arendt, Heinrich Heine, Rainer Maria Rilke, Karl Marx, Ludwig Erhard, Sigmund Freud, Ursula Goetze (ehem. Kreuzberg, Hornstraße 3) oder Immanuel Kant zugunsten des Englischen und allenfalls noch des Französischen, die Selbstaufgabe der sozialen Marktwirtschaft und der ordoliberalen Schule der Volkswirtschaft durch uns Deutsche selbst, diese Preisgabe der guten deutschen Traditionen sogar durch die aktuelle Bundesregierung unter Bundeskanzlerin Merkel und sogar durch den Bundespräsidenten Gauck finde ich unendlich traurig, ja niederschmetternd. Traurig finde ich den unnötigen Verzicht auf die deutsche Sprache, traurig das hinterrücks durchgesetzte Aufgeben der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik Deutschland zugunsten eines Währungs- und Machtverbundes, der selber bisher keinerlei legitime Staatlichkeit für sich beanspruchen darf. Wir Bürger sind dazu nicht gefragt worden! Das ist nicht die Freiheit, die wir meinen!
Traurig ist auch, dass die volkswirtschaftliche Debatte in den Euro-Ländern, ja sogar in den eigentlich benachbarten Ländern Deutschland und Frankreich so komplett unterschiedlich verläuft. Das kluge, profunde Buch von Attali ist ebenso ein Beleg dafür wie die durchweg national – nicht europäisch – gesonnenen Verlautbarungen des Spitzenpersonals in Ländern wie Frankreich oder Italien. Es lohnt sich, die volkswirtschaftliche Literatur in den anderen Sprachen der EU zu lesen! Damit die Länder der EU nicht so komplett aneinander vorbeireden wie bisher, hélas!
Buchtipp:
Jacques Attali: Tous ruinés dans dix ans? Dette publique: la dernière chance. Paris, Fayard 2010
Bild: ein schmollender Kreuzberger, Aufnahme vom Park am Gleisdreieck, bei der Halfpipe, 01. September 2013