Donnerstag, 27. Juli 2023. Der Morgen ruft uns beiden in einer Unterführung ein herzliches „Griaß enk!“ entgegen, „[Ich entbiete meinen] Gruß euch beiden“, denn dieses „enk“ entstammt bekanntlich im Bairischen dem alten Pronomen personale dualis, also dem altehrwürdigen Dativ-Dual der frühen germanischen Sprachen, der im heutigen Hochdeutschen völlig verloren gegangen ist (vgl. gotisch „igquis“ = euch beiden).
An der Bushaltestelle besteigen wir um 08.18 Uhr den Bus, der uns auf langen gewundenen Serpentinen hinunter nach Jenbach bringt. Dort besteigen wir die Zillertalbahn nach Mayerhofen, die schon wartend am Bahnsteig steht. Ich nutze die Wartezeit um zu bestaunen, wie am Nebengleis die Dampflokomotive der Zillertalbahn befeuert wird. Zentnerweise lädt ein Heizer Kohle in die Ladeluke des Dampfrosses.
Bräunlich-rußige Schwaden dringen aus dem vorderen Schlot. Hinten steigt weißer Dampf aus den erhitzten Wasserkesseln. Diese Männer verrichten die gleichen Arbeiten, wie sie schon vor 130 Jahren verrichtet wurden! Was wäre unsere Welt ohne den tiefgreifenden, flächendeckenden Einsatz der fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl, Erdgas – und des Stickstoffdüngers! Der heutige Wohlstand, die Freiheit von Armut und Hunger, die früher unvorstellbar hohe Lebenserwartung, die in unseren europäischen Gesellschaften alle, wirklich alle genießen, wäre überhaupt nicht denkbar. Diese Gedanken schießen mir durch den Sinn.
Vom Bahnhof Fügen-Hart, wo wir aussteigen, gehen wir durch den Ort zur Talstation der Spieljochbahn. Die Seilbahngondel teilen wir uns mit einer Berliner Familie, die uns aufklärt, dass die vor wenigen Tagen in Berlin-Zehlendorf gesichtete Löwin kein Wildschwein, sondern eben doch eine Löwin gewesen sei. Ha! Dies habe sich erst am Vortag (also am 26. Juli) endgültig bewahrheitet, doch werde diese Wahrheit bewusst in einer medialen Verschwörung von Polizei, Presse und Politik unter der Decke gehalten, um einen bekannten, in Neukölln beheimateten Clan zu decken. Da wir das Internet derzeit kaum nutzen, können wir den Wahrheitsgehalt dieser Aussage nicht überprüfen. Haben die redseligen Berliner uns etwa erneut einen Bären aufgebunden? In der Bergluft sind die Gedanken ja so frei, für einen guten Witz ist immer Zeit!
Mit dieser Seilbahn erreichen wir die Bergstation (1885 m). Im Süden weit drüben grüßen uns gut sichtbar die erhabenen Dreitausender des Alpenhauptkamms, der Hohen Tauern, darunter auch der vergletscherte Großvenediger.
Vom Spieljoch wandern wir zur Gartalm (1849 m). Dort verweilen wir nachdenklich an authentischem Ort vor dem Denkmal für Bruno, den am 30. Mai 2006 hinterhältig geschossenen, den räuberischen „Problembären der Herzen“.
„Fort, fort von hier zum Loassattel!“ Über liebreizende Almhänge, die von Kühen beweidet werden, geht es sanft bergab durch den Nadelwald, an dessen Ende eine idyllisch gelegene Bank an einem Bohlensteg und einer Viehtränke uns zur Pause verlockt.
Und tiefer, immer tiefer führt uns der Abstieg ab dem Loassattel; wir erreichen schließlich den Fahrweg, der uns in den zur Sommerzeit eher verlassenen Wintersportort Hochfügen (1480 m) führt. So rücksichtslos man auch die Skipisten rings um Hochfügen freigerodet hat, scheint der Hunger des Menschen nach immer neuen Natureingriffen, nach Kahlschlagrodungen immer noch nicht gestillt, denn geraume Zeit begleiten uns weitere, erst vor kurzem mit Stumpf und Stiel von Wald und Baum befreite Flächen. Warum ist das so, endet denn nie des Menschen Raubwerk an Wald und Forst, an Baum und Blatt?
Des Rätsels Lösung erfahre ich im Ort selbst von Bewohnern: Hier wird im Zuge eines ökologischen Vorzeigeprojektes die Wärmeversorgung dezentral von individuellem Hausbrand auf Ortswärme umgestellt. Und dazu ist eine großflächige Abholzung bestehenden Waldes, das Aufreißen kilometerlanger Straßen und Gräben, das unterirdische Verlegen von neuen Rohren unerlässlich. Ja, das weitere planvolle, gewiss auch räuberische Zerstören und Umformen, Umgestalten der Natur durch das „Problemtier der Herzen“, den Menschen, wird auch während und nach der ach so hoch gerühmten Energiewende ungemindert weitergehen! Das gilt im Kleinen wie im Großen, in Hochfügen ebenso wie jenseits der Landesgrenzen, in Deutschland. Es wäre eine gefährliche Illusion zu glauben, das Wirken des Menschen könne gegenüber der Natur oder dem Klima je neutral werden. Das war es in der Weltgeschichte nie und wird es auch nie sein – wie man an diesem ökologischen Vorzeigeprojekt in Tirol sehen kann.
Dessen ungeachtet nehmen wir ruhigen Gewissens in Dankbarkeit das vegetarische Abendessen in unserem Nachtquartier ein. Es gibt Tiroler Gröstl und Bergsteigersalat mit frischem Blattwerk und Sprossen, dazu alkoholfreies Weizen und Johannisbeerschorle. [Zusatz vom 13.08.2023: Reiseleitung korrigiert: Das Abendessen war nicht vegetarisch, da das Tiroler Gröstl mit Speck gereicht wurde!] Köstlich, unsere Energiespeicher werden aufgefüllt!
Und mitten in der Nacht werden wir unvermutet wach, treten wir hinaus auf den Balkon und erblicken das größte Wunder des heutigen Tages: den gestirnten Himmel über den Bergen, hoch oberhalb des Lichtsmogs der räuberischen Städte im Flachland: die Milchstraße schimmert und funkelt Millionen von Lichtjahren entfernt auf uns herab.
Sind durch die Nächte die Lichter gewunden,
Reiht sich heilig Stern an Stern;
Alles ist ewig im Innern verbunden
Grüßt von nah und grüßt von fern.