Wie heißt du: Hansi, Johannes, Ἰωάννης, יֹוחָנָן, Yahya, يحيى, Ivan, Wanja…?

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Aug 292020
 

Ἰωάννης ἐστὶν ὄνομα αὐτοῦ. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. „Sein Name ist Johannes. Und da gerieten alle in Verwunderung.“

So beendet der Evangelist Lukas die äußerst erstaunliche Geschichte der Namensfindung des nach christlichem Glauben letzten Propheten des alten Judentums, Johannes des Täufers. Beachtlich: Der Name wird dem jungen Juden beim Beschneidungsfest nicht durch den Vater, sondern durch seine Mutter Elisabet beigelegt. Sie ist es, die sich dem Wunsch der Verwandten und Nachbarn widersetzt und den vorgeschlagenen Vatersnamen Zacharias ablehnt. Sie ist es, die entgegen dem Drängen der Umstehenden NEIN sagt und anordnet: οὐχί, ἀλλὰ κληθήσεται Ἰωάννης. – „Nein, der wird Johannes heißen!“ Der seit längerem durch Sprachverlust gezeichnete Vater Zacharias stimmt zu – und dank seiner Zustimmung gewinnt er seine Sprechfähigkeit wieder. Und da gerieten alle in Verwunderung.

Die Vorbesichtigung der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin am Freitag, dem 21. August, spätnachmittags bot uns reichlich Anlass, über die gegenstrebigen Verwebungen des Judentums und Christentums nachzudenken. Verwebungen, die sehr tief gehen, die die Sprachgrenzen überschreiten, die enge Verwandtschaften und Nachbarschaften verbunden und zerrissen haben, oft auf schmerzhafte Weise.

Am Beginn der beeindruckenden neuen Dauerausstellung wird man aufgefordert, den eigenen Namen ins Hebräische „übersetzen“ zu lassen – ich gebe meinen Namen ein, und es erscheint mein deutscher Name in hebräischen Buchstaben transliteriert, wie man ihn heute in hebräischen Texten lesen kann: יוהנס

Ins Hebräische zurückübersetzt würde er anders lauten – nämlich   יֹוחָנָן / Jochanan, denn bekanntlich ist ja die griechische Namensform Johannes eine „Übersetzung“ aus dieser hebräischen Namensaussage, die in etwa bedeutet: „Gott tut immer wieder mal aus eigenem Wollen etwas Ungewöhnliches, etwas Großes, etwas Tolles! Gott ist gnädig.“

Der ungewöhnliche Akt der Rebellion der weiblichen Namensfindung – gegen den Mehrheitswillen der Nachbarn und Verwandten – verhalf diesem Namen in der gesamten christlichen Welt zu einer ungeheuren Karriere, denn in allen europäischen Sprachen, aber auch im arabisch-islamischen Kulturraum ist er ein geläufiger Vorname geworden. Im deutschen Mittelalter wurde er etwa jedem zweiten männlichen Deutschen beigelegt. Johann Sebastian Bach und Johann Wolfgang Goethe sind zwei berühmte Träger dieses Namens, denen ich in meinem eigenen Leben seit vielen Jahren einen überragenden Platz gleich hinter jenem jüdischen Propheten, dem Weggefährten, Taufspender, Verwandten und Schicksalsgenossen Jesu zuspreche.

Was liegt an einem Namen? Viel, manchmal alles! Der Cheftrainer des FC Bayern München, Hansi Flick – bürgerlich Hans-Dieter Flick – besteht darauf, dass er mit seinem seit Kindheit vertrauten Rufnamen angesprochen wird. Auch dieses „Hansi“ ist eine späte Verwandlung dieses erstaunlichen Namens Jochanan, der es nun bis auf den beifallumtosten Gipfel der europäischen Champions League gebracht hat. καὶ ἐθαύμασαν πάντες. Beim Triumph des Hansi Flick geriet die gesamte Weltfußballöffentlichkeit in Erstaunen, ja in Verzückung.

Die ungeheure Karriere dieses Namens Johannes geht also weiter. Er ist topaktuell. Und uraltes Erbe des Judentums.

Belege:
Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 181-182 (Lc 1,59-66). Übersetzung aus dem Griechischen durch Johannes Hampel

Christian Eichler: Trainer Flick und seine Bayern-Bande. Der Champions-League-Sieger. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.08.2020 (Online-Ausgabe)

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Pied Beauty. An einem Sonntag in dieser Zeit

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Apr 192020
 
Pied Beauty – Gesprenkelte Schönheit

Kurzes, stummes Innehalten vor
dem bunt gesprenkelten Bild, den
hingetupften Blüten der Bäume,
den blumengesprenkelten Rainen
und dem üppig emporwuchernden
Kraut, dem Gewürm, dem unordentli
chen Durcheinander, das unsere Welt
so schön macht an diesem Sonnentag,
der wie ein immerwährender Sonntag
erscheinen mag dank DIR!

Ich greife in all dieser Pracht dankbar zu einem entzückenden, rätselvollen Gedicht des englischen Dichters Gerard M. Hopkins. Es heißt

Pied Beauty

Glory be to God for dappled things –
   For skies of couple-colour as a brinded cow;
      For rose-moles all in stipple upon trout that swim;
Fresh-firecoal chestnut-falls; finches’ wings;
   Landscape plotted and pieced – fold, fallow, and plough;
      And áll trádes, their gear and tackle and trim.

All things counter, original, spare, strange;
   Whatever is fickle, freckled (who knows how?)
      With swift, slow; sweet, sour; adazzle, dim;
He fathers-forth whose beauty is past change:
                                Praise him.

https://www.poetryfoundation.org/poems/44399/pied-beauty

Zitatnachweis:
Gerard M. Hopkins: Pied Beauty, in: The Oxford Book of English Verse. Edited by Christopher Ricks. Oxford University Press, 1999, S. 509

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Gesungenes Licht der Zuversicht. Eine Gnade

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Nov 052019
 
Zirbenwald im Ötztal

„Herr der Gnade, Gott des Lichts,
laß dein Alles und mein Nichts
mich zur Demut treiben…!“

Herrliche, beseligte Augenblicke erlebte ich am Sonntag beim Singen von drei barocken Arien in der Hochmeisterkirche. Telemann bringt die demütigen und doch stolzen Worte des Matthäus Arnold Wilckens zum Leuchten, zum Schweben, zum Heben, zum Leben! Zum Niederknien, zum Aufschauen! Aug in Auge mit dem Übersteigenden, ergeben und herausfordernd sang ich in die Mauern hinein, durch die Mauern hindurch, hinauf zur Kirchturmspitze, wo der Falke ein und aus fliegt – und darüber hinaus! Danke an Kathrin, danke an Christian, die Ihr uns das möglich gemacht habt!

Diese drei Arien waren es:

„Auf ehernen Mauern, auf marmornen Gründen ruht
unserer Hoffnung Zuversicht…“ TVWV 1: 96

„Seele, lerne dich erkennen,
lauter Stückwerk ist zu nennen,
was der Menschen Witz vermag…“ TVWV 1: 1258

„Herr der Gnade, Gott des Lichts,
laß dein alles und mein Nichts
mich zur Demut treiben.
Ist, was mein ist alles dein,
ach! so muss ja dir allein auch was dein ist bleiben.“ TVWV 1: 399

Gesungen nach folgender Ausgabe:
Georg Philipp Telemann: Sechs Arien aus dem Harmonischen Gottesdienst. Für hohe Stimme, Altblockflöte und Generalbass. Partitur. Carus Verlag, Stuttgart 1972/1992

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Die Region Lausitz legt ihr Schicksal bis 2038 vertrauensvoll in die Hände der Bundesregierung

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Jan 282019
 
https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/int/201901/28/307636.html

Hörenswertes Interview heute früh im rbb Inforadio mit Christine Herntier, der Bürgermeisterin von Spremberg, die zum für das Jahr 2038 endgültig und unwiderruflich vorgeschlagenen Kohleausstieg befragt wird. Ob sie zufrieden sei mit dem, was die Kohlekommission empfehle? Die Bürgermeisterin gibt eine klare Antwort. Die Lausitz füge sich schicksalsergeben in das, was da kommen möge: „Ob wir zufrieden sein können, das werden wir in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sehen. Denn das ist nicht davon abhängig, was wir dort wirklich schweißtreibend verhandelt haben. Das ist davon abhängig, wie konsequent die Bundesregierung diese Vorschläge jetzt auch umsetzt. Erst wenn das wirklich Wahrheit wird, wenn es in Gesetze gegossen wird, können die Beteiligten zufrieden sein.“

Wir halten fest: Die Zufriedenheit der Region Lausitz, als deren Interessenvertreterin Herntier in der Kohlekommission der Bundesregierung mitwirkte, liegt in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in vollständiger Abhängigkeit von der Bundesregierung. Die Bundesregierung trägt folglich die Verantwortung für die „Wahrheit“, für das Wohlergehen der Region. Die Region selbst wird in eine stärkere Abhängigkeit von der 40 Mrd. Euro verteilenden, „helfenden“, „fördernden“ Politik hineingleiten. Die Region kann ihr Schicksal nicht mehr selbst gestalten. Die Region wird dann – nimmt man die Aussage der Bürgermeisterin ernst – von Gnaden der Bundesregierung leben.

Unser Befund: Einige tausend Arbeitsplätze werden durch die Schließung von Kraftwerken wegfallen; der Region wird also gewissermaßen ein Teil des wirtschaftlichen Skeletts bei lebendigem Leib herausoperiert, ohne dass neue Arbeitsplätze bereitstünden. Sollten neue Arbeitsplätze entstehen, so entstehen diese – soweit bis jetzt erkennbar – nur in Abhängigkeit vom Staat, also etwa durch die Ansiedlung von Behörden. Die Macht des Staates wird also zunehmen. Er verteilt – damit der große Plan erfüllt werde – Subventionen, Kompensationen, Hilfen, Zuschüsse, Wohltaten!

Man darf gespannt sein, ob sich irgendwo Einspruch gegen diesen Triumph der Staatsabhängigkeit, gegen diese Aushebelung der Marktwirtschaft, gegen diese fulminante Renaissance der zentralistischen Planwirtschaft erheben wird, wie sie die Bürgermeisterin von Spremberg für ihre Region vorhersieht.

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Von Judas lernen (1)

 Das Böse, Gnade, Jesus Christus, Judas, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Von Judas lernen (1)
Nov 252017
 

Auf einem Kapitell der Basilika Maria Magdalena im burgundischen Vézelay ist in der einen Leibung der nackte Judas zu sehen, der sich soeben erhängt hat. Aus dem weit aufgesperrten Mund ragt seine übergroße Zunge löffelartig heraus. Der linke Arm ist wie im Krampf nach vorne verrenkt. Der rechte Arm wirkt unnatürlich verlängert. Alles zieht ihn herab. Dem Judas hängt sein Leben buchstäblich zum Hals heraus. Leer starren die weit aufgerissenen Augen uns an. Er hat sich selbst verworfen. Fußlos wachsen die Beine in das Gesims. Sie sind steinhart erstarrt. Da geht nichts mehr! Es ist aus.

Ist es wirklich aus? Wir lassen den Blick über einige Akanthusblätter hinüberschweifen nach rechts. Übereck sehen wir die Gestalt des Guten Hirten, der den Erhängten abgenommen hat. Leicht fällt ihm dies nicht. Der Erhängte ruht schlaff herabhängend über beiden Schultern. Er hat endlich die Augen geschlossen. Er hat Frieden gefunden. Die Leichenstarre scheint von ihm gewichen. Er wirkt weich und ergeben. Er hat die Erstarrung der Schande und der Scham hinter sich gelassen. Jesus muss sich schon anstrengen, fast sieht es aus, als würden seine Füße abgleiten in den Abgrund. Jesus scheint zu zweifeln, er verzieht fast verzagt das Gesicht. Aber er packt es! Er trägt den Leib des Selbstmörders in eine neue Existenz hinein. Da geht noch was!

Ho imparato da Giuda che la vergogna è una grazia„, ich habe von Judas gelernt, dass die Scham eine Gnade ist. So schreibt es Franziskus in seinem neuen Buch, das den Titel Padre nostro trägt.

Scham, Selbstverwerfung, Selbsthass, Selbstvernichtung bis zum Äußersten. Diesen Durchgang stellt der Steinmetz von Vézelay dar. Franziskus spricht mit seiner Deutung der Scham als eines unverdienten Geschenks etwas Tiefbewegendes aus: Die Selbstverwerfung muss kein Letztes sein. Scham und Schande (und das Wort für Scham und für Schande lautet im Englischen wie im Italienischen gleich) sind Durchgänge, sind Übergänge!

Um diese Steinmetzarbeit rankt sich die Legende, dass Christus beim Jüngsten Gericht sich zuerst um Judas kümmern wird. Er wird ihn aufnehmen, ihm verzeihen und ihn weitertragen. Nicht um Petrus wird er sich zuerst kümmern, nicht um Johannes, sondern um Judas! Das Bildwerk in der burgundischen Basilika verleiht dieser Legende von der Erlösung des Judas eine besonders strahlende Wahrheit.

Zitat: La preghiera di Francesco. Le riflessioni del Papa sul Padre nostro. Corriere della sera, Giovedì, 23 Novembre 2017, Seite 28

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Dez 162015
 

E s’io non fossi impedito dal sasso
che la cervice mia superba doma,
onde portar convienmi il viso basso,

cotesti, ch’ancor vive e non si noma,
guardere‘ io, per veder s’i‘ ‚l conosco,
e per farlo pietoso a questa soma.

„Sind das wieder einmal die bösen Deutschen, die unter der Last der Vergangenheit zusammenbrechen?“, mag sich so mancher fragen, der zum ersten Mal im Berliner Kupferstichkabinett Botticellis Zeichnung zu Dantes elftem Gesang aus dem Purgatorio erblickt. Wir selbst besuchten in kleinem Kreise, auch um diese Frage zu klären, die Ausstellung „Der Botticelli-Coup“ ein zweites Mal am Samstag vergangener Woche.

Die Antwort ist dank der klug und sparsam informierenden Hinweise des Kuferstichkabinetts eindeutig: Nein, es sind diesmal nicht die bösen Deutschen im elften Gesang, welche unter ihrer Vergangenheit ächzen und stöhnen! Vielmehr kriechen hier italienische ruhmsüchtige Ritter und Künstler wie riesige Käfer umher. Auf dem Rücken sind ihnen Felsklötze aufgebürdet. Schier endlos lastende Schuld drückt sie nieder. Streckfuß übersetzt diese Stelle aus dem elften Gesang im Purgatorio der Göttlichen Komödie (XI, 52-57):

Und drückte nicht der Stein nach Gottes Schluß
Den stolzen Nacken jetzt der Erd’ entgegen,
So daß ich stets zu Boden blicken muß,

So würd’ ich nach ihm hin den Blick bewegen,
Zu sehn, ob ich ihn, der sich nicht genannt,
Erkenn’, und um sein Mitleid zu erregen.

Ist das alles Schuld, die nicht vergehen mag? Nein! Die Antwort des Guglielmo Aldobrandesco deutet es an: Er versucht erstens sich umzuschauen, um dem fragenden Paar der Wanderer den Weg zu weisen. Er hofft auch darauf, den Menschen zu kennen, der ihn nach dem Weg fragt. Er baut darauf, einem anderen Menschen dienlich zu sein und dadurch auch pietà, also Mitgefühl, Erbarmen zu erlangen.

Der Dreischritt aus

Erkenntnis des hilfsbedürftigen Nächsten
Dienst am Nächsten
Erbarmen des Anderen

zeigt hier buchstäblich den Weg aus endlos lastender Schuld. Eine Hoffnung zwar nur, aber eine lebendige Zuversicht, die Dante und Botticelli aufweisen! Für den Luther der vierten Wittenberger These war ein solcher Ausweg aus endlos lastender Schuld nur schwer oder eigentlich überhaupt nicht denkbar, kaum oder überhaupt nicht glaubhaft. Luther schrieb ja: Pena rimanet usque ad introitum regni celorum, die strafende Pein bleibt bis zum Anbruch des Himmelreiches bestehen.

Dante beweist es hier und an anderen Stellen im Purgatorio: Schuld muss nicht endlos lasten. Sie kann gelöst und ausgelöscht werden durch Erkennen der eigenen Verfehlung, durch Umwendung, Zuwendung und Hinwendung zum Nächsten. Das Erbarmen zwischen den Menschen kann die Befreiung von lastender Schuld bewirken. Eine ungeheuerliche, eine revolutionäre Möglichkeit!

Auf lateinisch hieße das: Misericordia hominis efficit gratiam. Gratia efficit misericordiam hominis. Die Gnade bewirkt das Erbarmen zwischen den Menschen.

Jesus selbst, auf den wir uns hier beziehen, hat im Johannesevangelium (20,23) einen ganz ähnlichen Gedanken ausgedrückt. Er spricht den Menschen, also allen Menschen, die ihm darin nachfolgen, diese ungeheuerliche Kraft des Verzeihens, des Nachlassens der Sünden zu:

In der Sprache Platos:
ἄν τινων ἀφῆτε τὰς ἁμαρτίας ἀφέωνται αὐτοῖς

In der Sprache Dantes nach heutigem Gebrauch:
A chi rimetterete i peccati saranno rimessi

In der eigenständig weiterführenden Ermunterung Dantes (Purgatorio XI):
Noi lo mal ch’avem sofferto perdoniamo a ciascuno

In der Sprache Luthers:
WELCHEN JR DIE SÜNDE ERLASSET / DEN SIND SIE ERLASSEN

Bild:

Ein Blick in Dantes Purgatorio, vom ersten Ring des Fegefeuers aus gesehen. In: Ausstellungskatalog:
Der Botticelli-Coup. Schätze der Sammlung Hamilton im Kupferstichkabinett, S. 114-115.
Kupferstichkabinett. Ausstellung. Staatliche Museen zu Berlin, Kulturforum, Matthäikirchplatz, 16.10.2015 bis 24.01.2016, Di-Fr 10-18 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr

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„Kom signade jul“. Die uralte neue, ewig erneuerte Sehnsucht: frid und glans

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Nov 292015
 

„In des Herzens heilig stille Räume
Mußt du fliehen aus des Lebens Drang
Und das Schöne blüht nur im Gesang“

– so schrieb es Friedrich Schiller 1802 zu „Antritt des neuen Jahrhunderts“. Gesagt getan! Ich floh gestern. Durch Schnee und Sturm kämpfte ich mich in den Süden der Stadt. Dort schloss ich mich dem Chor der Eltern der Beethovenschule an, die für ihre Kinder und alle Menschen den Frieden durch Singen herbeisingen wollten. Angesagt war gestern auch das eine oder andere fremdsprachige Lied. Ich brummte und grummelte die verschiedenen Lieder mit, so gut ich eben konnte. Das „kom“ wird übrigens in der fremden Sprache, die mich irgendwie ans Althochdeutsche erinnerte, wie das altdeutsche „kum“ ausgesprochen.

„Chume chume geselle min
ich enbite harte din“

Diese alten Verse aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts kamen mir in den Sinn, als wir das Lied „Jul, jul, strålande jul“ sangen, das seinerseits dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entsprang.

Cum chum geselle min…
Kom, kom, signade jul! Sänk dina vita vingar
över stridernas blod och larm,
över all suckan ur människobarm,
över de släkten som gå till ro,
över de ungas dagande bo!
Kom, kom, signade jul, sänk dina vita vingar!

Für welches Jahrhundert passten nun diese Verse? Für das erste Drittel des 13. Jahrhunderts, das erste Drittel des 20. Jahrhunderts, oder das erste Drittel des 21. Jahrhunderts? Oder drückt sich in diesem Lied ein überzeitlicher Wunsch aus? Was bedeuteten überhaupt diese Worte: Frid? Glans? Jul? In welcher Sprache waren sie eigentlich verfasst?

Es war mir nicht klar. Aber es gefiel mir, es sprach mich an! Und so sang ich dies Lied spät abends gleich noch einmal in beiden Strophen beim Geburtstag eines Freundes, sang es für ihn und für sein neugeborenes Kind Elisabeth.

Hier ist die erste Strophe des Liedes:

Jul, jul, strålande jul, glans över vita skogar,
himmelens kronor med gnistrande ljus,
glimmande bågar i alla Guds hus,
psalm som är sjungen från tid till tid,
eviga längtan till ljus och frid!
Jul, jul, strålande jul, glans över vita skogar!

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Wie entsteht Frieden?

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Aug 192014
 

2014-08-07 18.46.07

Was bedeutet eigentlich: „Pacem in terris! Friede in der Welt!“

Es ist ein berühmter Wunsch, die Verkündung oder der Jubelruf der „himmlischen Heerscharen“, überliefert im Lukasevangelium 2, 14. Vor wenigen Tagen heftete sich mein Blick auf dieses große Plakat an der Kreuzberger St. Johannes-Basilika. Irgendetwas passste mir nicht ganz an dieser plakativen Aussage. Ich kratzte mir den Kopf. Ich dachte an Luhansk, dachte an Donezk. Was sollte diese Aussage? Kann man mit Menschen vom Frieden sprechen, die frech und dreist das Maschinengewehr oder eine GRAD-Rakete auf dich richten?

„Das wird nicht reichen – es muss heißen: pax hominibus bonae voluntatis – Friede den Menschen, aber nur, wenn und sofern sie guten Willens sind“,  wandte ich meinem Zufalls-Gesprächspartner gegenüber ein, einem Berlintouristen aus dem im hessischen Waldeck gelegenen Handwerkerstädtchen Korbach, dem ich das schöne Kreuzberg zeigte, wie es friedlich im Abendsonnenschein dalag. „Der Friede muss schon auch aktiv gesucht und bewirkt werden. Von allein kommt er nicht. Der fromme Wunsch allein reicht nicht!“, beharrte ich.

„Bist du dir sicher?“, fragte der Korbacher, der auch vier Semester Theologie studiert, dann allerdings auf Kunstgeschichte umgesattelt hatte. Wir hatten die Straßenbiegung der Lilienthalstraße erreicht, von der es dann hinüber zum Tempelhofer Feld geht. Ein viel zu schnell fahrender Radfahrer kam uns auf dem Bürgersteig entgegen, hätte uns fast umgerissen.“Mann Mann Mann, diese Radfahrer“, schimpfte ich. „Pass bloß auf, wo du fährst!“, fuhr ich den Radfahrer an. Ich bin in der Tat der Meinung, dass diese Radfahrer nichts, aber rein gar nichts auf dem Bürgersteig verloren haben!! Wozu gibt es die Straßenverkehrsordnung!? „Wann werden die das kapieren?“ Ich war zornig.

„Wie lautet denn der Vers im Original, auf Griechisch?“, fragte ich den Touristen, nachdem ich mich wieder beruhigt hatte.

„Δόξα ἐν ὑψίστοις θεῷ καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη ἐν ἀνθρώποις εὐδοκίας“, zitierte der Korbacher in einem eigentümlichen Singsang. „Das wird heute von den Katholiken so wiedergegeben: Verherrlicht ist Gott in der Höhe, und auf Erden ist Friede bei den Menschen seiner Gnade.“

Oha! Ich staunte. Da war einer, der das Neue Testament auf Griechisch aus dem Kopf zitieren konnte! Die alles entscheidende Frage war nun: Meinten die Engel hier, dass die Menschen sich den Frieden verdienen, ihn sich erarbeiten mussten? Oder kam und kommt er unvermutet, als unverdientes Geschenk von oben?

Ich war neugierig und lud den Korbacher Touristen auf ein alkoholfreies Getränk in eine Kneipe ein. Was würde er mir noch alles erzählen?

 

 

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Zweierlei Gnaden

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Jun 222014
 

Der Schreibende ist am Donnerstag aus Moskau zurückgekehrt von dem Begräbnis unseres Alexander Jakowlewitsch.  Wir geleiteten ihn am Dienstag auf dem letzten Gang auf den Wagankowoer Friedhof. Ein tränenreicher Abschied, der eine große Trauergemeinde zusammenführte. Ich hielt eine der zahlreichen Abschiedsreden in Du-Form, spielte auf der mitgebrachten Geige eine Sarabande in d-moll von J.S. Bach, die Hebräische Melodie von Joseph Achron, zu allerletzt den unüberbietbaren Choral „Wenn ich einmal soll scheiden“ von Bach. Ich sagte:  Для тебя и для нас Бах всегда Бах. Спи, мой Дорогой. Für dich und für uns bleibt Bach immer Bach! Schlafe mein Lieber.

Am Samstag feierten wir mit einem katholischen Gottesdienst eine Goldene Hochzeit mit Verwandten im niederbayrischen Rotttal. Von einem frisch ausgeworfenen Grab zu einer Hochzeitsfeier!

Das eine betrübt, die andre erfrischt,
so wunderbar ist das Leben gemischt.

Zweierlei Gnaden! Zwei gleichermaßen tiefe, zwei mich nachhaltig bewegende Feiern! Eine festliche Traurigkeit trug mich mitten im Leben dahin.

 Posted by at 21:23
Dez 172012
 

Eine Fülle an Daten, einen wahren Goldschatz an Daten bietet das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, nicht nur in dem heute vorgelegten Bericht (Keine) Lust auf Kinder?

Die Studie ist gar nicht hoch genug zu loben. Denn sie räumt mit der irrigen Vorstellung auf, das Kinderbekommen, die Fertilitätsrate, sei direkt oder indirekt von ökonomischen Verhältnissen abhängig. Zu recht stellt die Studie den Faktor der Einstellung ganz in den Vordergrund. Ob die Menschen Eltern werden, hängt zum allergrößten Teil davon ab, ob sie es wollen oder nicht, ob sie das Kind in ihre Lebensplanung einbauen können oder nicht. Der ökomische Status der Menschen in Deutschland hat sich im Durchschnitt seit 1991  verbessert. Von der wirtschaftlichen Unsicherheit früherer Jahrhunderte sind wir Lichtjahre entfernt.  Es liegt nicht am Geld oder am ökonomischen Unsicherheitsgefühl, wenn keine Kinder kommen.

Zweifellos bringen auch alle Versuche der Politik nichts, mithilfe von Geld oder sonstigen Statuszusicherungen die „Lust auf Kinder“ zu erhöhen.

Ob Kinder kommen oder nicht kommen, hängt vielmehr ganz vom Willen der Eltern ab. Es hängt davon ab, ob die Menschen Lust auf Kinder oder keine Lust auf Kinder haben, wie bereits aus dem Titel der empirischen Studie hervorgeht.

Der Elternwille entscheidet. Es liegt ganz im Willen der Eltern, ob Kinder kommen oder nicht kommen. Ihr, der Eltern Wille geschehe! Die Sicherung im Alter wird vertrauensvoll in die Hände der Sozialkassen gelegt, eigene Kinder sind als soziale Absicherung im Alter somit überflüssig geworden.

Kinder sind ein kontingentes Ereignis geworden, das bei Bedarf der Eltern geschehen oder auch auch entfallen kann. Ein Blick auf die Abtreibungsstatistik belegt dies schlagend. Seit 1996 weist das Institut eine leicht schwankende Kurve an Schwangerschaftsabbrüchen nach – sie liegt stets bei über 10% der Geburtenzahlen, oder auch in ganz Deutschland bei meist über 100.000 Abbrüchen pro Jahr.   In zehn Jahren werden also mehr als 1 Million Abbbrüche vorgenommen. Schwangerschaftsabbrüche sind Teil der Normalität des Kinderlebens in Deutschland, sie sind keine absolute Ausnahme, sondern eine Begleiterscheinung.

http://www.bib-demografie.de/DE/DatenundBefunde/07/Abbildungen/a_07_01_schwangerschaftsabbrueche_d_w_o_1996_2010.html?nn=3073206

In amtlicher Darstellung des Instituts der Bundesregierung wird das Kinderzeugen und Kindergebären als Frage der vorhandenen oder nichtvorhandenen Lust auf Kinder dargestellt:

(Keine) Lust auf Kinder?

Die große Kampagne „Wir haben abgetrieben“ des Jahres 1971, getragen von erfolgreichen Frauen, die glanzvoll im Scheinwerferlicht stehen,  gilt unumstritten als Meilenstein auf dem Weg zum Elternwahlrecht über das Leben des Kindes.

Angesichts dieses regierungsamtlichen Befundes – „Ob Kinder kommen, hängt ganz von Einstellung und Lust der Eltern ab“ – und angesichts der Abtreibungsquoten von konstant über 10% der Lebendgeborenen dürfen wir feststellen:

Wir alle leben und alle Kinder wachsen in Deutschland heute in dem Bewusstsein auf, dass sie ihr Dasein, ihr Leben der Lust oder Unlust der Eltern verdanken: Es besteht auch eine 10-15%-Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht hätten geboren werden können. „Ob ich geboren wurde oder nicht, hing von der Lust und der Entscheidung meiner Eltern ab. Sie hätten mich auch ablehnen können. Dann gäbe es mich eben nicht. Schön für mich, Gott sei Dank, da habe ich aber großes Glück gehabt.“

Dem Kindwerden und dem Vater- oder Mutterwerden, dem jungen, entstehenden menschlichen Leben und somit überhaupt dem menschlichen Leben wird in unserer Gesellschaft kein überragender, kein lebens- und überlebensnotwendiger Rang mehr zugesprochen. Kinder sind heute eine gesellschaftliche und private Option unter vielen, keineswegs eine Erfüllung und eine in sich ruhende Sinnsetzung des Lebens der Erwachsenen. Kinder sind heute kein Goldschatz für das Leben, sondern eine teils erfreuliche, teils hinderliche Begleiterscheinung, auf die man Lust oder nicht Lust hat.

Keine namhafte gesellschaftliche Kraft – keine Partei, keine große Zeitung, keine in die Öffentlichkeit kraftvoll hineinsprechende oder hineinschreiende Gemeinschaft, kein Sozialwissenschaftler, kein Politiker, der gewählt werden will   – diskutiert oder  beklagt diesen Zustand.

 Posted by at 23:35
Apr 292011
 

Die auf Paraffin gemalten, geritzten, eingeriebenen, eingearbeiteten Bilder Heike Jeschonneks prägten den Abend – einen langen, hinausgezögerten Vorsommerabend.

Ich gehe zur Eröffnung der Ausstellung.

Unterwegs, an der Ecke Obentrautstraße/Mehringdamm fragt mich eine Touristin auf Englisch: „Entschuldigung, ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Was würden Sie mir raten?“

„Gehen Sie mit mir!  Ich sehe doch, Sie interessieren sich für Kunst.“ Und so gehen wir zusammen hin. Ich erzähle von meiner Heimat Kreuzberg, sie erzählt von ihrer Heimat Tel Aviv. Wir gehen zur Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Tammen und Partner in der Hedemannstr. 14 / Ecke Friedrichstr. in Kreuzberg.

Ich treffe viele Bekannte und Freunde, stelle ihnen meine neue Bekannte vor und lerne selbst einige neue Bekannte kennen, führe Gespräche über Städte, Bilder, Menschen und mit einer Finnin über „die wahren Finnen“.

Ich mag dieses Würfelspiel aus Bildern, Gesichtern und Gesprächen, typisch für die bunte treibende Berliner Kunstszene.

Aber am besten hat mir heute doch gefallen, dass ein unbekannter Mensch, der aus Israel nach Berlin gekommen war, mich gefragt hat: „Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll. Was würden Sie mir raten?“ Dieses Vertrauen, das ich darin spüre, war ein riesiges Geschenk!

Es gibt so viel Negativität im Leben und auf der Welt. Terry Eagleton ist – nach seinem Buch zu urteilen – überzeugt, dass aufs Ganze gesehen die negativen Aspekte in der Weltgeschichte bisher bei weitem überwiegen. Sonach gibt es keinen endgültigen Trost für Hiob. Bisher!

Dennoch schließe ich den heutigen Tag mit der überwältigenden Bilanz ab: es gibt hier in Kreuzberg, in meinem Umfeld, deutlich mehr Vertrauen als Misstrauen, deutlich mehr Gutes als Schlechtes, deutlich mehr Liebe und Zuneigung als Neid und Misstrauen. Es tut mir leid für alle Philosophen der Negativität, für all die Schopenhauers, Adornos, Žižeks und Habermas‘.

Wir sind keine Gespenster, sondern Menschen aus Fleisch und Blut, die einander im Guten zugetan sind.

Die Evidenz des Guten, das ich erfahre, überwiegt  noch den wortreichsten Versuch, mich vom Gegenteil zu überzeugen.

Immer wieder wird mir dann entgegnet: „Ja, aber: Auschwitz! Gulag! Hiroshima! Srebrenica!“  Darauf erwidere ich: Der Riesenunterschied zwischen Auschwitz und heute ist: Ich persönlich habe diesen heutigen Tag erfahren. Von Auschwitz habe ich nur gehört und gelesen. Es ist vergangen. Der heutige Tag, das Jetzt gibt den Ausschlag.

Bild: „Gespenster“ von Heike Jeschonnek.

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 Posted by at 23:07