Finizio – eine Hütte für Kugelmenschen

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Apr 042023
 

Eine Hütte für Kugelmenschen entdeckte ich vor zwei Tagen im Cheruskerpark!

Schön aufgeschlichtet aus sauber behauenen Planken
Von hellem Holz erhebt sich nun ein kleines Büdchen
Mit freundlichem Schornstein mitten auf kahlgetret’ner Wiese.
Wer mag darin wohnen, für wen ist das Hüttchen bestimmt?
Ein Blick auf die hell leuchtende Tür gibt Auskunft: die Kugelmenschen
Sind’s, von denen schon Aristophanes in Platons Symposium erzählt.
Denn ursprünglich gab es ja nicht die Unterscheidung in Mann und Frau,
Sondern die ersten Menschen besaßen Kugelform, bewegten sich
In alle Richtungen, rollten umher und gaben sich allerlei Freuden hin.
Drei Gattungen gab es, das männliche und das weibliche und auch das
Gemischtgeschlechtliche. Und so schillerte eine bunte Palette an
Unterschiedlichsten Mengungen. Keiner war eindeutig festzulegen.
Selige Vorzeit, als die schroffe Scheidung in männlich und weiblich
Noch nicht eingeführt war! An diesen Urzustand knüpft der heutige
Geschlechterdiskurs erneut an. Und so mag denn
In diesem Hüttchen zugleich Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte
Verkörpert sein. Inizio heißt ja auf italienisch Anfang. Fine dagegen
Heißt Ende, und so ist auf wundersame Weise Anfang und Ende
In diesem kleinen Büdchen symbolisch vereinigt, und der Name des Büdchens
Lautet: Finizio. Trefflich gesagt, zu finden im Cheruskerpark zu Berlin, Schöneberg.


Aufnahme vom 2. April 2023

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„Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben…“ Die „Last Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht

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Feb 152023
 
„…Und siehe, dunkler Rauch wird verhüllen die Sonne, verlassen werden verrotten die letzten Gerätschaften der verschwundenen Menschheit.“ Ist dies schon das Weltenende? Aufnahme vom 25.12.2022, Natur-Park Schöneberger Südgelände

„Wenn die Erde geschüttelt wird in ihrem Beben …“ Ich lese summend, klingend, eben rezitierend wie ich auch die Bibel der Juden und die der Christen lese, die Sure 99 im Koran – in der sehr eindrücklichen Übersetzung von Hartmut Bobzin. Diese mekkanischen Suren sind ja „beherrscht von der Thematik des nahenden Weltenendes“, wie dies Bobzin treffend ausdrückt.

Wie leicht schlägt sich da der Verständnisbogen zur heutigen Zeit!

Erdbeben, Wirbelstürme, Überschwemmungen und andere Naturkatastrophen galten damals wie heute als ein Anzeichen des Weltenendes! Ähnlich wie die Zeit Jesu von Nazareth, ähnlich wie die Zeit Martin Luthers war das 7. Jahrhundert ganz offenkundig eine Epoche der „Naherwartung“. So waren bekanntlich auch Martin Luther (gegen Ende seines Lebens) und Jesus von Nazareth selbst – wie die Last Generation unserer Zeit, die sich angsterfüllt an Autobahnen festklebt – zutiefst erfasst und durchzittert von der Erwartung des in Bälde bevorstehenden Untergangs dieser Welt „wie wir sie kennen“.

Ich meine: Die „Letzte Generation“ des 7. Jahrhunderts spricht auch heute noch zu uns. Ähnlich wie die „Last Generation“ unserer Tage waren damals viele Menschen überzeugt, dass es hienieden keine Zukunft mehr geben würde – durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsre übergroße Schuld.

Ich werde am 17. Februar mit großer Freude erneut das Korano-Drama, diesmal den 2. Teil, besuchen. Das Leben hienieden, das Erkennen, das Erfahren, Staunen, Summen und Singen – es geht ja weiter!

Lesehinweis:

Der Koran. Aus dem Arabischen neu übertragen von Hartmut Bobzin unter Mitarbeit von Katharina Bobzin. C. H. Beck Verlag, 4. Aufl., München 2022, Sure 99, sowie auch bsd. S. 602 im Anhang

Veranstaltungshinweis:

Artistic Enactment of Quran. Eine künstlerische Aufarbeitung der Koransure 99 zum Mitmachen und Miterleben. Katholische Akademie in Berlin, Hannoversche Straße 5, 10115 Berlin, 17.02.2023, 14.00-19.00 Uhr

Artistic Enactment of Quran – Katholische Akademie in Berlin e.V. (katholische-akademie-berlin.de)

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„Beisassen“, „Metöken“, „stranieri residenti“

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Apr 042022
 
Im Theater des Dionysos, Athen, Januar 2019

Die kursorische Lektüre des wichtigen Buches „Stranieri residenti“ von Donatella di Cesare macht mir Lust, ein bisschen durch Zeiten und Räume, durch Sprachen und literarische Gattungen zu wandern. Wandern wir gemeinsam! Beginnen wir beim Titel des Buches! Wie könnte man auf Deutsch am besten das von der römischen Philosophin Gemeinte wiedergeben? Wir denken her, wir denken hin, wir fragen im Wandern: Menschen, die bei uns wohnen, die bei uns nicht nur vorübergehend verweilen, die bei uns bauen, ohne hier geboren zu sein, ohne von Ansässigen abzustammen, die aber einen gesicherten Aufenthaltsstatus ohne die vollen Bürgerrechte genießen, wie könnten wir die nennen? Antwort: Mit einem heute veralteten, aber überall verstandenen Ausdruck schlage ich für „straniero residente“ den Ausdruck „Beisasse“ vor. „Beisasse“, in Grimms Wörterbuch als „beisasz“ eingetragen, ist die häufigste Bezeichnung für das in Rede Stehende in alten deutschen Übersetzungen der biblischen Bücher, in Übersetzungen der Bücher aus dem alten Griechenland. Das griechische Wort dafür lautet μέτοικος, italienisch meteco.

In den meisten Stadtgemeinden der griechischen Antike, insbesondere in Athen, war bekanntlich das Bürgerrecht meist an die „Herkunft aus diesem Ort“, an die Abkunft von „Hiergeborenen“ geknüpft, während die dauerhaft Zugewanderten, eben die Metöken oder „Beisassen“ nur eingeschränkte Teilhaberechte genossen und eingeschränkte Teilhabepflichten auf sich nehmen mussten. Die ukrainische Wikipedia sagt darüber zutreffend:

Мете́ки (грец. Μέτοικοι) — у Стародавній Греції так називали чужинців, що оселилися у тому, чи іншому полісі. У 5-4 ст. до н. е. метеки, що складали значну частку міського населення Аттики, відігравали важливу роль в економіці міст. Становище метеків, що жили в різних грецьких полісах, було неоднаковим.

Der im Jahr 384 in Stageira geborene Aristoteles etwa, der selbst kein Bürger Athens war, aber doch als Metöke, d.h. als Beisasse in Athen etwa 20 Jahre lange lernte, lehrte und forschte, schreibt in lakonischer Kürze, politische Teilhabe genössen in Athen diejenigen, die von beiden Elternteilen her Abkömmlinge Athens seien. Sobald sie nach glaubhafter Bezeugung durch andere Bürger 18 Jahre alt seien, würden sie unter feierlichem Schwören in die Liste der Gemeindemitglieder, der „Vollbürger“ aufgenommen. Solle jedoch eine nachträgliche Prüfung ergeben, dass jemand fälschlich in den Besitz der Bürgerrechte gelangt sei, so verkaufe die Gemeinde Athen diesen Mann, der das Bürgerrecht erschlichen habe, in die Sklaverei.

Ausführlich im griechischen Text (Aristot. Const. Ath. 42.1):

 μετέχουσιν μὲν τῆς πολιτείας οἱ ἐξ ἀμφοτέρων γεγονότες ἀστῶνἐγγράφονται δ᾽ εἰς τοὺς δημότας ὀκτωκαίδεκα ἔτη γεγονότεςὅταν δ᾽ ἐγγράφωνταιδιαψηφίζονται περὶ αὐτῶν ὀμόσαντες οἱ δημόταιπρῶτον μὲν εἰ δοκοῦσι γεγονέναι τὴν ἡλικίαν τὴν ἐκ τοῦ νόμουκἂν μὴ δόξωσιἀπέρχονται πάλιν εἰς παῖδαςδεύτερον δ᾽ εἰ ἐλεύθερός ἐστι καὶ γέγονε κατὰ τοὺς νόμουςἔπειτ᾽ ἂν μὲν ἀποψηφίσωνται μὴ εἶναι ἐλεύθερον μὲν ἐφίησιν εἰς τὸ δικαστήριονοἱ δὲ δημόται κατηγόρους αἱροῦνται πέντε ἄνδρας ἐξ αὑτῶνκἂν μὲν μὴ δόξῃ δικαίως ἐγγράφεσθαιπωλεῖ τοῦτον  πόλιςἐὰν δὲ νικήσῃτοῖς δημόταις ἐπάναγκες ἐγγράφειν.

Die Untersuchung Donatella di Cesares liefert, wie wir gesehen haben, bereits vom Titel an fundamentale Anstöße, unser gesamtes Denken über Herkunftsgemeinschaften, Herkunftsdenken, Migration, Staatlichkeit in Frage zu stellen.

Di Cesares Hauptthese scheint mir dabei zu sein, dass grundsätzlich jedem Menschen das Recht zustehen müsse (müsse!), in ein Gebiet seiner Wahl zuzuwandern. Umgekehrt stehe den modernen Territorialstaaten, die sich zu viele Geltungsansprüche anmaßten, grundsätzlich nicht das heute allzu leichtfertig als selbstverständlich angenommene Recht zu, Ankommende, Zuwandernde, Wandernde an den Staatsgrenzen zurückzuweisen.

Sie untermauert diese Behauptung mit einer beeindruckenden Fülle an systematischen und historischen Befunden.

Quellen:

Donatella di Cesare: Stranieri residenti. Una filosofia della migrazione. Bollati Boringhieri, Torino 2017

›beisasz‹ in: Deutsches Wörterbuch (¹DWB) | DWDS

Метеки — Вікіпедія (wikipedia.org)

Aristotle, Athenian Constitution, chapter 42, section 1 (tufts.edu)

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Iam satis terris nivis misit pater … Gespräch mit dem Cherusker (2)

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Feb 012021
 

Vor wenigen Tagen hatte ich während eines Spazierganges in der Cheruskerstraße doch tatsächlich einen Cherusker kennengelernt, wie sich nach und nach herausstellte. Wie das? Nun, da er mich lateinisch mit den Worten „Quid agis?“ angesprochen hatte, erwiderte ich ihm in derselben Sprache.

Doch merkten wir beide bald, dass wir das Lateinische nicht ganz frei von Akzentbeifärbungen sprachen. Bis gestern waren wir immer noch nicht im Bilde, woher wir stammten und was unsere Muttersprachen wären. So probierten wir es mit verschiedenen Varianten europäischer Sprachen, indem wir Sprichwörter und Zitate aus der gemeineuropäischen Literatur wie Tischtennisbälle hin und her flippen ließen.

„Iam satis terris nivis atque dirae…“ begrüßte ich ihn gestern. Denn in der Tat war sein sehnsüchtiger Wunsch nach einem richtigen Winter endlich erfüllt worden!

„… grandinis misit Pater et rubente
dextera sacras iaculatus arces
terruit urbem …“ ergänzte der Wandergefährte. Das war Horaz! Ich war entzückt! Endlich also hatte ich jemanden gefunden, der meine Liebe zu Horaz teilte!

„Broahut volli hut…“ schlug er auf,

„all moanada gnug“, ergänzte ich treffsicher.

Gemeint ist mit diesem uralten alemannischen Sprichwort, das mir aus dem von Walsern besiedelten Flecken Issime bekannt ist, wenn es im Brachmonat Juni genug Schnee in den Hut schneie, dann habe man in allen Monaten genug davon!

Von der Cheruskerstraße, der via Cheruscorum, führte unser Weg uns in den nahegelegenen Hortulus Naturae apud stationem Crucem Meridionis positus. Und bald stellte sich heraus, dass mein neuer Bekannter das alte Germanische in verschiedenen Dialekten beherrschte, ja sogar bei den legendär zerstrittenen germanischen Stämmen, den Cheruskern, den Brukterern, Sueben, Tenkterern, Usipeten, Chatten usw., die sich in den Auseinandersetzungen mit den Römern zu verkämpfen drohten, so manche wertvolle Hilfe als Sprachmittler und vor allem als Menschenmittler hatte leisten können.

Seine Kindheit und Jugend hatte er, aus vornehmer Familie stammend, als den Römern gestellte Geisel in Rom verbracht, und so erklärte sich auch seine hervorragende Kenntnis des Lateinischen.

Wir hatten, in unsere Gespräche vertieft, den höchsten Berg der Gegend, den Mons insularum erreicht. Wir hielten inne und vertieften das angeschnittene Thema der verschiedenen Formen verschiedener europäischer Sprachen. Da traf es sich vortrefflich, dass wir beide erst wenige Tage zuvor die Netflix-Serie „Barbaren“ gesehen hatten, und während wir mit der Darstellung der Römer völlig einverstanden waren, ja sogar begeisterte Ausrufe des Entzückens über das sehr gepflegte, sehr achtsam gesetzte Latein in dieser Fernseh-Serie ausgestoßen hatten, konnte uns das in den aufwändigen Streifen gesprochene Deutsch oder besser das „Schwundgermanische“ nicht überzeugen.

Entsprach es doch allzu sehr jenem gängigen Vorurteil der Römer oder „Lateiner“ bis in unsere Zeit, wonach das Germanische in allen seinen Varietäten roh, unbehauen, ungebärdig, fehlerhaft, dem Grunzen von Schweinen ähnlicher sei als dem feinziselierten Idiom der gesitteten Welt von südlich der Alpen.

(sermo continuabitur)

Quellennachweise:
Q. Horati Flacci opera ed. Wickham, cur. H.W. Garrod, Oxonii 1975, carminum liber primus, carmen II, vv. 1-4

GABRIELE IANNÀCCARO: Broahut volli a hut, all moanada gnug. Proverbi meteorologici nelle comunità walser a sud delle Alpi. Gefunden unter folgendem Link: (99+) (PDF) Barcellona Paper: Broahut volli a hut, all moanada gnug. Proverbi meteorologici nelle comunità walser | Gabriele Iannaccaro – Academia.edu

Netflix.com : Barbaren. Regie: Barbara Eder, Steve St. Leger

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„Quid agis?“ – „Maxime valeo!“ Gespräch mit einem Cherusker (Anfang)

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Jan 222021
 
Blick auf den Cheruskerpark. Aufnahme vom 21.01.2021


Pulcher mons, a.d. XI Kalendas Februarias MMXXI.- Heri ibam forte via Cheruscorum sicut est mea consuetudo, meditans quaestiones vari generis, totus in illis. Accurrit quidam notus mihi aspectu tantum arreptaque manu ‚quid agis?‘ inquit. ‚Maxime valeo‘, inquam, ‚vigeo et corpore et mente… etiamsi istam nefastam pestem universalem qua afflicti sumus non negligendam esse puto. At tu?‘ ‚Ego quoque valeo. Non oportet me lamentari. Sed ubi est hiems, ubi sunt fulgores nivei qui semper me delectabant iuvenem…?“ (sermo continuabitur)

Der Leserservice fügt eine deutsche Übersetzung an:
Schöneberg, 22. Januar 2021.– Gestern ging ich mehr oder minder zufällig die Cheruskerstraße entlang, wie es meine Gewohnheit ist. Dabei überlegte ich Fragen vielfältiger Art und war ganz in sie versunken. Lief ein Mann auf mich zu, den ich nur vom Sehen her kannte. Nachdem er mich mit der Hand ergriffen hatte, fragte er mich: „Wie geht’s?“ „Mir geht’s super“, sagte ich, „sowohl körperlich wie geistig bin ich auf der Höhe der Kraft… auch wenn ich die unselige Pandemie, von der wir heimgesucht werden, für nicht zu vernachlässigend halte. Und selber?“ „Mir geht’s auch gut. Ich kann nicht klagen. Aber wo ist der Winter, wo ist der schimmernde Schnee, der mich in meiner Jugend immer so froh gemacht hat…?“ (Gespräch wird fortgesetzt)

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„Warum seid ihr so feige?“ Die Schimpferei Jesu an seine Schüler in Mk 4,24-41

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Mrz 292020
 
Weiter, immer weiter führt der geheinmisvolle Weg. Was hinter der Ecke wartet, wissen wir nicht.

τί δειλοί ἐστε οὕτω; πῶς οὐκ ἔχετε πίστιν; „Was seid ihr so feige?“, „warum seid ihr so feige?“, so der sichtlich ungehaltene Jesus in jener hübschen Begebenheit, welche uns Matthäus, Markus und Lukas in gleichen Grundzügen, obschon mit einigen Abwandlungen berichten.

Übersetzen wir zunächst einmal die Stelle aus den griechischen Textzeugen für Mk 4,24-41 heraus, wie sie uns die Handausgabe des Novum Testamentum Graece in der 28. Aufl. (Stuttgart 2012) bietet. Wir lesen da:

Als es an diesem Tag Abend geworden war, sagte er zu ihnen: Fahren wir hinüber! Sie schickten die Menschenmenge fort und fuhren ihn weg in dem Boot, in dem er war; und andere Boote waren auch dabei. Plötzlich erhob sich ein heftiger Wirbelsturm und die Wellen schlugen in das Boot, sodass es schon vollzulaufen begann. Er lag hinten im Boot an der Kopfstütze und schlief. Sie weckten ihn und riefen: Lehrer, geht es dich nichts an, dass wir zugrunde gehen? Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein. Da sagte er zu ihnen: Warum seid ihr so feige? Habt ihr denn kein Vertrauen? Da packte sie große Angst und sie sagten zueinander: Wer ist denn dieser, dass ihm sogar der Wind und das Meer gehorchen?

τί δειλοί ἐστε οὕτω; „Warum seid ihr so feige?“ Keine der heute üblichen deutschen Übersetzungen gibt dieses bestens bezeugte, von Homer bis zum heutigen Griechischen in den Jahrhunderten und Jahrtausenden vielfach belegte Adjektiv δειλός in seiner gängigen Bedeutung „feige, jämmerlich, nichtswürdig“ wieder. Das ist schade, geht doch die Pointe der Erzählung vom Sturm auf dem See damit verloren.

Denn der Vorwurf der Feigheit ist einer der schlimmsten, der gegen die Männer der Alten Welt im griechischen Sprachraum erhoben werden konnte. Bereits Achilles verwahrt sich mit zornigen Worten gegenüber Agamemnon gegen dessen unbillige Zumutungen, indem er genau dieses häufig verwendete Schimpfwort δειλός als Ausdruck besonderer Verächtlichkeit anführt (Homer Ilias, I, 293-294):

ἦ γάρ κεν δειλός τε καὶ οὐτιδανὸς καλεοίμην
εἰ δὴ σοὶ πᾶν ἔργον ὑπείξομαι ὅττί κεν εἴπῃς·

Ein Feigling und Nichtsnutz müsste ich heißen,
wenn ich dir nachgäb in allem, was du verlangst!

Wie so oft hat Jesus in dieser Lage heftige, schroffe Worte gewählt, die an Beleidigungen grenzen. Man geht nicht fehl, wenn man sagt: Er schimpft seine Schüler aus.

Der Vorwurf der Feigheit, den der jüdische Lehrer seinen Schülern entgegenschleudert, könnte darauf hinweisen, dass er die Lage auf dem See anders eingeschätzt hat als alle anderen. Der Schiffsuntergang war wohl objektiv Ausgeburt einer deutlich übertriebenen Furcht. Offensichtlich hatte sich unnötige Panik an Bord ausgebreitet, eine Art epidemische Angst, wie man sie in Gesellschaften der alten und der heutigen Zeiten immer wieder erlebt. Jesus, der ein überragendes Sensorium für kollektive Hysterien hatte, scheint ein Gespür dafür gehabt zu haben, dass die Wetterlage nicht so schlimm war, dass er seinen Schlaf hätte unterbrechen müssen. Er wollte offenkundig in Seelenruhe weiterschlafen und fühlte sich grob aus dem Schlaf gerissen. Deshalb auch seine unwirsche, kurz angebundene Ansprache an Wind, Wasser, Mensch.

In einem beeindruckenden Auftritt hat Papst Franziskus am vergangenen Freitag auf dem Petersplatz genau diese Stelle nach dem Evangelium des Markus gewählt, um seine Gedanken über die angstbeherrschte Lage, in der die Menschheit sich befindet, darzulegen.

Die Seelenruhe Jesu mag auch heute in heutigen hektischen Zeiten, wo allerorten in allen Kanälen mediale und soziale Schiffsuntergänge beschworen werden, als Aufruf zu mehr Gelassenheit, zu mehr Vertrauen verstanden werden.

Der Tag ist noch nicht zu Ende. Wir sind nicht am Ende! Es gibt Gefahren. Es hat sie immer gegeben. Ja. Aber wir werden nicht zu Grunde gehen. Die Schiffsuntergangspropheten haben nicht recht.

Übersetzungen aus dem Griechischen des Homer und des Evangelisten Markus durch den hier Schreibenden.

Belege:
Nestle-Aland. Novum Testamentum graece. 28., revidierte Auflage, Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart 2012, S. 118 (Mc 4,35-41)

Der griechische Text in der griechisch-orthodoxen Fassung:

www.apostoliki-diakonia.gr/bible/bible.asp?contents=new_testament/contents_markou.asp&main=markou&file=1.2.4.htm

https://www.gottwein.de/Grie/hom/il01.php

https://www.vaticannews.va/it/papa/news/2020-03/preghiera-papa-francesco-coronavirus-adorazione-indulgenza.html

H. Hionides: Pocket Dictionary English-Greek, Greek-English, Atlantis, Athens o.J. Lemma δειλός

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Λοιμός. Μῆνις. Die beiden Handlungsauslöser der Ilias

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Mrz 202020
 
Der Beginn des ersten Gesangs der Ilias Homers, ed. Alfred Stephany, Münster 1960. Handexemplar des hier Schreibenden mit Randglossen aus seiner Jugendzeit

Seuche und Zorn, Loimos und Menis, dies ist der Titel, den spätantike Redaktoren als Verständnishilfe dem ersten Buch der homerischen Ilias vorgesetzt haben. Damit erscheint im antiken Verständnis das Wüten einer EPIDEMIE, einer verheerenden Pest als die „Schlagzeile“, als gleichberechtigtes Hauptthema neben dem ebenso wichtigen Grundmotiv des ZORNS.

Die gesammelte Einkehr, das tiefe Hinabtauchen in den Urgrund der europäischen Literaturgeschichte ist eine der paradoxen Segnungen, welche mir die CORONA-Epidemie mit der behördlich angeordneten reichlich genossenen Muße gerade in diesen Tagen ermöglicht. Denn mit der Ilias liegt uns tatsächlich das älteste schriftlich vollständig überlieferte Epos der europäischen Dichtung vor. Im wesentlichen dürfte es im 8. oder frühen 7. Jahrhundert v.d.Z. in der noch heute zu lesenden Fassung zusammengestellt, komponiert, gedichtet bzw. redigiert worden sein.

Eine Seuche leitete somit den Untergang Trojas ein! Eine Epidemie wütet gewissermaßen am Anfang unserer europäischen Literaturgeschichte. Epidemisch auftretende Krankheiten waren übrigens eine häufige Erscheinung der alten Welt. Man schrieb sie meist dem Wirken eines strafenden Gottes oder unseligen, sumpfig-feuchten, memphitischen Dämpfen zu. Denn von Viren und Bakterien im heutigen Sinne wusste man damals noch nichts.

Zurück ins Lager der Griechen vor Troja! Ausgesandt wurde diese Epidemie durch Apollo, den der griechische Heerführer Agamemnon dadurch erzürnt hatte, dass er das Beutemädchen Chryseis nicht ihrem Vater, dem Apollo-Priester Chryses zurückgab. Der ZORN des Gottes Apollo tritt also handlungsauslösend, handlungstreibend noch vor dem ZORN des Achilles ganz nach vorne ins Rampenlicht des epischen Ablaufes! Hier die Verse 7 bis 12:

τίς τ᾽ ἄρ σφωε θεῶν ἔριδι ξυνέηκε μάχεσθαι;
Λητοῦς καὶ Διὸς υἱός: ὃ γὰρ βασιλῆϊ χολωθεὶς
νοῦσον ἀνὰ στρατὸν ὄρσε κακήν, ὀλέκοντο δὲ λαοί,
οὕνεκα τὸν Χρύσην ἠτίμασεν ἀρητῆρα
Ἀτρεΐδης:

Wer von den Göttern führte die zwei im Kampf zusammen?
Letos und Zeus Sohn! Denn im Zorn auf den König
erregte böse Seuche dieser im Heer und die Scharen gingen ein,
alldieweil den Chryses entehrt hatte, den Priester,
der Atride.

Anmerkungen:
Letos und Zeus Sohn: Apollo
Atride: Agamemnon, Sohn des Atreus und der Aerope
Eigene Übersetzung des hier Schreibenden.

Nachdrücklich empfohlen sei hier auch folgendes Interview:
„Es war die erste Pandemie“. Eine weltweite Seuche leitete den Untergang des Römischen Reichs ein, sagt der Historiker Kyle Harper – und erzählt, was man daraus für die Gegenwart lernen kann. Das Gespräch führte Stefan Schmitt. DIE ZEIT Nr. 13, 19. März 2020, Seite 34

https://www.zeit.de/2020/13/historische-pandemien-roemisches-reich-coronavirus



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Platos Katze im Kerameikos

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Feb 032020
 
Katze im Kerameikos, dem antiken Friedhof Athens, 29.12.2019

Zu den erstaunlichsten Geschöpfen auf unserer Reise gehörte diese Katze im Kerameikos, dem antiken Friedhof Athens. In trübem winterlichem Wetter wollten wir den Weg abschreiten, der einst längs dem Friedhof der Stadt hinaus zum Hain des Akademos führte, wo Plato seine Akademie leitete.

Dieses in sattem Grün triefende Tal hatte einst der Fluss Eridanos geprägt. Hier fand diese Katze sicher alles, was zu einem gelungenen Leben im Frieden mit den Toten und den Lebenden gehörte. Sie schien mit ihrem Leben sehr zufrieden zu sein, hörte auf unser Locken und Schnalzen …

… und doch wehte der Geist Platos herüber, denn das Tier war nicht zufrieden mit der Welt der sinnlichen Erfahrung! Vergleichbar den Gefangenen in Platos Höhlengleichnis dämmerte es ihr, dass es noch etwa anderes geben musste als nur die Welt der sinnlichen Erscheinungen. Sie strebte nach Höherem!

Sie reckte und streckte sich, mühte sich ab, kletterte, strebte empor an der alten verfallenen Mauer! Es war, als wollte sie uns eine Botschaft übermitteln – „Hinauf, hinauf strebt’s, es schweben die Wolken abwärts, das Höhere neigt sich mir entgegen, mir, mir… O nehmt mich auf und achtet mich nicht zu gering, ihr höheren Wesen!“ Vergebens! Sie schaffte es nicht, diese Mauer zu erklettern.

Es war nur ein kurzer Augenblick im Kerameikos, eine Illumination, die sich mir gleichwohl unvergesslich einprägte!

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„Voleva la riconciliazione“ – una parola da salvare

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Jan 122020
 

Atene, sabato 28 dicembre 2019.- Provo stupore, ammirazione, brividi sulle pendici meridionali dell’Acropoli. Tappa obbligatoria: visita al teatro di Dioniso. Sì, è stato qui che furono rappresentate per la prima volta le tragedie di Eschilo, Sofocle ed Euripide. Cito, o canto piuttosto, alcuni versi del primo stasimo dell‘Antigone di Sofocle:
πολλὰ τὰ δεινὰ κοὐδὲν ἀνθρώπου δεινότερον πέλει.
τοῦτο καὶ πολιοῦ πέραν πόντου χειμερίῳ νότῳ
χωρεῖ, περιβρυχίοισιν
περῶν ὑπ᾽ οἴδμασιν.

Ascolto per un po‘ l’eco della propria voce, i riverberi di quasi tre milleni di storia umana… Poi cade il silenzio. Si respira un’aria falsamente fiduciosa in quello stasimo, mi pare. Dietro questo rigore, quest’iperbolico slancio dell’uomo che vuole vedersi padrone assoluto della terra si nasconde il dissidio totale tra gli esseri umani, l’assenza di riconciliazione tra le figure della tragedia, essendo Creonte ed Antigone in primis irrimediabilmente intrecciati in un contrasto aspro, crudele, senza la minima possibilità di una risoluzione vivibile. Nessuna pace dopo tanta guerra!

Rientriamo in albergo sul tardi. Sul cellulare ricevo un messaggio dal Piemonte. Raffaella Romagnolo ha lasciato proprio oggi un post bellissimo sul suo blog che tratta il tema della riconciliazione, quella cosa che sembra impossibile in contesti come quello dell‘Antigone di Sofocle. Lo leggo subito:

RICONCILIAZIONE
Una cosa da tenere.
Berlino, giovedì 25 aprile, presentazione di Bella ciao, che è la versione tedesca del mio Destino. Ripeto: 25 aprile, Berlino, Bella ciao. Coincidenze che, in un romanzo, sarebbero effettacci da quattro soldi, roba che un editor segnerebbe con la matita rossoblù, ma la vita se ne infischia della Letteratura.

La sala è piena. Traduzione simultanea, calici di vino rosso, pile di libri. Per loro è un giovedì sera qualunque, la settimana lavorativa quasi finita, un po’ di svago intelligente. Per me è il 25 aprile. Così racconto della Benedicta. Ha il suo bello spazio, nel romanzo. «Il più grande eccidio di partigiani della storia italiana» dico. Entro nei dettagli. Immagino che la traduzione simultanea spari nelle orecchie dei presenti parole come rastrellamento e fossa comune. Intanto io penso Berlino e 25 aprile. Mi trema la voce, ma vado avanti.

Alla fine della serata si avvicina un uomo. Intorno ai cinquanta, suppergiù la mia età. «A mio padre sarebbe piaciuto questo incontro» dice. Capisco che il padre è morto. «Era un soldato della Wehrmacht» aggiunge, e io sento tutto il coraggio che gli ci vuole, in un giovedì sera di fine aprile, profumo di fiori e l’aria tiepida di un’estate che arriva anzitempo, per prendere la vita di suo padre e depositarla nelle mani di un’estranea. «Voleva la riconciliazione» conclude. Ha un bell’italiano, dice proprio così: riconciliazione. Pace, dopo tanta guerra. Quella parola me la porto dietro, me la tengo stretta.
https://raffaellaromagnolo.wordpress.com/2019/12/28/riconciliazione/

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Worte, die klingen wie fließendes Öl, das sanft über die Schultern rinnt!

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Nov 162019
 

Gutes dankbares Nachsummen und Nachsinnen über die Sprache der Psalmen, die mich seit meiner Kindheit begleitet! Psalmen sind Gedanken, Gefühle, Reden, Bekenntnisse, Gespräche mit dem abwesenden Übersteigenden in poetisch gegliederter Gestalt, verfasst in hebräischer Sprache über Jahrhunderte im alten Israel, hundertfach aufgenommen, weitergesponnen, übersetzt in alle alten und modernen Mundarten. Ich vergleiche die Psalmen gerne mit fließendem Öl, das sanft über die Schultern rinnt.

Die Psalmen 12, 90 und 133 stehen morgen auf dem Programm unserer kleinen französischen Abendandacht.

Hier der Beginn des Psalms 133 in moderner französischer Fassung:

C’est comme l’huile précieuse qui, répandue sur la tête,
Descend sur la barbe, sur la barbe d’Aaron,
Qui descend sur le bord de ses vêtements.

„Es ist wie wertvolles Öl, das, ausgeschüttet über dem Kopf, den Bart hinabrinnt, den Bart Aarons,
Das über den Saum seiner Gewänder hinabläuft […]“

In einer älteren französischen Fassung, die Claude Goudimel 1564 vertont hat, lautet dieser Beginn des Psalms 133:

Cela me fait de l’onguent souvenir
Tant precieux, dont perfumer je voy
Aaron, le Prestre de la Loy.

Hier fällt auf, dass die beglückende Erfahrung des Übersteigenden als Erinnerung an etwas Fließend-Flüchtiges gefasst wird – an etwas Abwesendes!

Sonntag, 17. November 2019, 18 Uhr:
Abendandacht. Mit geistlicher Musik aus Frankreich. Texte und Improvisationen
Claude Goudimel: Genfer Psalter (1565)
Jehan Alain: Messe modale (1923)
Johannes Hampel, Violine
Nadia Boldakowa, Violine
Ursula Hillermann, Viola
Albrecht Kleinlein, Violoncello
Frauenchor – Männerchor
Kathrin Freyburg, Leitung
Joachim Krätschell, Lesungen
Christian Hagitte, Improvisationen
Hochmeisterkirche, Westfälische Straße 70A, 10709 Berlin-Halensee

Bild: feuchte Holzbohlen, alte Farbreste, Schrauben, alter Sportschuh der Größe 47,5, Konzertplakat. Aufgenommen heute im Park vor dem EUREF-Campus


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Berückende, rätselhafte Schönheit

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Mrz 292019
 
Sitzende weibliche Gewandstatue. Umgebung des Altars. Gesehen am 03.02.2019 in der Ausstellung: PERGAMON. Meisterwerke der antiken Metropole und 360°-Panorama von Yadegar Asisi. Berlin

Ist Sappho aus Eresos auf Lesbos die größte Dichterin aller Zeiten? Einen hinreißend-hingerissenen Hymnus in diesem Sinne schreibt der aus Kujawien stammende Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf in seiner Schrift „Die griechische Literatur des Altertums“ uns mit folgenden Worten hier hinein:

„Der Wohllaut der Verse, die reiche Skala der Töne, vom burlesken Spott auf die großen Füße eines Brautführers und der Schalkhaftigkeit eines Backfischchens bis zum Erzittern der seelischen Leidenschaft und dem verhaltenen Schluchzen der Verlassenheit, von dem Orgiasmus der Adonisklage bis zum stillen Frieden der Mondnacht und der Siestastimmung des südlichen Sommermittags: all diese wahrhaft goethische Lyrik hebt Sappho über all ihre männlichen Genossen; nur Archilochos mag in seiner Art gleichgroß gewesen sein.“

Wir fühlen uns bestätigt darin, dass es sich zu jeder Tages- und Nachtzeit lohnt, Sappho zu bewundern, sie zu zitieren, ihrer zu gedenken, sich ihr nachahmend anzunähern.

O wärst du da!

Zitat von Wilamowitz hier wiedergegeben nach: Griechische Lyrik. Auswahl von Hans Schnabel. Text. Verlag Aschendorff, 5. Auflage, Münster 1970, S. 75-76

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Mit tausend Gipfeln aufblühend: Pergamon, in Asia, in Berlin!

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Feb 032019
 
Statue eines bärtigen Gottes, sogenannter „Zeus“, möglicherweise auch Poseidon, Hades oder Asklepios. Heute gesehen in der Ausstellung:
PERGAMON. Meisterwerke der antiken Metropole und 360°-Panorama von Yadegar Asisi.

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Im Finstern wohnen die Adler und furchtlos gehn
Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg
Auf leichtgebaueten Brücken.

Kaum aus dem Staunen heraus komme heute ich nach dem Besuch der Ausstellung am Berliner Kupfergraben. Das Pergamonmuseum stellt einige seiner schönsten, besten und erstaunlichsten Werke für einige Jahre in einem gesonderten Ausstellungsbau aus und ergänzt sie um ein prachtvolles 360°-Panoramabild des Künstlers Yadegar Asisi. Länger verweilte ich vor diesem Götterbild, bei dem mir unabweisbar die Verse aus der Patmos-Hymne von Hölderlin in den Sinn kommen:

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.

Quelle: Friedrich Hölderlin: Patmos. Dem Landgrafen von Homburg. In: Hölderlin, Werke und Briefe, Bd.1, ed. Beißner/Schmidt, Frankfurt am Main 1969, S. 176-194, hier S. 176

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Jan 042019
 
Charles-Joseph Natoire: Die Ruinen des römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, 6. Mai 1760. Kupferstichkabinett Berlin. Gesehen in der Ausstellung: Rendezvous. Die französischen Meisterzeichnungen des Kupferstichkabinetts. Ausstellung von 07.12.2018 bis 03.03.2019


ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. So das Wort Jesu laut Lukas 13,35. Also geht euch verloren euer Haus, dürfen wir grobschlächtig übersetzen. Eine Klage über den Verlust des Hauses, in dem sie zu leben glaubten, eine Voraussage über die Zerstörung des Tempels, über das „Ende der Welt, wie sie sie kannten.“ Jesus lebte in der Naherwartung, er glaubte, das Ende der Welt, wie er sie kannte, stehe unmittelbar bevor. Das Ende seines Lebens wurde später von den Überlebenden, die sich zu ihm bekannten, als Vorwegnahme des Endes der Pracht und Herrlichkeit des alten Israel gedeutet, wie es dann als große Katastrophe im Jahr 70 eintrat.

Die Perikope aus dem Lukasevangelium kommt mir immer wieder in den Sinn, sobald ich an den Ruinen der großen Welt vorbeikomme. Nacherleben der verlorenen großen Welt!

Ob es nun der unter Kaiser Titus zerstörte Jerusalemer Tempel oder die Ruinen des Palatinspalastes sind: Die neue Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin bietet reichlich Gelegenheit, dieses Vorher und Nachher zu bestaunen, nachzuerzählen, nachzuerleben.

Große Kunst – wie sie hier an den französischen Meisterzeichnungen zu erfahren ist – geht häufig aus der Erfahrung der Zerstörung des Großen hervor, aus der Erfahrung des Nachher. Sie ist Nachhall eines unersetzlichen Verlustes.

Aber sie, diese Zeichnung, verbürgt auch den Neuanfang. Sie legt Zeugnis davon ab, dass es auch ein Leben nach dem Zeitenbruch gibt. Friedlich weidende Kühe, die melkende Hirtin, nicht zuletzt aber die an einen Flußgott erinnernde, vorne lagernde Gestalt bekunden die Erwartung des Neuanfanges. Es ist, als raunte es uns aus der Zeichnung zu: „Das Leben geht ja weiter.“ Das Göttliche, der Gott ist vielleicht doch nicht ganz tot.

Nur das Haus des Großen, der Tempel des Göttlichen ist verloren, ist verworfen. Unser Haus ist zur Wüste geworden. Wir sind – die Unbehausten. Aber die Erinnerung daran lebt fort. Sie, Mnemosyne, spendet Kraft und schließt uns unter freiem Himmel zur Gedächtnisgemeinschaft zusammen.

 Posted by at 22:37