Jeszcze Europa nie zginęła: la consegna del Premio italo-tedesco per la traduzione 2020

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Jun 272020
 

„Jeszcze Europa nie zginęła“, dieser polnisch zu singende Weckruf kommt mir in den Sinn, wenn ich an die Verleihung des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises 2020 zurückdenke, der ich am 23. Juni 2020 als stumm lauschender Zuhörer über das Internet in der virtuellen Realität beiwohnte.

Der Mitschnitt der Preisverleihung ist weiterhin online abrufbar:
https://lcb.de/programm/verleihung-des-deutsch-italienischen-uebersetzerpreises-2020/

Willst du wissen, Leser, was ich dazu meine? Nun, ich meine ganz persönlich, zu Zeiten, da andere Stimmen drei- oder gar vierstellige Euro-Milliardenbeträge in hymnischen Tönen aufrufen im festen Glauben, die europäische Einigung mit solchen Mitteln wesentlich zu befördern oder zu erkaufen, haben die Minister Monika Grütters und Dario Franceschini, die Übersetzerinnen Verena von Koskull, Friederike Hausmann und Carola Köhler, die Redner Maike Albath, Ingo Schulze und Claudio Magris alle ihren kaum mehr zu vernehmenden, stillen Gegenglückston gesetzt: die Einigung Europas im Geist, im guten gelingenden Wort, im kulturell gebundenen Austausch, im Sich-Hineinversetzen in die andere und den anderen, in das andere und die anderen: in der Gemeinschaft im Wort!

Ich gebe gerne zu, die weitere europäische Einigung wird sicherlich nicht zum Nulltarif zu haben sein, aber machen wir uns nichts vor: Das große Vorhaben kann nur gelingen, wenn es die Menschen auch wollen und so „sagen und singen“, und wenn es durch ein einigendes symbolisches Band umschlungen und beglaubigt wird – das mag das Möbius-Band sein, welches ab 1. Juli 2020 die deutsche Ratspräsidentschaft überwölbt, das kann und soll aber vor allem, so meine ich, das endlose geflochtene Band des versöhnenden, menschenverändernden Wortes sein. Und dieses Wort kostet nichts …  nichts außer einer inneren, sozusagen menschen-übersetzenden Wandlung! 

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„Uns droht die Kultur!“, oder: Muss man der EU die Kultur „aus dem Kreuz leiern“?

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Jun 162020
 
Europas Kultur, eine mehrsprachige Baustelle? Elstal, Aufnahme vom 31.05.2020

Gerade haben wir das Europäische Kulturerbe-Jahr, was man der Kommission förmlich aus dem Kreuz leiern musste.“ So schreibt es 2019 Martina Michels, Mitglied im Kulturausschuss des Europäischen Parlaments. Ein hartes, schroffes Wort! Trifft diese Diagnose der EU-Abgeordneten zu, wonach die EU-Kommission keinen Sinn für das europäische Kulturerbe habe?

Uns droht die Kultur!”, so seufzen die  Beamten in Brüssel laut dem Zeugnis des 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Schriftstellers Robert Menasse, wenn es um die Verteilung der Zuständigkeiten geht. “Österreich soll mit Kultur abgespeist werden!” 

Freundinnen, Freunde! Ist die Kultur wirklich ein europäisches Folterinstrument? Ist die europäische Kultur eine Art Resterampe, an der kleinere Staaten wie Österreich abgespeist werden? Stimmt dieses Bild?

Die Fragen lassen schmunzeln. Aber eines steht fest: In der EU lässt sich offenbar mit europäischer Kultur kein Staat machen!

Derzeit gilt der Kampf mit aller Macht wahlweise einem winzig kleinen Erzfeind, er bestimmt die Schlagzeilen, er beherrscht wie ein ungekrönter König das gesamte Gespräch, ihm sind alle andere Erwägungen untergeordnet: seine Majestät – das Virus! Hierfür schont man weder Budgets noch Schuldengrenzen.

Oder man blickt auf das große riesige Ganze: die Rettung der Welt vor dem offenbar demnächst bevorstehenden Untergang. Auch hierfür spart man nicht an Billionen und Aberbillionen! Das Virus und die Weltenrettung, das sind die beiden Wegweiser auf Europas Autobahn!

Gilt für die EU heute, was der Karikaturist Thomas Theodor Heine 1927 im Simplicissimus über die Weimarer Republik sagte:

Sie tragen die Buchstaben der Firma – aber wer trägt den Geist?

Diesen Fragestellungen wollen wir uns in den nächsten Tagen widmen!

Zitate:

Martina Michels (Hg.): Europa eine Stimme geben. Europäisches Lesebuch. Brüssel 2019, S. 26


Robert Menasse: Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag, Berlin, 2. Aufl. 2017, S. 45-46


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Mai 082017
 

Neben den Märchen der Gebrüder Grimm, den Gedichten und Dramen Goethes, den Chorälen und Passionen Bachs und den drei Kritiken Kants zählten die Grafiken und Gemälde Dürers früher zum Kernbestand der kulturellen Leitwerke, die in Deutschland und weltweit in anderen Ländern von Generation zu Generation weitergegeben wurden.  Sie waren lebendiger Teil der europäischen Leitkulturen und folglich auch Teil der wie immer wandelbaren, aber doch weithin bekannten und geschätzten deutschen Leitkultur.

Jeder, der länger als 4 Jahre die Schule besucht hatte, war mit ihnen irgendwie in Berührung gekommen, hatte einige Gedichte Goethes oder Schillers gelernt, einige Märchen der Grimms gehört, einige Grafiken Dürers erklärt bekommen, und, soweit er das Gymnasium besucht hatte, ein paar Sätze aus den Kritiken Kants gelesen.

Wie schaut es heute aus? Außer den Märchen der Gebrüder Grimm kann heute nichts mehr davon zum Allgemeinwissen eines deutschen Schülers gerechnet werden. Es gibt in Kunst und Kultur gar keinen Kanon mehr, an dem man sich abarbeitet, stößt, den man bezweifelt, befragt, abklopft – und endlich wohl auch gar liebt.

Unsere Schüler verlassen heute in Deutschland in aller Regel die Schule, ohne eine lebendige Beziehung zu den Gedichten und Dramen Goethes, den Grafiken Dürers oder zu den Chorälen und Passionen Bachs aufgebaut zu haben. Bezeichnend etwa, dass bei einer Befragung für Plasbergs Fernsehsendung „Hart aber fair“ die älteren Schüler des Berliner Goethe-Gymnasiums mit einigen  der berühmtesten Zeilen Goethes nichts verbinden konnten, ja sie nicht einmal erkannten.

Von einem Stillstand des kulturellen Gedächtnisses spricht zu Recht Ellen Euler heute in der FAZ auf S. 11. Ich würde noch weitergehen: Wir erleben eine echte Entkernung des deutschen, ja des europäischen kulturellen Gedächtnisses. Es gibt schlechterdings keine Leitwerke oder Leitvorbilder mehr, auf deren Kenntnis man sich bei der Mehrheit der in Deutschland Aufwachsenden verlassen kann.

Sowohl die Fibel als auch die Bibel haben in Deutschland ausgedient. Man macht heute alles neu, alles besser, das Alte ist oder war so schlecht. Man dient sich in der pädagogischen Arena den neuen Medien an, statt sie sich weise zunutze zu machen.

Was ich bei den Schülern heute noch in Berlin und anderen deutschen Städten wahrnehme, was ich etwa den in den Schulen verwendeten Lesebüchern entnehme, das  sind kümmerliche Restbestände einer deutschen Leitkultur, aber keine echte Befassung, keine tiefe Auseinandersetzung mehr mit den jahrhundertelang gepflegten, jahrhundertelang gesammelten und errungenen Vorbildern der europäischen Leitkulturen. Und die Schuld daran tragen nicht die Schüler, sondern wir!

Dabei wäre es so wichtig, auf kulturelle Leitbilder zu setzen! „Grimms Märchen waren meine Integration!“, derartiges konnte man immer wieder hören von Menschen, die in Deutschland angekommen sind.

Das gemeinsame Erzählen, das gemeinsame Hören, das gemeinsame Nachspielen und Inszenieren von Grimms Märchen etwa wäre ein richtiger Ansatz zur „Integration durch Kultur“. Man kann sogar sagen: Kitakinder und Grundschüler, die ein paar Monate lang in Grimms Märchen gelebt haben, sie wieder und wieder gehört haben, sie nachgespielt haben, die sind angekommen in der deutschen Sprache, die brauchen keine Integrationslotsen mehr. Die sind hier zuhause. Und viele Dutzende Integrationskonferenzen –  (die der hier Schreibende besucht hat) – wären mit einem Schlag überflüssig, wenn man sich auf einen gewissen Grundbestand an zeitüberdauernden  kulturellen Leitbildern und Leitwerken geeinigt hätte, an die die Kleinen rechtzeitig herangeführt werden sollen.

Ellen Euler schlägt heute vor, die Jüngsten spielerisch an die Leitwerke der Kultur heranzuführen. So können etwa Kinder Grafiken Dürers als Ausmalbildchen bekommen. Und das ist, so meine ich, goldrichtig! Sie sagt: „Je früher man ein solches Angebot machen kann, umso besser, denn dann bleiben die Sachen auch im gelebten Gedächtnis und sind nicht nur unabgerufene Fragmente im Speicher.“

Frühe Heranführung, frühe Befassung, spielerisches Hineinwachsen in die Werke und Bilder der europäischen Leitkulturen, das brauchen die Kinder, davon lebt der kulturelle Zusammenhang, das ist der Kitt der Integration.

 

 

 

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/republica-ellen-euler-sieht-kulturellen-stillstand-in-europa-15004621.html

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Sokrates und die Bibel in gutes Deutsch übersetzt – ist das die deutsche Leitkultur?

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Dez 102015
 

Einen wertvollen Denkanstoß zu unserer Besinnung auf das, was die deutsche Leitkultur oder überhaupt die nationalen Leitkulturen Europas ausmacht, lieferte im Jahr 1856 der Dichter Ernst Moritz Arndt.

Seine Formel für den Grundbestand der europäischen Nationalkulturen lautete damals: Griechische Antike und Bibel.

Die Weisheit des hartnäckig fragenden Sokrates mit dem Schatz der Bibel zusammengebracht – das ist in der Tat, in gröbster Vereinfachung, das Basiswissen unserer europäischen Nationalkulturen. Dies gilt, so meine ich, in dieser Allgemeinheit völlig unspezifisch für Polen, Russen, Griechen, Deutsche, Franzosen, für Juden, Muslime, Christen und Atheisten gleichermaßen!

Das sind die unerlässlichen Grundzutaten der vorwaltenden Kulturen aller europäischen Völker. Die Mischung im Teig variiert, aber die Ausgangsstoffe sind überall dieselben.

Und das Nationale, das Eigentümliche der europäischen Völker, des Europas der 47 europäischen Staaten? Es tritt in Form von „Zuschlagstoffen“ hinzu. Aber der Teig, die Masse als solche bleibt dieselbe.

Die Bibel und der größte Zweifler, der wegen Gotteslästerung und Jugendverführung hingerichtete Skeptiker der hellenischen Antike in verlässliches Deutsch übersetzt, das dürfte einen großen Teil unserer deutschen Leitkultur ausmachen. Sie, die nationalen Leitkulturen Europas, sind allesamt Übersetzungskulturen! Nachfolgekulturen der griechischen Antike und der griechisch übersetzten Bibel sind es samt und sonders! Ohne Kenntnis der griechischen Antike und der Bibel kann man die europäischen Leitkulturen nicht würdigen und nicht verstehen.

Wer hätte das gedacht! Ausgerechnet bei Ernst Moritz Arndt finden wir dieses Grundschulwissen! Ein langer Weg, den er seit seinen Anfängen zurückgelegt hat!

Lest selbst, diskutiert diese steile These!

Ernst Moritz Arndt
Der Dämon des Sokrates

Sokrates, der große Geisteskämpfer,
Hatte einen Flüstrer und Erreger,
Einen Weiser Leiter Halter Dämpfer
Und auch Diener und Laternenträger,
Wo es galt durch Finsterniß zu wanken.
Dieser Ohrenflüstrer Haucher Lauscher,
Aller seiner Triebe und Gedanken
Kluger Mitdurchsprecher Gegentauscher
Galt ihm, wie uns Andern das Gewissen;
Dämon schalt er ihn und all sein Wissen,
All sein Ahnen Lieben Denken Wollen –
Wie in uns auch Geisterchen sich rollen –
Schob er diesem Führer zu und Folger.

Ach! ruft Jeder, lebt noch wo ein Solcher?
Sind sie denn erloschen jene Sterne,
Woher solche Folger Menschen kamen?

O ihr Gaffer, Greifer in die Ferne!
Könnt ihr des Begleiters kurzen Namen,
Jenes weisen, gottgeweihten Griechen,
Euch in gutes Deutsch nicht übersetzen?
Müsset durch den Hochmuth doppelt siechen?
Drum herunter von den hohen Stufen!
Auf die Bank der Schüler mit der Fibel!
Dort wird auch der Kleinste lachend rufen:
Das war ja der Engel aus der Bibel.

Quelle:
Gedichte 1830-1900. Nach den Erstdrucken in zeitlicher Folge herausgegeben von Ralph-Rainer Wuthenow. [=Epochen der deutschen Lyrik. Herausgegeben von Walther Killy, Band 8], Deutscher Taschenbuch Verlag, 2. Aufl., München 1975, S. 237

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Frisch, ihr Fibeln, seid den Flüchtlingen zur Hand!

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Sep 072015
 

Spreeufer 20150901_112016

http://karl-landherr.de/thannhausen-landkreis/deutschkurs-für-asylbewerber/

Einen großen Erfolg feiern gerade der pensionierte Lehrer Karl Landherr aus Thannhausen und seine Mitstreiter. Sie haben erkannt, was beim dringend benötigten Deutschunterricht für die Zuwanderer und Flüchtlinge fehlt: ein verlässliches, taugliches Lehrbuch.

Dieselbe Beobachtung machte ich als Vater, der zwei Söhne durch die Berliner staatlichen Grundschulen begleitet hat: für die heutigen Grundschüler, die mit geringen oder ganz ohne Deutschkenntnisse in die Kita oder Schule kommen, gibt es kein wirklich gutes, taugliches Grundschullehrbuch Deutsch.

Sowohl in der Kita wie in der Grundschule arbeiten die Erzieher und Lehrer mit mühseligst zusammengeklaubten, zusammenfotokopierten Materialien.

Einige Jahre lang habe ich selbst ebenfalls „Deutsch für Spätaussiedler“, „Deutsch als Fremdsprache für Erwachsene“ unterrichtet – und selbst da war das Bild ein ähnliches: ich fand kein Buch, das ich guten Gewissens den Spätaussiedlern oder Ausländern als Grundlage des Deutschlernens in die Hand hätte geben können. Die Lehrwerke waren zu intellektuell, zu theoretisch, zu grammatiklastig, sie sprachen nicht zum Herzen, sie waren in der Aufmachung zu schludrig und als Bücher meist nicht stabil genug. Sie zerfledderten, zerfielen, es „blieb einem nichts in der Hand“ und nichts im Herzen.

Es fehlt heute im Deutschunterricht für Kinder und für Zuwanderer das, was generationenlang, ja jahrhundertelang als Grundlage des Unterrichts im Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben diente: die Fibel, auch „Sprachbuch“, „Sprachlehre“, „Lesebuch“, erste „Lesefibel“ genannt.

Die Fibel muss neben den Elementen der Sprachlehre auch einfache alte Geschichten, einfache Märchen, einfache alte Lieder und Sprichwörter in deutscher Sprache und bunte Bilder enthalten. Die Geschichten, Märchen, Sprichwörter und Lieder in deutscher Sprache sollten zeitüberdauernden Wert haben, sie sollten nicht rotzfreche aktuelle Songs aus der Hitparade der Didaktiker sein, sondern diejenigen Werte vermitteln, die in allen Völkern, allen Religionen, allen Kulturen anerkannt sind: Achtung und Fürsorge für die Schwachen und Alten, Liebe zwischen Eltern und Kindern, Verantwortung für die Mitmenschen, Ermutigung und Ermahnung, Schmerz und Leid, Wanderschaft und Heimkehr, Sehnsucht, Glück und Unglück, Tod und Krankheit.

Grimms Märchen, das Schatzkästlein des Johann Peter Hebel, Kalendergeschichten  und andere Werke konnten früher als derartige Fibeln dienen – heute muss es doch möglich sein, eine zeitgemäße und doch haltbare deutsche Fibel zu schreiben, die zugleich einen gewissen Kanon an Sprichwörtern, Werten, Gedichten, Liedern und Geschichten bietet.

Ich habe beispielsweise bemerkt, dass an modernen Berliner Schulen fast nicht mehr gesungen wird und vor allem, dass peinlichst genau jedes Lied vermieden wird, in dem das Wort Gott vorkommt; jedes Lied, das Bezug auf Themen der Religion enthält, wird sorgsam vermieden – warum eigentlich? Warum muss im staatlichen Schulunterricht jede Bezugnahme auf Gott so klinisch und aseptisch vermieden werden, wie das heute der Fall ist? Hat nicht der in der Nähe von Betlehem geborene Berliner Politiker Raed Saleh uns einst erzählt, wie sehr ihm das Singen der Adventslieder und das Basteln von Weihnachtsschmuck gefallen haben? Er wurde doch dadurch nicht zum Christentum konvertiert, aber er lernte einen gemüthaften, gefühlten Zugang zur deutschen Sprache und Kultur – zu deutschen Menschen.

Wanderschaft und Heimkehr, Sehnsucht, Glück und Unglück, die Gleichnisreden Jesu Christi wie etwa die Erzählung vom barmherzigen Samariter, Tod und Krankheit: diese Themen sind universal, sie öffnen die Herzen, mit ihnen kann man jede beliebige Sprache erlernen.

Eine derartige Fibel für Zuwanderer sollte möglichst nicht von den akademischen Koryphäen der jeweiligen saisonalen neuesten pädagogischen Methode, sondern von erfahrenen Schulleuten wie etwa Karl Landherr gemacht werden, die selber viele Kinder unterrichtet haben. Und sie muss solide und reißfest gebunden sein, sie muss die Jahre überdauern, sie muss von Hand zu Hand gehen können.  Sie würde weggehen wie warme Semmeln. Sie wäre der Schlager auf dem deutschen Buchmarkt! Die Verlage könnten viel Geld damit verdienen.

In einem früher bekannten deutschen Gedicht hieß es:

„Frisch, Gesellen! seyd zur Hand! “

Bild: Am Spreeufer, Foto vom 01.09.2015

Zitat: Musen-Almanach für das Jahr 1800. Tübingen: Cotta 1799, S. 243, hier zitiert nach: Das deutsche Gedicht. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hgg. von Wulf Segebrecht. S. Fischer Verlag o.O. 2005, S. 167

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„Nimm doch die Pfeife aus dem Mund – du Hund!“, oder: Kirstis Klarheit

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Aug 272015
 

Hochablass 20150822_143128

Letztes Wochenende süffelte ich zusammen mit meinem Bruder ein Weizenbier im Vereinslokal des DJK Augsburg Hochzoll in der Zugspitzstraße. Der kurzgeschorene Rasen lag ausgedörrt in der Sonne, die Zunge klebte ebenfalls ausgedörrt am Gaumen. Es stand 1:0 beim Spiel des FCA gegen Frankfurt. Würde Frankfurt noch den Ausgleich schaffen? Es war so heiß, das Reden fiel mir schwer. Alte Erinnerungen stiegen hoch. War es nicht hier? Hier hatte ich doch damals mit der Schülermannschaft des TSV Firnhaberau ein Fußballspiel ausgetragen, hier hatte ich doch unter sengender Hitze das blechern klingende Lied „Ein Student aus Uppsallallala“ aus dem Stadionlautsprecher gehört, oder täuschte ich mich? Wir verloren, wie hoch? Das habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich „Ein Student aus Uppsala“!

Doch, das war so. Und das Lied „Ein Student aus Uppsala“ prägte sich mir unauslöschlich ein.  Gesungen hat es die Kirsti mit ihrer bezaubernden Stimme. Viele Verse daraus kann ich heute noch auswendig. Warum?

Kirsti hatte die Gabe, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz so zu singen, dass sie über Jahre und Jahrzehnte haften blieben. Kirstis Aussprache des Deutschen war vorbildlich. Kirsti hatte offenbar eine sehr gute Schulung durchlaufen.

Ebenso unvergesslich: Der „Surabaya Johnny“, das Lied von Bert Brecht und Kurt Weill, gesungen von Lotte Lenya. „Nimm doch die Pfeife aus dem Mund, du Hund!“ Hier stimmt jedes Wort, hier stimmt jeder Satz, man sieht gewissermaßen, man erlebt mit, wie Lotte Lenya diesem unverwüstlichen, unsympathischen und doch unwiderstehlichen Surabaya Jonny die Pfeife aus dem Mund schlagen möchte!

Hört man solche und andere ältere Aufnahmen von deutschsprachigen Songs, Schlagern, Liedern und Opernarien an, so stellt man immer wieder fest, dass jedes einzelne Wort noch Jahrzehnte später klar, frisch und eindeutig zu verstehen ist.

Die Norwegerin Kirsti Sparboe, die Wienerin Lotte Lenya, der niederländische Kinderstar Heintje  … die Reihe lässt sich fortsetzen:   die Italienerin Milva, der Tscheche Karel Gott, der Österreicher Peter Alexander – sie alle verfügten noch über das, was heute bei deutschsprachigen Schauspielern und Sängern fast nicht mehr zu finden ist, weder im Pop noch im Rap, weder in der Unterhaltungsmusik noch auf der Sprechbühne noch in der sogenannten E-Musik: eine bestechend klare, fest sitzende, das Verständnis der Worte und Wörter sichernde Aussprache des Deutschen – oder auch des Englischen.

Diese hohe Kultur des Sprechens und Singens droht heute mindestens in Deutschland nach meinen Eindrücken verlorenzugehen, und zwar durch die Bank bei Sängern, Schauspielern, Chören, bei Profis und bei Laien, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fast gleichermaßen.

Der European Song Contest liefert Jahr um Jahr besonders schlagende Belege dafür. Viele Texte (in diesem Fall in Englisch) sind gerade bei deutschen Teilnehmerinnen nur halb verständlich, es wird genuschelt, gemümmelt, gedrückt und gesäuselt, was das Zeug hält. Technische, computertechnische, ja pyrotechnische Effekte beherrschen die Szene, die Show überwiegt, das gesungene Wort verschwimmt und verschwindet. Und viele besonders erfolgreiche  Sänger könnten eindeutig auf offener Bühne gar nicht mehr ohne technisches Backup oder Playback singen.

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass von Kindesbeinen an nicht mehr so viel gemeinsam gesungen wird? Vielleicht daran, dass es keine gemeinsamen Texte, keinen gemeinsamen Kanon an Liedern, Märchen und Geschichten mehr gibt?

Wie auch immer. Abfinden sollte man sich damit nicht!  Ich denke, gerade wenn wir jetzt 800.000 Menschen, 800.000 neue Mitbürger ohne jede Kenntnisse der Landessprache Deutsch in einem einzigen Jahr in Deutschland integrieren wollen, was ja löblich ist, was ich gutheiße, müssen wir unbedingt unsere Muttersprache Deutsch mehr achten und pflegen. Und wir sollten bei uns, bei unserem Sprechen damit anfangen.

Kirsti, Milva, Lotte, Heintje, Peter, Karel … sie alle können uns lehren, dass gutes, klingendes, verständliches, beseeltes Deutsch möglich und nötig ist, wenn wir es wollen. So wahnsinnig schwer ist es auch wieder nicht! Und es macht Spaß!

Das Motto der Arbeit ergibt sich zwanglos beim Betrachten eines beliebigen Bildes, hier zum Beispiel: der Hochablass in der Brecht-Stadt Augsburg, aufgenommen in Hochzoll am 22. August 2015.
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund!
Sei doch kein knurrender Hund!
Höre das Rauschen des tosenden Lechs,
wie er hinabstürzt über den Hochablass!
Kiesel um Kiesel nimmt er mit sich.
Wer kann dem tosenden Fluß widerstehen?
Wer könnte, wer wollte sich diesem Fluß entgegenstemmen?
Ich nicht! Du nicht! Schwimme mit mir!
Aber noch einmal sage ich’s dir:
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Sei doch kein knurrender Hund.

Eine schöne Handreichung zur eigenen Arbeit an guter Aussprache möchte ich abschließend noch empfehlen:

Klaus Heizmann: So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Schott Verlag Mainz, 2. Aufl. 2011

 

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Микола Васильович Гоголь oder Николай Васильевич Гоголь?

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Aug 042014
 

Meine lieben Russen sagen dies, meine lieben Ukrainer sagen das. Dies oder das – wer weiß da noch, wer recht hat? Vielleicht beide, oder? Ich würde sagen: Versöhnt euch lächelnd und lachend, o ihr Russen, und o ihr Ukrainer.

War Mikola Gogol bzw. Nikolai Gogol eigentlich Russe oder Ukrainer? Eine endlos zu diskutierende Frage! Ich selber halte mich bedeckt dazu. Wer bin ich, dass ich darüber urteilen könnte? Ein bayerisches Nichts, ein schwäbischer Niemand!

Der große ukrainisch-russische Schriftsteller schrieb seine Werke auf Russisch und zollte nichtsdestotrotz lebenslang seiner ukrainischen Herkunft dankbar lächelnd oder auch laut lachend Tribut. Und über die Missstände im russischen Riesenreich schrieb er – Bände. Der Revisor ist eine einzige lachhafte Anklageschrift gegen Duckmäusertum, Passivität, Spiegelfechterei und blinde Unterwerfung gegenüber den Autoritäten des riesigen Reiches.

Ukrainer oder Russe? S’ist unerfindlich, wie es Nathan der Weise  in Lessings Nathan dem Weisen sagt. In jedem Fall – ich erinnere mich einer sehr unterhaltsamen Puppentheater-Aufführung seiner „Schuhe der Zarin oder die Nacht vor Weihnachten“ – die wir vor einigen Jahren zur Weihnachtszeit in Moskau belachten.

Bullernde Wärme herrschte drinnen in der guten Stube im tiefverschneiten knackig-frostigen russisch-ukrainischen Winter. Deutlich hörte ich den strengen deutschen Akzent heraus, mit dem die Zarin Katharina die Große sich zum Thema Schuhe äußerte. Die FRAU und die Welt der SCHUHE – ein endloses, für Männer kaum eindeutig zu entwirrendes Drama. Hat Gogol das ganze Drama je durchschaut? Ich bezweifle dies sehr. Den ukrainischen Akzent des Schmieds hörte ich damals noch nicht heraus, meine bayrisch-schwäbischen (oder deutschen?) Ohren waren vollauf beschäftigt, der verworrenen Handlung in dem ukrainischen Dorf mehr oder minder vollständig zu folgen. Eher minder. Aber es war verteufelt, der Teufel steckte noch im kleinsten Detail.

Ich denke – niemand hindert die Russen und die Ukrainer daran, sich gemeinsam lachend über ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu freuen. Große Schriftsteller können Brücken schlagen.

 

 

 

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Doch es geht auch anders: Die Lehre des spannenlangen Hansels

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Mrz 112014
 

Weit ab von den Diktaten des heutigen Jugend- und Schlankheitswahns verbrachte der Kreuzberger Blogger seine Kindheit im Kreise der Geschwister und Nachbarskinder. In Grundschule und Kindergarten wurde damals fleißig von unvollkommenen, gleichwohl liebenswerten Menschen gesungen, etwa vom spannenlangen Hansel, von der nudeldicken Dirn. Vom dummen Ivan und von der faulen Liese. Vom hässlichen Aschenputtel und vom unwirschen Rumpelstilzchen, vom dummen Hans im Glück und vom fleißigen Katerlieschen.

Das war gelebte Inklusion!

Wir alle waren „spannenlange Hanseln“, wir alle waren „nudeldicke Dirnen“. Was war so schlimm daran? Dick und rund, na und? WAS ist SCHLIMM daran?

Nebenbei: Wir lernten mit derartigen lustigen, auch wohl lächerlichen Liedern die Willkommenskultur von Vielfalt (ACCEPTING DIVERSITY, wie man heute hochtrabend auf Denglisch sagt), wir lernten, dass nicht alle gleich sind und auch nicht gleich sein müssen. Wir lernten uns bewegen. Wir lernten singen. Wir lernten Rhythmus nicht über die zugestöpselten Ohren eines I-pod-Anhängsels, sondern durch Singen, Zählen, Tanzen, Spielen.

Wir lernten einwandfreies Deutsch, wir lernten Lachen, wir lernten Schütteln, Rütteln, Hupfen.

Verdient hat an uns singenden, lachenden, tanzenden Kindern niemand. Im Gegenteil, das Singen von Liedern, das Tanzen von Tänzen war kostenlos. Es gab keine Konferenzen und Kongresse zum Thema ACCEPTING DIVERSITY. Das Thema wurde gelebt, gesungen, erzählt und vorgetanzt.

WAS WAR SCHLIMM DARAN?

Spannenlanger Hansel – Kinderlieder und Singspiele | Labbé Verlag.

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Aug 122013
 

Phaidon_beginning__Clarke_Plato

Der fleißige Kreuzberger Hausfreund las als guter Europäer frühmorgens schon ein kleines Häppchen Platon. Was liegt näher als das Mittelmeer – zumal nach einem so herrlichen Urlaub an der türkisch-griechischen See?

Sokrates vergleicht bekanntlich im Phaidon die Griechen mit Fröschen, die in ihren kleinen Siedlungsflecken um einen Teich säßen, der von den Säulen des Herakles (=Gibraltar) bis zum Phasis, dem Grenzfluss in Armenien reiche:

Ἔτι τοίνυν, ἔφη, πάμμεγά τι εἶναι αὐτό, καὶ ἡμᾶς οἰκεῖν  τοὺς μέχρι Ἡρακλείων στηλῶν ἀπὸ Φάσιδος ἐν σμικρῷ τινι μορίῳ, ὥσπερ περὶ τέλμα μύρμηκας ἢ βατράχους περὶ τὴν θάλατταν οἰκοῦντας, καὶ ἄλλους ἄλλοθι πολλοὺς ἐν πολλοῖσι τοιούτοις τόποις οἰκεῖν.

Also ist das Mittelmeer laut Sokrates eine Art Froschtümpel! Wichtig festzuhalten: Die Griechen verknüpften mit ihrer Besiedlung der Ränder des Mittelmeeres keinerlei universalen Machtanspruch. Die Idee eines Reiches lag ihnen sehr fern. Im Gegenteil: Die Zerstrittenheit der Griechen untereinander war legendär. Die Idee des Großreiches wurde zunächst nur im Osten der Mittelmeerwelt verkörpert, in den großen Machtverbänden der Perser, der Meder, der Ägypter. Die Großreiche der Antike entstanden zunächst im Osten, im „Orient“, wie wir heute sagen. Sie waren nicht griechischen Ursprungs. Der griechische Blick auf die bewohnte Welt hatte damals gewissermaßen kein Zentrum. „Dieser Blick erfasste die Vielzahl der Länder in ihrem Nebeneinander“ (C. Meier).

Bild: Kodex mit der ältesten erhaltenen Handschrift, dem Beginn  des platonischen Phaidon, der Codex Clarkianus aus dem späten 9. Jh.
Zitate:
Platonis Phaidon, ed. Burnet, Oxonii 1903, ed. St. 109
Christian Meier: Kultur, um der Freiheit willen. Griechische Anfänge – Anfang Europas? Siedler Verlag, München 2009, S. 34

 

 

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Geflochten auf das Rad der Wiederholungen: Beschneidungsdebatten, Ehrenmorde, kulturelle Assimilation, Aufruf zum Gewaltverzicht … und wieder … und wieder

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Mrz 252013
 

2013-03-24 10.54.58

„Seht, ich lehre euch die ewige Wiederkehr.“ So Nietzsches Zarathustra. Was dem Zarathustra Nietzsches zweifellos immer wieder aufleuchtete, war das plötzliche Gewahrwerden des „Das hatten wir ja schon einmal!“ –

„Das hatten wir ja schon einmal!“

„Schon einmal?“ –

„Nein, viele Male!“

Dies ist der Quellpunkt im Brunnen des mythischen Bewusstseins, das uns alte, uns uralten Europäer eint: Überall entdecken wir Gewesenes, im Vorschein des Künftigen sehen wir den Widerschein des Vergangenen.

Bis in die Wortwahl hinein spiegeln beispielsweise die erregten innenpolitischen Debatten der Bundesrepublik um die Integration oder Assimilation der Zuwanderer, um Einzigartigkeit und Singularität deutscher Schuld und deutscher Scham, deutscher Schande und deutscher Strafe jene jahrtausendealten Begebenheiten und Einzigartigkeitsdebatten wider, von denen uns die alten Schriften des Buches der Bücher erzählen.

Ein paar dieser jahrtausendealten Fragen lauten: Ab wann gehören die Menschen des anderen Volkes zu uns? Wie vermischen, wie vereinigen sie sich mit uns?

Antwort im Buch Genesis: Sie gehören zu uns, sobald sie unsere Religion, also unsere Kultur durch das sichtbare Zeichen der Beschneidung annehmen. Ohne die vollständige rituelle Assimilation, ohne das sichtbare Zeichen der Beschneidung gehören sie nicht zu uns und wir nicht zu ihnen. Und genau so wird dies von namhaften Religionsgemeinschaften bis zum heutigen Tage vertreten.

Sind wir Deutschen auf alle Zeiten das Trägervolk des Bösen, da wir den Holocaust verursacht haben, der doch etwas Einzigartiges war, wie uns Deutschen wieder und wieder auf Treu und Glauben von den Deutschen und anderen Völkern versichert wird? Oder waren die mehreren Shoas des 20. Jahrhunderts, die Katastrophen, in die Völker hineingeschickt wurden,  eine vielfache Wiederkehr, eine Gischt-Brechung der Gemetzel früherer Zeiten, früherer Völker, früherer Gewalt? Fragen, Fragen!

Fromme gelehrte Juden lehnen bekanntlich den Ausdruck Holocaust wegen seiner rituellen Überhöhung ab und sprechen lieber von der jüdischen Shoah des 20. Jahrhunderts, vergleichbar etwa der jüdischen Shoah des Jahres 70 n. Chr.  Mit Blick auf die von Belgiern gemetzelten Kongo-Völker, die von Turkvölkern gemetzelten Armenier, die von Russen gemetzelten Kulaken, die von Russen und Deutschen gemetzelten Polen und Ukrainer, die von Deutschen gemetzelten Russen, die von europäischen Völkern unter Führung der Deutschen gemetzelten Juden und die vielen anderen, von anderen Völkern  gemetzelten Völker wird man von mehreren Shoas mehrerer Völker im 20. Jahrhundert sprechen können und sprechen müssen. Statt Shoah empfiehlt es sich auch, den Ausdruck Katastrophe zu verwenden. Genau diesen Ausdruck „Kata-strophe“ für Kultur-bruch, deutlichst hervorgehoben durch Zeilen-bruch und Seiten-bruch, verwendet Thomas Mann in seiner Nacherzählung des Holocausts des uralten kanaanitischen Volkes der Hiwiter. Die gezielte vollständige Vernichtung und Ausplünderung, die Shoah der Hiwiter wird von Stammvater Jakob als absoluter, als nicht zu unterbietender Tiefpunkt des Volkes Israel gedeutet, als absoluter Zivilationsbruch. Das blutrünstige Gemetzel, die Shoah der Hiwiter, die Katastrophe der Hiwiter ist also zugleich die völlige sittliche Katastrophe der Söhne Jakobs.  Sie führt zur rituellen Lossagung des Vaters von den Söhnen:

„Simon und Levi, die Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören, mit ihrer Rotte vereinige sich nicht mein Herz. Denn in ihrem Zorn brachten sie Männer um, mutwillig lähmten sie Stiere.“

Zerstörte Vielfalt! Lesen wir etwa im Buch Bereschit/Genesis, dem 1. Buch Mose das Kapitel 34, so werden wir sogleich erkennen: Nein, die völlige Auslöschung und Ausplünderung eines benachbarten Volkes, die Forderung nach bedingungsloser Assimilation ist keineswegs neu. Keineswegs neu und keineswegs einmalig ist die Lust am Gemetzel, das Waten im Blut, das Ausplündern der zuvor Assimilierten, der Unterjochten, die Auslöschung ganzer Völker.  Frauenraub, Zwangsheiraten, Frevel, Rechtsbruch, Verrat und Hinterlist scheinen zum menschlichen Gewese aller Zeiten zu gehören. Die Möglichkeit zur Lust am Gemetzel, zur Ausplünderung und Vernichtung ganzer Städte, ganzer Völker, wie sie gerade das europäische 20. Jahrhundert in den Jahren 1914-1989 an mehreren Völkern, an mehreren Kulturen so überreich ausgeführt erlebte, gehören seit unvordenklichen Zeiten, seit den Zeiten eines Kain und Abel, eines Simeon und Levi, eines Ödipus, Eteokles, Polyneikes, einer Antigone und eines Kreon zum Kernbestand menschlicher Kultur. Zum Kern der Kultur gehört der Kulturbruch in Gewalt. Zum Kernbestand menschlicher Zivilisation, zur Menschen-Natur gehört der absolute Zivilisationsbruch.

Aber auch das erschütterte Klagen, das Zürnen und das Fluchen und Segnen der wenigen Aufrechten, die sich dem Frevel der Söhne entgegenstellen, gehören dazu! Der berühmte Jakobs-Segen des ersten Buchs Moses bietet ebenso strahlend und fast unüberbietbar die Möglichkeit, dem Bösen, das auf alle Zeiten in uns wohnt, zu widersagen. Er bietet die Handhabe zum Neubeginn nach dem absoluten Zivilisationsbruch. Es geht ja doch wieder weiter – auch nach dem völligen, dem singulären  Zivilisationsbruch! Der Segen und der Fluch des Vaters übertrifft an Wirkkraft das rein Natürliche der Menschen-Natur. Im Widersagen an das Böse befestigt sich das Wissen und die Einsicht in das, was gut für den Menschen ist. Die griechische Septuaginta, eine Frucht des Bemühens zahlreicher jüdischer Gelehrter um Übersetzung des hebräischen Urtextes der Weisung in die neue Weltsprache Griechisch, gibt die zehn Gebote völlig zutreffend im Futur wider. Auf Griechisch heißt es also nicht: „Du darfst/sollst nicht töten!“, Sondern: „Du wirst nicht töten!“

Knapp einfach und in die Zukunft hineingreifend wird dies manchmal so genannt:

Du wirst nicht töten!
Du wirst Vater und Mutter ehren!
Du wirst nicht lügen!
Du wirst nicht ehebrechen!

Wurzelquellen:
Hebräische/griechische Bibel (Torah/Septuaginta): Buch Genesis/Bereschit insgesamt, darin besonders: Kapitel 34 passim; Kapitel 49, 1-28
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Erster Band: Die Geschichten Jaakobs. Drittes Hauptstück: Die Geschichte Dinas. Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, 1972. Darin  besonders:  S. 148, letzte Zeile bis S. 149 erste Zeile; „Das Gemetzel“, S. 176-180
Aischylos: Sieben gegen Theben
Sophokles: Oidipus Tyrannos, Antigone

Bild: Ein rätselhafter Brunnen der Vergangenheit im Johannesstift Spandau, aufgenommen im harten Winter gestern. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?

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