Sep 052012
 

„Was hatten die Griechen des Altertums jenseits ihrer uns im Nachhinein fast unfassbaren Zerstrittenheit und kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Antwort: Recht wenig – außer der Verehrung der olympischen Götter, den olympischen Spielen und Homer. So schroff kann man es durchaus sagen.

„Was haben die heutigen europäischen Völker jenseits ihrer im Nachhinein oft unfassbaren kriegerischen Streitlust gemeinsam?“ Kulturell gesehen recht wenig – außer dem Bezug auf die drei mosaischen Religionen Judentum, Christentum und Islam und einer zivilgesellschaftlichen Tiefenprägung durch das Imperium Romanum.

Einen weiteren Beleg für meine Diagnose eines zutiefst unvollständigen europäischen Bewusstseins meine ich in der Vernachlässigung all jener Richtungen des Christentums zu erkennen, die weder dem römisch-katholischen noch dem evangelischen Flügel zuzuordnen sind. Die Kirchenspaltung, zu deren Überwindung heute namhafte deutsche Laien aufrufen (siehe FAZ S. 1), wird in Deutschland und in Westeuropa ausschließlich als die Trennung zwischen römisch-katholisch und evangelisch gesehen.

Dabei gehören der EU mit Griechenland, Zypern, Bulgarien und Rumänien vier Länder an, deren Bevölkerung sich mit über 80%, ja bis zu 97%  zum Christentum bekennt, wenngleich sie weder römisch-katholisch noch evangelisch bzw. protestantisch sind.

„Wie denn das?“ Antwort: Während die Völker des europäischen Westens das Neue Testament in lateinischer Sprache empfingen, empfingen es die Völker des Ostens in griechischer Sprache. Diese Völker gehören zum weiten Bereich des orthodoxen Christentums. Die Spaltung zwischen orthodoxem und lateinischem Christentum datiert wesentlich auf das Jahr 1054.

Die Bibel, also erstens der ältere hebräische Teil, bei den Christen Altes Testament genannt, verbunden zweitens mit dem Neuen Testament der Christen ist in der Tat neben der paganen Antike eine überaus wichtige kulturelle Klammer, welche die beiden Lungenflügel Europas zusammenhält, in ihrer Bedeutung vergleichbar den Gesängen Homers oder den Olympischen Spielen für das alte Hellas.

Das gilt unabhängig davon, ob man sich zur Person Jesu Christi bekennt oder nicht, also ob man „Christ“ ist oder nicht. Und selbstverständlich sind die biblischen Geschichten auch überreich im Koran der Muslime weitergeführt, wenngleich unter leicht veränderten Namen. So heißt unsere Maria, die hebräische Miriam, dort auf arabisch Meryam.

Hebräischer Tenach, christliches Neues Testament, neuerdings auch muslimischer Koran – ohne eine Befassung mit diesen drei Büchern wird man Europa kaum vollständig ausbuchstabieren können.

Und deshalb meine ich: das ganze Christentum sollten wir in den Blick nehmen – nicht nur den westlichen Lungenflügel.

 Posted by at 13:53

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