Sep 052012
 

Von den „beiden Lungenflügeln Europas“ sprach Karol Woytyla gerne – er meinte damit den Osten und den Westen Europas. Ein Lungenflügel allein sei nicht wirklich lebensfroh.

Dass die Diagnose „halbseitig gelähmt“ für Deutschlands historisches Gedächtnis und insbesondere auch die vorherrschende Denkweise in der Europäischen Union weiterhin zutrifft, dafür entnehme ich der heutigen Frühstücks-FAZ einen zufälligen Beleg:

Günther Nonnenmacher beleuchtet im Leitartikel auf Seite 1 die Verwerfungen und Verschiebungen der europäischen Hegemonialmächte. Zentral ist in seiner Analyse der folgende Satz: „Das politisch-militärische Hegemonialstreben Deutschlands ist im 20. Jahrhundert schrecklich gescheitert.“ Der Satz ist nicht zu beanstanden, gibt er doch die übliche, ganz auf Deutschland fixierte Sicht wider, wonach Deutschland und nur Deutschland versucht habe, dem ganzen Kontinent seinen Stempel aufzudrücken. Dem könnte man eigentlich fast zustimmen, wäre da nicht eine empfindliche Lücke festzustellen: Weder Nonnenmacher noch auch die Mehrzahl der sonstigen Kommentatoren erwähnen, dass es in Europa seit 1917 bis zum Jahr 1989 noch eine zweite, nicht minder aggressive, militärisch hochgerüstete Hegemonialmacht gab: die Sowjetunion, den Nachfolgestaat des Russischen Reiches.

Die Russische Republik bzw. die spätere Sowjetunion hat zwar seit dem Rapallo-Vertrag von 1922 bis zum August 1941 mit Deutschland meist gemeinsame Sache auf Kosten der kleineren Länder gemacht, aber doch auch stets und unausgesetzt versucht, den eigenen Machtbereich gegen die Hegemonialbestrebungen Deutschlands auszubauen. Ich schlage deswegen gern vor, von einer bipolaren Störung der europäischen Mächtebalance in den Jahren ab 1920 zu sprechen, wobei Deutschland und Russland die beiden Pole darstellen. Die kleineren Länder waren in diesen Jahren gezwungen, entweder mit der Sowjetunion oder mit Deutschland zu paktieren. Manche Länder wechselten die Seiten, einige sogar mehrfach: Inferno of choice, wie das in Polen in einem gleichnamigen Band genannt worden ist.  Einen dritten Weg jenseits der freiwilligen oder erzwungenen Unterwerfung unter eine der beiden Hegemonialmächte gab es nicht.

Dieses bereits 1920 einsetzende russisch-sowjetische Machtstreben hat den angrenzenden Ländern Finnland, Ukraine, den drei baltischen Staaten, den mitteleuropäischen Staaten Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, ferner Rumänien, Bulgarien, aber auch den mittelasiatischen Ländern wie dem heutigen Georgien, Armenien, Azerbeidschan lange, oft qualvolle Jahrzehnte bis 1989 einen machtvollen Stempel aufgedrückt, dessen sie sich mit äußerster Mühe in den letzten beiden Jahrzehnten zu entledigen suchen.

So ist etwa die Westverschiebung Polens, die Vertreibung der Polen aus den neuen russisch-sowjetischen Gebieten und die Vertreibung der gesamten deutschen Bevölkerung aus den sogenannten „wiedergewonnenen polnischen Gebieten“ nur aus dem Machthunger der Sowjetunion zu erklären.

Die völlige Vernachlässigung der früheren Großmacht Russland bzw. Sowjetunion und ihrer weitverzweigten, militärisch durchgesetzten Machtoptionen, das einseitige Starren auf den „Urquell des Bösen“, nämlich Deutschland, ist eines der Haupthindernisse für eine gerechte Einschätzung der Freiheitsbestrebungen etwa der Polen, Tschechen und Ungarn.

Diese Missachtung des östlichen Lungenflügels, also des früher sowjetrussisch beherrschten Ländergürtels,  behindert auch die Lösung der Krise der Europäischen Union.

Wir alle wissen: Das politisch-militärische Hegemonialstreben Deutschlands und das der Sowjetunion sind im 20. Jahrhundert schrecklich gescheitert. Aufgabe der Europäischen Union ist es, allen erneuten Anwandlungen einer nationalistischen Aufwallung, eines aggressiven Vormachtstrebens den Boden zu entziehen.

Nur wenn man die verheerenden Auswirkungen der früheren Fremdherrschaft der Sowjetunion so sieht, wie es die ehemals sowjetisch besetzten und aus Moskau gesteuerten Länder tun, wird man erkennen, wie unverzichtbar gerade für Länder wie Polen, Lettland oder Tschechien die Europäische Union ist.  Nur die Europäische Union flößt den ehemals zwischen Deutschland und Russland zerriebenen kleineren Nationalstaaten – noch – die Gewissheit ein, dass sie endlich ihre bitter erkämpfte Freiheit und nationale Eigenständigkeit bewahren können.

 Posted by at 13:14

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