Beim Schlendern an meiner Buchwand entlang fiel mir heute ein amerikanisches Buch aus der Studentenbibliothek meines Vaters auf: The Possessed. Dostoyevsky. Offenkundig ein Stück aus dem umfangreichen Lektürekanon, den die deutschen Marshall-Fund-Stipendiaten (wie mein Vater) während ihres USA-Aufenthaltes nach dem zweiten Weltkrieg komplett durchzulesen hatten. Nun, ich, der Sohn des Stipendiaten, werde wohl kaum Dostoevsky auf Englisch lesen.
Aber ich las soeben das 1935 geschriebene Vorwort Avrahm Yarmolinskys zur Übersetzung der „Dämonen“ von Dostojewski. Aufwühlend!
Yarmolinsky schreibt: „In some respects Dostoyevsky’s emotional nationalism and racialism anticipate the Fascist philosophy of our own day.“ Er fährt fort: Der ehemalige Sozialrevolutionär Dostojewski, der Gewalt und Umsturz befürwortet habe, habe sich bald zum brennenden Unitaristen gewandelt: Zar und Russentum, christliche Orthodoxie und Staat gehen Hand in Hand, „Thron und Altar“ unterstehen dem Zaren von Gottes Gnaden, die Russen als Träger des höheren Menschentums, als Erlöservolk Europas, ja der ganzen Menschheit … Welterlösung durch die überlegenen Gene des russischen Volkes … von da führt ein gerader Weg zu der unfassbaren Überlegenheitsgeste Lenins, Stalins … bis hin zur russischen Politik von heute!
Den Zaren haben die Revolutionäre 1917 abgeschafft, geblieben ist aber ohne jeden Zweifel der Cäsaropapismus, also der Anspruch der russischen Machthaber, die höhere spirituelle Wahrheit, in deren Besitz sie sich wissen, mit den Mitteln des Staates und der Politik durchzusetzen, auch mit Gewalt durchzusetzen.
Erlösung Europas von allem Bösen durch die Politik! Das Thema begleitet uns bis heute! Mit größter Sympathie studierte auch die westeuropäische Studentenbewegung der Jahre ab 1966 die französischen, deutschen und russischen Revolutionäre von Fourier und Bakunin bis hin zu Lenin, Trotzkij, Stalin und Fidel Castro. Etwa 130 Jahre nach Dostojewskis sozialistischer Frühphase schlugen Rudi Dutschke, Bernd Rabehl, Daniel Cohn-Bendit, Christian Ströbele, Horst Mahler (erst Sozialist, dann Nationalsozialist) und viele viele andere, der SDS, die AL in Berlin-Kreuzberg, all die Sozialrevolutionäre, Antikapitalisten, Kommunisten, die grünen Anti-Nationalisten und Anti-Patrioten, die Antideutschen von Friedrichshain ganz ähnliche Töne von kollektiver sozialistischer Welterlösung an.
Bis zum heutigen Tag überlebt die Hoffnung, man könne durch den einen großen, großartigen Streich, etwa durch die Abschaffung des Kapitalismus, durch die Entdeutschung bzw. Europäisierung Deutschlands oder/und die Hinführung zum Kommunismus das Böse in der Weltgeschichte ein für allemal beseitigen.
Immer wieder erkennen wir dasselbe Grundmuster: Die Politik unterfängt sich, das Böse oder die Ungerechtigkeit in der Weltgeschichte durch einen kollektiven Plan, eine revolutionäre Befreiung zu beseitigen. Und das Böse, das ist der bestehende Staat, das ist der Kapitalismus, das ist die Polizei, das ist Deutschland und seine deutsche Unheilsgeschichte, das ist der Klimawandel usw. usw. Die Figuren des Bösen sind austauschbar, entscheidend ist: Man versucht das Böse schlechthin, das Ungerechte schlechthin durch einen genialen, langfristig denkenden Plan abzuschaffen.
Es lohnt sich, originale Texte aus den 30er Jahren zu lesen! Das Wissen über die Bewusstseinslage der 30er Jahre speist sich heute fast nur noch aus zweiter Hand. Wie dachte man damals über die Sowjetunion? Woher speiste sich das Gefühl einer akuten Bedrohung durch die Bolschewisten und durch die Nationalsozialisten/Faschisten, das damals in allen nichtsozialistischen Ländern mit Händen greifbar war, von Spanien über Frankreich und Polen bis hin zu Italien und Deutschland?
Wie reagierte die Welt auf die Nachrichten vom massenhaften Hungertod, von Menschenfresserei und politischem Massenmord in der Ukraine? Warum wird heute verschwiegen, dass die millionenfachen „Säuberungen“, also der systematische Massenmord in der Sowjetunion der 30er Jahre durch die staatlichen Organe damals überall bekannt waren? Warum schwiegen Bert Brecht und alle anderen westlichen intellektuellen Russlandreisenden über den millionenfachen Massenmord, der sich vor ihren Augen abgespielt hatte?
Kaum jemand liest noch die russischen, deutschen, amerikanischen, polnischen, französischen Quellen aus den 30er Jahren in den Originalsprachen. Die verdienstvolle Initiative „Zeitungszeugen“, also der Nachdruck originaler Tageszeitungen aus den 30er Jahren, wurde in Deutschland törichterweise unterdrückt und zum Teil gerichtlich verboten. Deshalb ist auch das Geschichtsbild der Deutschen, aber vor allem der Franzosen und Italiener so furchtbar verzerrt und einseitig, mit verheerenden Folgen bis in die Tagespolitik hinein. Siehe die europäisch-russischen, die europäisch-ukrainischen Beziehungen!
Aber auch die politischen Ansichten eines Jean-Paul Sartre oder Bert Brecht speisen sich aus bemerkenswerter Unwissenheit russischer Quellen und russischer Geschichte.
Das Vorwort Avrahm Yarmolinskys zu Dostojewskis Dämonen, das ich heute zufällig in die Finger bekam, ist eine erstrangige Quelle für die Geschichtsschreibung und die Analyse der aktuellen politischen Strategien Russlands.
Nachweis:
Avrahm Yarmolinsky: „Foreword“, in: Fyodor Dostoyevsky: The Possessed. Translated from the Russian by Constance Garnett. With a foreword by Avrahm Yarmolinsky and a translation of the hitherto suppressed chapter „At Tihon’s“. The Modern Library, Random House, New York 1936