„Es zeigt sich einfach, dass der Euro nicht funktioniert, sondern immer größere wirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugt, und am dramatischsten zeigt sich das eben in Griechenland“, wurde am Wochenende eine Bundestagsabgeordnete in der WELT und der FAZ zitiert. Krass. Eine steile, ja geradezu eine krude These! Die Bundestagsabgeordnete NN bemängelt am Euro-System, dass es die Handlungsmöglichkeiten der Regierungen zu stark einenge.
Das ganze Euro-Wesen – so dürfen wir zusammenfassen – sei also gewissermaßen das Ende der Freiheit. Ich denke, die krude These dieser Bundestagsabgeordneten NN verdient eine vorurteilslose Diskussion. Aus diesem Grund sei ihr Name hier nicht genannt. Wie sie heißt und welcher Partei sie angehört, spielt hier keine Rolle; der Wahrheitsgehallt einer Aussage bemisst sich schließlich nicht danach, wer sie äußert. Entscheidend ist stets: Trifft diese Aussage zu? Ist sie wahr, teilweise wahr – oder ist sie falsch, teilweise falsch?
Zweifellos stützt sich die zitierte krude These nicht nur auf softe Gefühle, sondern auch auf harte Zahlen. Die Schere zwischen wohlhabenderen und ärmeren Volkswirtschaften ist seit 1996 innerhalb der Eurozone deutlicher als außerhalb der Eurozone auseinandergegangen. Das verblüfft, beruhte der Euro doch auf der Grundannahme der Konvergenz. Die Konvergenz der Euro-Volkswirtschaften hat jedoch abgenommen, die Divergenz hat hingegen dramatisch zugenommen. Und nunmehr hat ausgerechnet im Reiche des Euro sogar Frankreich den Status als wichtigster Handelspartner der Bundesrepublik Deutschland an die USA abgeben müssen; Handelspartner Nummer 1 sind jetzt die USA, nicht mehr wie jahrzehntelang Frankreich. Das heißt, das Handelsvolumen Deutschlands mit den USA hat während der Herrschaft des Euro stärker zugelegt als das mit Frankreich. Der außenwirtschaftliche Trend zeigt also abwärts für die zweitgrößte Volkswirtschaft der Euro-Zone.
Noch krasser ist aber der Befund in der drittwichtigsten Euro-Volkswirtschaft, in Italien. Hier haben wir aktuell eine Jugendarbeitslosigkeit von 43%, Italiens Volkswirtschaft ist seit 1996 – als der Jubel über den Euro-Beitritt unüberhörbar erscholl – fast nicht mehr gewachsen. Darüber hinaus hat sich sogar innerhalb Italiens die Divergenz zwischen ärmeren und reicheren Gegenden vergrößert. Der Süden Italiens – dem ich mich übrigens durch langjährige Erfahrungen mit jeder Faser meines Herzens verbunden fühle – leidet an einem langanhaltenden wirtschaftlichen Niedergang. Quasi quasi mi si strazia il cuore! Adriano Giannola, 71, emeritierter Professor für Finanzwirtschaft, Präsident der Vereinigung für die Entwicklung des italienischen Südens (SVIMEZ) sagte es am 24.08.2015 in der Süddeutschen Zeitung (S. 18) so: „Der Euro hat die innere Spaltung des Landes in einen mangelhaft kapitalisierten Süden und in einen halbwegs leistungsfähigen Norden eher befördert als vermindert.“
Und immer wieder spreche ich persönlich auf Kreuzbergs und Schönebergs Hinterhöfen mit gut ausgebildeten Akademikerinnen und Akademikern aus Portugal und Spanien, die deutsche Plätze fegen, deutsches Unkraut jäten, deutsche Treppenhäuser putzen. Man fragt sich mit Horaz: Hoc erat in votis monetae unicae dedicatis? Ward dies dem Euro an der Wiege gesungen?
Dabei soll aber nicht alle Schuld ausschließlich dem Euro gegeben werden! Das tut ja auch niemand. Fest scheint aber zu stehen, dass der Euro nicht nur wegen politischer Versäumnisse und Fehler, sondern auch aus strukturellen, aus systemischen Gründen im vergangenen unrühmlichen Ventennio der Eurozone insgesamt mehr Schaden als Nutzen beschert hat.
Insofern ist – egal was die LINKE-Mehrheit, die CDU/CSU-Mehrheit, die SPD-Mehrheit und die FDP-Mehrheit nicht müde werden zu behaupten und endlos weiter vertreten – der Bundestagabgeordneten Sahra Wagenknecht und dem Finanzwirtschaftler Adriano Giannola vorsichtig zuzustimmen. Beide haben eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient.
Sahra Wagenknecht und Adriano Giannola gehören zweifellos zu den Minderheitlern, den Menschewiki im Chor der politischen Stimmen, wie sie auf Russisch zu Beginn des 20. Jahrhunderts genannt wurden. Aber sie haben gerade deswegen eine vorurteilslose Erörterung ihrer kruden Thesen verdient. Man sollte sie nicht als Rechtspopulisten oder Europafeinde abkanzeln.
http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/montagsinterview-italien-ist-nie-eine-geeinte-nation-gewesen-1.2617855?reduced=true
http://www.welt.de/politik/deutschland/article145454656/Sahra-Wagenknecht-stellt-den-Euro-infrage.html
http://www.svimez.info/index.php?lang=en