Was für eine schöne Überraschung. Mit dem Lied „Wer recht in Freuden wandern will“ auf den Lippen wanderte ich gestern von Kadıkalesi nach Turgutreis. Zwei Dinge erfreuten mich: Ich sah erstmals auf türkischen Straßen mehrere Radfahrer innerhalb weniger Minuten – und seitab der Straße lachte ein nachhaltig bewirtschafteter Öko-Bauernhof mich an. Ich trat durch das Hoftor, begrüßte den Bauern: „Euch gab es aber vor 5 Jahren noch nicht, als ich das letzte Mal hier entlang wanderte …!“, begann ich. „Ja, wir sind erst seit 1 Monat hier. Der Hof ist ganz neu! Du kannst dich ruhig umschauen!“
Ich schaute mich um: Überall sind Obstbäume gepflanzt, Gemüsebeete angelegt, Bäume, Büsche und Beete scheinen klug aufeinander abgestimmt. Nachhaltige, ressourcenschonende Landwirtschaft! Schafe weiden und blöken in einem Gatter, einige Kühe äsen im Schatten der Bäume, Hühner scharren an der Erde. Eine Art Paradies für den Wanderer, der sich bekanntlich dort nicht im Schweiße des Angesichts den Rücken krumm schuften muss!
„Euer Hauptproblem ist wohl die Bewässerung?“, fragte ich Cem, den Besitzer des Bauernhofes nach einem Blick auf die vielen verlegten Wasserschläuche. „Nein, im Gegenteil! Es gibt in 25 m Tiefe hier reichlich bestes Grundwasser, zumal es im Winter fast zu viel geregnet hat. Wir pumpen unser eigenes Grundwasser und leiten es über eine Bewässerungsanlage auf die Beete und Felder. Wasser ist da! Aber es gibt noch sehr sehr viel Arbeit zu leisten!“
Bei einem Glas selbstgemachter Limonade genoss ich den herrrlichen Anblick des Öko-Paradieses, zu dem ich von Herzen Ja sagte.
Da hörte ich ein lautes „Hayir“. Hayir heißt nein. Was war geschehen? Ein kleines Mädchen, etwa drei Jahre alt, hatte einen Stein aufgenommen und schickte sich an, ihn auf eine Beleuchtungsanlage zu werfen. Die Mutter des Kindes saß wachsamen Auges daneben, der Stein in der wurfbereiten Hand des Mädchens gefiel ihr nicht. Sie verbot dem Kind freundlich, aber bestimmt mit einem Hayir das Werfen des Steines. Hayir heißt nein.
Da fiel mir ein, was ich damals als Jugendlicher aus dem Buch „Eltern, Kind und Neurose“ von Horst-Eberhard Richter mitgenommen hatte: Die Kinder müssen das Nein lernen. Ohne das Nein der Eltern kann das Kind nicht wachsen. Vor der Geburt holt sich das Kind alles, was es braucht, aus dem Körper der Mutter – auch auf Kosten der Mutter. Es lebt gewissermaßen in einem Paradies nach dem Motto. Hol dir was du brauchst.
Jede Schwangerschaft kostet die Mutter einen Zahn, sagte man früher.
Anders spielt die Musik nach der Geburt, diesem ersten großen, überwältigenden Erlebnis jedes Menschen. Das Kind kann nicht alles haben, vor allem nicht sofort haben. Von Anfang an muss das Kind nach der Geburt das aufschiebende, verbietende, grenzensetzende Nein lernen: „Du darfst nicht Steine auf Lampen werfen. Du darfst nicht ins tiefe Wasser springen, wenn du nicht schwimmen kannst. Du darfst nicht lügen. Du darfst schwächeren Geschwistern nicht das Essen stehlen, du darfst nicht sitzenbleiben, wenn Ältere und Schwächere deinen Sitzplatz benötigen … “ Usw. usw., eine ganze Batterie an Verboten, Mahnungen, Zurechtweisungen!
Das feste Nein lernen. Das müssen wir Eltern den Kindern ermöglichen.
Ich war dankbar. Wieder hatte ich etwas einsehen gelernt, was allzu leicht vergessen wird: es gibt das Paradies nicht. Das Nein, die Mühe, der Fleiß, die Arbeit sind unerlässlich, um zusammenzuleben und gut zu leben.
Ich bot an, die Limonade zu bezahlen, aber Cem lehnte ab: „Du bist mein Gast. Komm wieder, bring deine Familie mit, wir sind immer da.“
„Ich sehe eine große Zukunft für euch. Cem, ihr habt ein riesiges Potenzial. Ich komme gerne wieder!“ So verabschiedete ich mich und wanderte weiter in der heißen Landstraße zwischen Turgutreis und Kadıkalesi, ein deutsches Wanderlied auf den Lippen.