Lob der Barfüßer

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Jul 152023
 

Hier war einmal ein Kirchenschiff der Barfüßerkirche – heute ein Innenhof, frei zugänglich auch für Tauben, unter freiem Himmel

Μὴ κτήσησθε πήραν εἰς ὁδὸν μηδὲ δύο χιτῶνας μηδὲ ὑποδήματα μηδὲ ῥάβδον – „Nehmt weder Ranzen noch zwei Obergewänder, auch weder Schuhe noch Wanderstab mit“, auf dieses Gebot Jesu (hier aus Mt 10 zitiert), leichten Sinnes und ohne jede überflüssige Last barfuß zu gehen, bezogen sich die „Barfüßer“, also Angehörige jener Ordensgemeinschaften, die auch in Augsburg ihre eigene Kirche errichteten – die „Barfüßerkirche“, an der ich nach ungezählten Schultagen auf die Straßenbahnlinie 1 wartete (statt die 6 km nachhause barfuß zurückzulegen).

Hier in der Barfüßerkirche wurde übrigens Bert Brecht getauft, hier besuchte er den Religionsunterricht, hier wurde er konfirmiert. Eine Erklärtafel brachte bei unserem Besuch dieser Kirche am vergangenen Sonntag die Einzelheiten und zeigte uns den jungen Brecht mit Ranzen und gepflegtem Schuhwerk:

Die Kirche wurde im Februar 1944 durch verheerende Bombardierungen völlig zerstört, heute ist sie mit ergreifender Dürftigkeit, fast ohne Schmuck, beraubt, ein Denkmal der Obdachlosigkeit, mit offenem Gewölbe als eine Kirche der Armut wieder hergerichtet; von der ursprünglichen Ausstattung ist alles verloren gegangen. Im Altarraum sahen wir zwei Mal Jesus, beide Male unbeschuht, ohne Obergewand, ohne Ranzen, ohne Wanderstab, beraubt und schmucklos – und in hebräischen goldenen Lettern das Tetragramm. Das heute zu sehende „Christkind“ schuf übrigens Georg Petel.

So wenig braucht es, um so viel zu sagen.

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Angelehnt an das Gitter der Zeiten: Bert Brecht

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Apr 082023
 

Meiner Vaterstadt Dichter, wie find ich ihn doch?
Angelehnt ans lebensrettende Gitter
nimmt er die Gestalt eines weiß überstrichenen Tandems an.
Gemütlich lächelnd wacht er vor dem Haus,
das seinen Namen trägt.
Zwischen den Zahnrädern, nein zwischen den Zähnen
höre ich ihn pfeifen –
„Ja macht nur einen Plan, und macht noch einen Plan…“
Dann wendet er sich ab von dem Fremden,
der seine Vaterstadt mit ihm teilt.
Es ist ja Karsamstag. Tag der Grabesruhe.
Das war seine Erklärung zum heutigen Tag.

Fremd geworden, steige ich den altvertrauten Pilgerhausberg hinan.
Es regnet nieselnd, lächelnd im Regen
blickt mir der Dichter hinterher
angelehnt an das ihn haltende Gitter der Zeit.

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Aug 272015
 

Hochablass 20150822_143128

Letztes Wochenende süffelte ich zusammen mit meinem Bruder ein Weizenbier im Vereinslokal des DJK Augsburg Hochzoll in der Zugspitzstraße. Der kurzgeschorene Rasen lag ausgedörrt in der Sonne, die Zunge klebte ebenfalls ausgedörrt am Gaumen. Es stand 1:0 beim Spiel des FCA gegen Frankfurt. Würde Frankfurt noch den Ausgleich schaffen? Es war so heiß, das Reden fiel mir schwer. Alte Erinnerungen stiegen hoch. War es nicht hier? Hier hatte ich doch damals mit der Schülermannschaft des TSV Firnhaberau ein Fußballspiel ausgetragen, hier hatte ich doch unter sengender Hitze das blechern klingende Lied „Ein Student aus Uppsallallala“ aus dem Stadionlautsprecher gehört, oder täuschte ich mich? Wir verloren, wie hoch? Das habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich „Ein Student aus Uppsala“!

Doch, das war so. Und das Lied „Ein Student aus Uppsala“ prägte sich mir unauslöschlich ein.  Gesungen hat es die Kirsti mit ihrer bezaubernden Stimme. Viele Verse daraus kann ich heute noch auswendig. Warum?

Kirsti hatte die Gabe, jedes einzelne Wort und jeden einzelnen Satz so zu singen, dass sie über Jahre und Jahrzehnte haften blieben. Kirstis Aussprache des Deutschen war vorbildlich. Kirsti hatte offenbar eine sehr gute Schulung durchlaufen.

Ebenso unvergesslich: Der „Surabaya Johnny“, das Lied von Bert Brecht und Kurt Weill, gesungen von Lotte Lenya. „Nimm doch die Pfeife aus dem Mund, du Hund!“ Hier stimmt jedes Wort, hier stimmt jeder Satz, man sieht gewissermaßen, man erlebt mit, wie Lotte Lenya diesem unverwüstlichen, unsympathischen und doch unwiderstehlichen Surabaya Jonny die Pfeife aus dem Mund schlagen möchte!

Hört man solche und andere ältere Aufnahmen von deutschsprachigen Songs, Schlagern, Liedern und Opernarien an, so stellt man immer wieder fest, dass jedes einzelne Wort noch Jahrzehnte später klar, frisch und eindeutig zu verstehen ist.

Die Norwegerin Kirsti Sparboe, die Wienerin Lotte Lenya, der niederländische Kinderstar Heintje  … die Reihe lässt sich fortsetzen:   die Italienerin Milva, der Tscheche Karel Gott, der Österreicher Peter Alexander – sie alle verfügten noch über das, was heute bei deutschsprachigen Schauspielern und Sängern fast nicht mehr zu finden ist, weder im Pop noch im Rap, weder in der Unterhaltungsmusik noch auf der Sprechbühne noch in der sogenannten E-Musik: eine bestechend klare, fest sitzende, das Verständnis der Worte und Wörter sichernde Aussprache des Deutschen – oder auch des Englischen.

Diese hohe Kultur des Sprechens und Singens droht heute mindestens in Deutschland nach meinen Eindrücken verlorenzugehen, und zwar durch die Bank bei Sängern, Schauspielern, Chören, bei Profis und bei Laien, bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fast gleichermaßen.

Der European Song Contest liefert Jahr um Jahr besonders schlagende Belege dafür. Viele Texte (in diesem Fall in Englisch) sind gerade bei deutschen Teilnehmerinnen nur halb verständlich, es wird genuschelt, gemümmelt, gedrückt und gesäuselt, was das Zeug hält. Technische, computertechnische, ja pyrotechnische Effekte beherrschen die Szene, die Show überwiegt, das gesungene Wort verschwimmt und verschwindet. Und viele besonders erfolgreiche  Sänger könnten eindeutig auf offener Bühne gar nicht mehr ohne technisches Backup oder Playback singen.

Woran liegt das? Vielleicht daran, dass von Kindesbeinen an nicht mehr so viel gemeinsam gesungen wird? Vielleicht daran, dass es keine gemeinsamen Texte, keinen gemeinsamen Kanon an Liedern, Märchen und Geschichten mehr gibt?

Wie auch immer. Abfinden sollte man sich damit nicht!  Ich denke, gerade wenn wir jetzt 800.000 Menschen, 800.000 neue Mitbürger ohne jede Kenntnisse der Landessprache Deutsch in einem einzigen Jahr in Deutschland integrieren wollen, was ja löblich ist, was ich gutheiße, müssen wir unbedingt unsere Muttersprache Deutsch mehr achten und pflegen. Und wir sollten bei uns, bei unserem Sprechen damit anfangen.

Kirsti, Milva, Lotte, Heintje, Peter, Karel … sie alle können uns lehren, dass gutes, klingendes, verständliches, beseeltes Deutsch möglich und nötig ist, wenn wir es wollen. So wahnsinnig schwer ist es auch wieder nicht! Und es macht Spaß!

Das Motto der Arbeit ergibt sich zwanglos beim Betrachten eines beliebigen Bildes, hier zum Beispiel: der Hochablass in der Brecht-Stadt Augsburg, aufgenommen in Hochzoll am 22. August 2015.
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund!
Sei doch kein knurrender Hund!
Höre das Rauschen des tosenden Lechs,
wie er hinabstürzt über den Hochablass!
Kiesel um Kiesel nimmt er mit sich.
Wer kann dem tosenden Fluß widerstehen?
Wer könnte, wer wollte sich diesem Fluß entgegenstemmen?
Ich nicht! Du nicht! Schwimme mit mir!
Aber noch einmal sage ich’s dir:
Nimm doch die Pfeife aus dem Mund.
Sei doch kein knurrender Hund.

Eine schöne Handreichung zur eigenen Arbeit an guter Aussprache möchte ich abschließend noch empfehlen:

Klaus Heizmann: So spreche ich richtig aus. Eine Hilfe für Redner, Chorleiter und Sänger. Schott Verlag Mainz, 2. Aufl. 2011

 

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„Deutschland von der Karte streichen …“, oder: In deinem Hause wird laut gebrüllt, Bert Brecht!

 Antideutsche Ideologie, Antifaschismus, Bert Brecht, Rassismus, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für „Deutschland von der Karte streichen …“, oder: In deinem Hause wird laut gebrüllt, Bert Brecht!
Mrz 022014
 

„Freiheit stirbt mit Sicherheit. Nie wieder Deutschland. Antifaschistische Aktion.“ Der aktuelle deutschsprachige Spucki klebt seit Wochen bei uns in Kreuzberg am Hauseingang. Zu sehen ist auf der einen Seite die Polizei, auf der anderen Seite – „die andere Seite“: lauter vermummte, junge, gut gerüstete, mit Kapuzenpulli und Sonnenbrille versehene, mutmaßlich deutsche Männer.

Deutschland von der Karte streichen, Polen soll bis Frankreich reichen.“ So brüllten heute vormittag laut Pressebericht im Tagesspiegel einige deutsche, allzu deutsche Meinungsführer eine Lesung am Berliner Ensemble  Bert Brechts nieder. Die Lesung am BE konnte nicht stattfinden. Sie wurde vom Hause Bert Brechts abgesagt. Die Zuschauer erhalten ihr Geld zurück.

Wen juckt’s? „Deutschland verrecke“ steht und stand monatelang breit lesbar auf einem Hausdach in Friedrichshain.

Was meint die deutsche Gesellschaft dazu, dass solche Parolen völlig ungestört über Wochen und Monate stehen bleiben?

„O Deutschland, wie stehst du besudelt unter den Völkern!“ Der Untugendterror blüht und gedeiht heute mehr denn je. Die Szenen am BE vom heutigen Tage beweisen die Richtigkeit dieser These.

Bertolt Brecht dichtete über den Untugendterror, der sich seit vielen Jahren schon in der zitierten machtvollen Volksverhetzung niederschlägt:

Mit ihren so erhobenen Händen
Erhoben gegen ihren Bruder
Gehen sie jetzt frech vor dir herum
Und lachen in dein Gesicht
Das weiß man.

In deinem Hause
wird laut gebrüllt was Lüge ist
Aber die Wahrheit
Muß schweigen

Zitat:

Bertolt Brecht: „Deutschland“. In: Bertolt Brecht, Gedichte 1. Sammlungen. In: Bertolt Brecht, Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Suhrkamp Verlag, suhrkamp taschenbuch 3732, Frankfurt am Main 1997, S. 253

http://www.tagesspiegel.de/berlin/foyergespraech-im-berliner-ensemble-/9558066.html

 Posted by at 20:57

Hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ein Widerstandsrecht gegen die Bundesrepublik Deutschland?

 Bert Brecht, Erosion des Staates, Friedrichshain-Kreuzberg, Rechtsordnung, Sezession, Solidarität, Staatlichkeit  Kommentare deaktiviert für Hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg ein Widerstandsrecht gegen die Bundesrepublik Deutschland?
Nov 292013
 

Diese Frage, die wir hier stellen, wird man doch wohl noch stellen dürfen!

Ich schlage folgende Antwort vor: Die Inhaberinnen politischer Ämter – etwa Bürgermeisterinnen, Ministerinnen, Polizistinnen, Staatssekretärinnen – sind absolut (stärker als wir gewöhnlichen, schlichten Staatsbürgerinnen) an die Rechtsstaatlichkeit gebunden. Wenn Bürgermeisterinnen sich nicht dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit unterwerfen, verfehlen sie das Amt. Dieser Bürgermeister gleicht einem Polizisten, der sich nicht an das Dienstrecht hält. Ein Satz wie „Wir leisten Widerstand auch gegen eine Rechtsposition der Republik, weil wir solidarisch sind mit den Forderungen nach einem humanen Flüchtlingsrecht„, wie dies bereits der vorige, damals noch amtierende Bezirksbürgermeister Franz Schulz öffentlich kundtat, ist der erste Schritt zum Austritt des Bezirksteils Kreuzberg aus der Bundesrepublik Deutschland.

Will der Bezirksteil Kreuzberg wirklich aus dem Rest Berlins und der Bundesrepublik Deutschland bzw. aus der EU austreten? Die Frage muss erlaubt sein!

Ein Austritt Kreuzbergs aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik, wie es die Kreuzberger Politikerinnen so gern andenken? Ich vermute: Der wird kaum zu schaffen sein – schon rein finanztechnisch wäre dies „nicht darstellbar“, wie die Haushälterinnen so gern sagen. Denn gerade der Bezirksteil Kreuzberg wäre ohne die jahrzehntelange nationale (allerdings nicht internationale) Solidarität der restlichen Teile der Republik nicht lebensfähig. Der Bezirksteil Kreuzberg, dessen einfache, schlichte Bürgerinnen wir sind, nimmt gern Geld, gibt gern das Geld aus, das der Rest Berlins ihm hinreicht. Das mindeste, was wir Kreuzbergerinnnen dem Rest Berlins zurückgeben müssen, ist die Rechtstreue.

Wir ganz normalen Kreuzbergerinnen sollten uns nicht durch die Kreuzberger Politikerinnen vom bunten Rest der Bundesrepublik Deutschland auseinanderdividieren lassen.

Das bisschen konkrete SOLIDARITÄT, das die PolitikerInnen unseres niedlichen, knuddligen, widerständigen, verlogenen und aufmüpfigen Bezirksteiles sich so wahnsinnig gern auf die Fahnen schreiben und lautstark vom Rest der Republik einfordern, schaffen die Berliner CARITAS und die christlichen Kirchen aber so was von locker. Aber mit links. Die Caritas tut das Richtige. Sie tut, was dem Menschen dient. In Bert Brechts Worten ungefähr:

Oranienplatz

Ihr wollt etwas für die Ärmsten und Schwächsten
tun? Dann fangt schon mal an
in kalter Winterszeit. Gebt ihnen
ein Obdach. Gebt ihnen zu essen. Bietet ihnen
ein warmes Bett. Dann, erst dann macht
Politik. Dann redet über eure Moral. Erst kommt das Essen.
Dann redet
von internationaler Solidarität.

Zitat: „Lasst euch nicht auseinanderdividieren“. Interview mit dem bisherigen Bürgermeister Franz Schulz. Kreuzberger Horn. Zeitschrift für den Kiez zwischen Kreuzberg und Landwehrkanal, Nr. 20, Sommer 2013, S. 14-27, hier S. 15

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Tätst du dir selbst vertrauen …

 1968, Bert Brecht, Deutschstunde, Entkernung, Selbsthaß  Kommentare deaktiviert für Tätst du dir selbst vertrauen …
Okt 252012
 

2012-10-12-163608.jpgDEUTSCHLAND 1952

O Deutschland wie bist du zerrissen …
Und nicht mit dir allein.
In Kält und Finsternissen
Schlägt eins aufs andre ein.
Und hättst so schöne Auen
Und stolzer Städte viel:
Tätst du dir selbst vertrauen
Wär alles Kinderspiel.

Ein merkwürdiges Gedicht, das Bert Brecht 1952 schrieb! Der ersten Nachkriegsgeneration fehlte noch das Starren auf die zurückliegenden Schrecken, man sucht sich freizuschaufeln. Die Zukunft wird besser!

Erst seit etwa 1980 beobachte ich eine rabiate antideutsche Gesinnung bei Teilen der deutschen Bevölkerung. Diese antideutsche Ideologie speist sich erstaunlicherweise nicht aus der Klage über das Deutschland von heute oder gestern, sondern über das Deutschland von vorgestern, von vor 1945! Eine reaktive retardierte Depression, wie die Psychiater sagen würden, wenn es sich um einen einzelnen Menschen handelte.

Selbstzweifel, Aushöhlung der eigenen, lebendig sich entfaltenden Identität eines Volkes im Rückgriff auf jahrzentelang entfernte Verbrechen der Großvätergeneration!

Ein Phänomen, das nahezu einzigartig in der Weltgeschichte dasteht! Ich kenne keine andere Nation, die auch nur im entferntesten eine derartige kulturelle Entkernung mit sich anstellt. So ziert etwa den Umschlag des Deutsch-Lehrbuches meines Sohnes (5. Klasse) ein Text in schwedischer Sprache. Motto scheint zu sein: Nur nichts Deutsches im Deutsch-Unterricht!

Den NS-Tätern fehlte dieses Gefühl der Scham fast durchweg, den Söhnen und Töchtern der Verbrecher fehlte es auch in den meisten Fällen. Dieses Gefühl der kollektiven Scham und Schuld droht aber jetzt die Enkel-Generation zu ergreifen.

Hier gilt es gegenzusteuern.

Bild: Ein neues Denkmal, errichtet 2008, zur Erinnerung an die 1,5 Millionen jüdischen Kinder, die in den Konzentrationslagern der Deutschen ermordet worden sind. Berlin, Bahnhof Friedrichstraße.

Bert Brecht: Deutschland 1952
Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Vierter Band. Gedichte 2. Suhrkamp Verlag, Frankfurt 2005

Zitat: S. 429

 Posted by at 23:32

„Du mußt die Führung übernehmen!“, oder: Hat uns Bert Brecht heute noch etwas zu sagen?

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Okt 102012
 

„Du mußt die Führung übernehmen!“, so schreibt Bertolt Brecht in seinem „Lob des Lernens“.

Ich glaube, dieser Aufforderung kann ich mich anschließen: „Du, du einzelner Mensch, mußt die Führung deines Lebens übernehmen. Lass dich nicht verführen!“

Brecht meinte möglicherweise: Jeder einzelne Mensch soll für sich selbst die Führung seines Lebens übernehmen. Er soll durch Lernen sein Urteilsvermögen schärfen, es soll keiner Organisation, keiner Partei, weder der Kommunistischen Partei noch der Nationalsozialistischen Partei, keiner Klasse und keiner Rasse, keiner unpersönlichen Macht die Führung seines Lebens anvertrauen. Er soll frei entscheiden, was er will oder nicht will.

Jeder Mensch soll sein eigenes Leben führen.

Allzu oft glauben die Menschen, sie seien dem Staat, der Politik, dem riesigen Steuerungsmechanismus des Finanzkapitals unterworfen. Die Strukturgläubigkeit der Menschen in Berlin fällt mir immer wieder auf. Überall jammern die Menschen:

„Der Staat sorgt nicht für uns, hindert uns am Lernen! In den viel zu großen Berliner Klassen, in den viel zu winddurchschossenen Berliner Schulen, in dem hochselektiven Berliner Schulsystem  KANN MAN NICHT LERNEN. Erst einmal muss der Staat anständige Schulen, anständige Lehrer, anständige Kitas bereitstellen, dann fangen wir zu lernen an! Und das kostet. Wenn der Staat nicht genug zahlt, können wir nicht lernen. Erst einmal muss die Politik die Bedingungen für sinnvolles Lernen schaffen, danach dann fangen wir zu lernen an!

Groteske Töne – in Dakawa in Tansania beträgt die Klassenstärke durchschnittlich 103 Kinder pro Grundschulklasse. Dennoch wird auch dort gelernt – auf dem Boden sitzend, an großen Wandtafeln. Für Bücher gibt es ja kein Geld.

Lernen kann man immer. Gerade in den heutigen Grundschulen Berlins herrscht ein unfassbar üppiges Angebot. Die materielle Ausstattung ist teurer, ist besser als je in der Geschichte.

Dennoch maulen Eltern und Kinder, Wähler und Politiker, „Bildungsforscher“ und „Bildungsexperten“ in einem fort: „Die Schulen sind nicht gut genug. Wir brauchen bessere Schulen. Wir brauchen bessere Lehrer. Erst danach werden wir zu lernen anfangen.“

Das revolutionäre Gedicht „Lob des Lernens“ von Bert Brecht verlangt hingegen jedem Einzelnen die lebenslange Anstrengung des Lernens ab – auch unter widrigsten Umständen.

Ausreden, bequemes Sich-Davonstehlen gibt es in den Augen Bert Brechts nicht. In der Mitte des Lernens steht der Lernende. Das Lernen wird gemacht und betrieben vom Lernenden.

Das ist die revolutionäre Wende zur Verantwortung jedes einzelnen Menschen für sein eigenes, sein selbst zu führendes Leben. Es gibt immer ein richtiges Leben, auch wenn es in den Strukturen etwas gibt, was falsch ist.

Es gibt immer ein richtiges Leben im Falschen.

Der einzelne Mensch muss lernen. Er muss sich selbst diese Anstrengung überall und immer abverlangen. Damit er sein Leben führen kann, statt von den Parteien oder von der Politik geführt zu werden.

Brecht fordert uns auf: „Lerne selbst, damit du selbst die Führung in deinem Leben übernehmen kannst!“

Bert Brecht würde sich als parteitreuer Kommunist selbstverständlich im Grabe umdrehen, wenn er diesen Eintrag des widersetzlichen Kreuzberger Bloggers läse! Aber ich meine, dass er, wenn er 125 Jahre alt würde, ebenfalls zu dieser Deutung seines Gedichts gelangen würde. Ich gehe davon aus, dass er der KPdSU und der SED, dass er dem Kommunismus, dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus nicht mehr mit dem unterwürfigen Gehorsam folgen würde, den er zu Lebzeiten gezeigt hat.

 Posted by at 14:14

„Von der heilenden Kraft des Lernens“, oder: „Lerne und arbeite!“

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Okt 092012
 

Walter Wüllenweber legt in seinem Buch Die Asozialen seine Sicht der Dinge dar: Die deutsche Gesellschaft werde von oben und von unten, von der Oberschicht und der Unterschicht gnadenlos ausgenutzt, die Reichen würden immer reicher, ihr Finanzvermögen wachse dank der Finanzkrise prächtig an. Umgekehrt würden die Staatsabhängigen, die Unbeschäftigten mit ständig wachsenden Hilfen und Unterstützunsgeldern bei guter Laune gehalten, der Sozialetat gerade der Städte wachse stark überproportional an.

Ich denke, an Wüllenwebers Analyse ist viel dran. Unsere Vorfahren fingen nach dem Krieg fast bei Null wieder an. Die Masse des deutschen Volkes lebte in bescheidenen Verhältnissen. Erst etwa 1960 hatten die Deutschen den Lebensstandard erarbeitet, der heute in etwa auch einem Arbeitslosen zusteht. Vor 1960 lebte die Mehrheit der Deutschen unter Bedingungen, die heute von so manchen Sozialpolitikern als menschenunwürdig bezeichnet werden.

Doch sollten wir das Loben nicht vergessen! Gerade am heutigen Erntedankfest! Wüllenweber selbst spricht auf Seite 118 seines Buches lobend von der heilenden Kraft des Lernens. Lernen heißt, am Selbst arbeiten. Wer lernt, ändert sich. Wer lernt, kann andere ändern, wer lernt, kann sein Leben ändern. Lernen ist eine Form des Arbeitens.

Denkbar wäre es, etwa gut deutsch, gut rechnen, gut schreiben, gesunde Lebensführung  zu lernen. Gutes Deutsch, gutes Rechnen, gutes Schreiben,  gesunde Lebensführung, das ist jedem Menschen in Deutschland heute ohne jede staatliche Unterstützung möglich. Dazu kann man die Menschen auffordern – und zwar ohne stets erneut den Staat dafür in die Pflicht zu nehmen.

Lerne und arbeite – ora et labora!

Völlig anders tickt die Berliner Landespolitik: „Wie können wir den Bürgern das Leben so angenehm wie möglich machen?“ Heute kommt der Vorschlag auf, den Bürgern kostenloses W-LAN in der Innenstadt zu schenken. Der Senat schenkt den Bürgern wieder etwas. Lieb!

Die Kinder sollen besseres Schulessen bekommen – auf Kosten des Staates. Lieb! Unter drei Euro pro Mahlzeit ist das aber nicht zu haben. Wir zahlen in Friedrichshain-Kreuzberg etwa 2 Euro pro Mahlzeit. Lieb, dass der Staat den Bürgern besseres Essen schenkt.

Keiner denkt daran, den Eltern und Kindern das tägliche sparsame und gesunde Kochen mit vielen Kartoffeln, viel Gemüse, viel Magerquark beizubringen.

Ich sage: Lerne kochen, Mann in der Küche! Lerne lesen und schreiben, Frau in der Moschee!

Lern singen und fußballspielen, Kind in der Schulmensa! Geh zu Fuß zur Schule! Bewegung, Bewegung, Bewegung!

Der Staat tut, was er kann, um seinen Bürgern alle erdenklichen Annehmlichkeiten zu bieten.  Dabei haben die meisten Handy-Nutzer heute längst eine Flatrate, ein kommunales W-Lan auf Kosten des Staates ist überflüssig.

Nein, nein. Da lob ich mir die saure Pflichtenethik eines Benedikt von Nursia, eines Johannes Calvin aus Genf, eines Walter Wüllenweber vom Stern.

Gelobt sei – das Lernen! Gelobt sei auch der Dichter, welcher kam aus der schwäbischen Stadt der Confessio Augustana, der Dichter, der hervorging aus der Stadt der tüchtig rechnenden Fugger und der Tag um Tag singenden und fiedelnden Mozarts! Er, der Dichter aus der Lechstadt Augsburg, der als versprengter Nachfahr der christlichen Pflichten- und Lernensethik gelten kann.

Schließen wir die Besinnung zum Erntedankfest mit einigen Zeilen aus seinem

Lob des Lernens 

Lerne das Einfachste! Für die
Deren Zeit gekommen ist
Ist es nie zu spät!
Lerne das Abc, es genügt nicht, aber
Lerne es! Laß es dich nicht verdrießen!
Fang an! Du mußt alles wissen!
Du mußt die Führung übernehmen.

Lerne, Mann im Asyl!
Lerne, Mann im Gefängnis!
Lerne, Frau in der Küche!
Lerne, Sechzigjährige!
Du mußt die Führung übernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch: es ist eine Waffe.
Du mußt die Führung übernehmen.

Scheue dich nicht zu fragen, Genosse!
Laß dir nichts einreden
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung
Du mußt sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten
Frage: Wie kommt er hierher?
Du mußt die Führung übernehmen.
Quellen:

Walter Wüllenweber

Die Asozialen

Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren – und wer davon profitiert

Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 256 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-421-04571-3
€ 19,99 [D] | € 20,60 [A] | CHF 28,50* (* empf. VK-Preis)

Verlag: DVA Sachbuch

Zitat: S. 118

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Bert Brecht: Lob des Lernens
Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Dritter Band. Gedichte I. Suhrkamp Verlag Frankfurt 2005

Zitat: S. 233

 

 

 

 

 Posted by at 23:18

„Yuppies raus“ – (Juden raus?) the writing is on the wall

 Bert Brecht, Friedrichshain-Kreuzberg, Hebraica  Kommentare deaktiviert für „Yuppies raus“ – (Juden raus?) the writing is on the wall
Mrz 202012
 

200320121635.jpg

Das BMW Guggenheim Lab ist in Kreuzberg nicht erwünscht. Gewalt wurde angedroht, die Zukunftswerkstätte wird deshalb nicht nach Kreuzberg kommen.

Der Name Guggenheim ist hier nicht erwünscht!

Was mag wohl in jemandem vorgehen, der den traditionsreichen jüdischen Namen Guggenheim trägt, wenn er hier bei uns hier in Kreuzberg wieder das Gefühl bekommt: „Der Name Guggenheim ist hier nicht erwünscht!“

„Yuppies raus“, lese ich seit einigen Monaten breit und unübersehbar im Aufgang eines Kreuzberger Hauses. Rein grammatikalisch und lautlich klingt das fast genau so wie „Juden raus!“.

The writing is on the wall!

„Wer hier raus oder rein kommt, das bestimmen wir“, so sprachen damals die Nazis. Der Protest richtete sich damals wohlgemerkt vor allem gegen die Immobilienbranche und gegen die Banken.

„Wer hier raus oder rein kommt, das bestimmen wir“, so sprechen heute die Blockwarte der neuesten Machart und drohen mit Gewalt.

Auffallend auch die Ähnlichkeit in dem Spruch „Deutschland verrecke“, wie er in Friedrichshain unübersehbar auf einem Dach steht, und dem Spruch „Juda verrecke“, wie er in den dreißiger Jahren häufiger zu finden war.

Wie sagte Bert Brecht doch? „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Kreuzberg wird erneut ungastlicher, wird erneut freiheitsfeindlicher. Der gewaltbereite Mob versucht sich die Hoheit über den Stadtteil  zu erkämpfen.

Leserkommentare – Protest in Kreuzberg: „BMW Guggenheim Lab“ unerwünscht – taz.de

 Posted by at 18:30
Mrz 012012
 

Mehrere Millionen Opfer des stalinistischen Terrors! Hä? Ja, warum habt ihr uns davon nichts gesagt?“

So oder so ähnlich mochte sich mancher Pole, mancher Russe, mancher Tscheche, mancher Lette wohl die Augen reiben, als ab 1991 die Archive wieder geöffnet wurden und die kommunistischen Redeverbote beseitigt waren.

Auf etwa 30 Millionen Getötete schätzt die aktuelle polnische Wikipedia die Opferzahlen des „stalinistischen“ Terrors – ohne die im Krieg getöteten Soldaten hinzuzurechnen, ohne die zivilen Opfer von Kriegshandlungen und kriegsähnlichen Handlungen dazuzurechnen.

„Was war schlimmer – unser Nationalsozialismus oder euer Stalinismus?!“ So fragte ich ab 1991 immer wieder Polen, Tschechen oder Russen.

Die vielen Antworten, die ich aus den ehemals kommunistischen Ländern erhielt, fasse ich so zusammen:
„Unser Stalinismus war selbstverständlich schlimmer als euer Hitlerismus! Erstens hat er weit höhere Terroropferzahlen hervorgebracht, zweitens richtete sich der kommunistische Terror unterschiedslos gegen alle im eigenen Land, drittens dauerte der Terror bei uns einige Jahrzehnte, bei euch dauerte er nur 12 Jahre.  Keine Bevölkerungsgruppe war bei uns einigermaßen geschützt. In Deutschland und den hitleristischen Ländern konnten sich vor dem Kriegsbeginn am 1. September 1939  außer den Juden, den oppositionellen Gruppen, den Zigeunern, den anderen rassisch Verfolgten, den Kommunisten, den Homosexuellen, den aktiv im Widerstand lebenden Christen und sonstigen Widerständlern die meisten anderen einigermaßen sicher fühlen, solange sie sich politisch nicht betätigten.

Anders in Russland und den anderen stalinistischen Ländern.  Hier konnte es auch vor dem Krieg bereits unterschiedslos nahezu alle treffen. Die Mordbefehle des kommunistischen Führers und seiner tausenden und abertausenden Helfershelfer konnten ab 1918 bis 1953 alle treffen. Wusstest du das nicht?“

Nein, das wusste ich nicht. Mir war immer erzählt worden, dass die größten Menschheitsverbrechen ausschließlich von deutschem Boden aus von den deutschen Faschisten begangen waren: nur die Deutschen und nur die deutschen Nationalsozialisten hatten die schlimmsten Menschheitsverbrechen begangen, das war bis etwa 1991 meine Meinung, so wurde es ja auch landauf landab verkündet.

Also: das absolute Böse in der Geschichte, das verkörperten die Deutschen und nur die Deutschen. Die Deutschen waren das absolute Unglück der Weltgeschichte. So wurde es erzählt.

„Niemand war sicher. So wurden auch nach dem 2. Weltkrieg von den Kommunisten in der sowjetischen Zone noch die Konzentrationslager Buchenwald und Oranienburg bis 1950 zusammen mit 8 anderen Speziallagern weiterbetrieben, um echte oder vermeintliche Gegner der Kommunisten wegzusperren und zu eliminieren – wusstest du das nicht?“

Nein, das wusste ich nicht. Nein, das war mir nicht erzählt worden.

Bis heute wissen es viele nicht. Es ist ihnen nicht erzählt worden, auch die Geschichte der Millionen anderen Terroropfer der kommunistischen Staaten Europas ist ihnen nicht erzählt worden.

Diese Erinnerungen kamen mir gestern wieder in den Sinn, als ich den Eintrag der polnischen Wikipedia zum Stichwort Stalinismus las.

Und Bert Brecht, Wyslawa Szymborska und Nazim Hikmet, haben sie etwas davon gewusst? Sie waren doch Unterstützer des Kommunismus?

So viele Berichte
so viele Fragen

Stalinizm – Wikipedia, wolna encyklopedia
Bilans stalinizmu[edytuj]

Terror, którego ofiary w latach 1929-1953 szacuje się na ok. 30 milionów ludzi[potrzebne źródło] w ZSRR i krajach satelickich.
Zniszczenie dziedzictwa kulturowego kilkunastu narodów w wyniku masowych przesiedleń i rusyfikacji.
Śmierć ok. 10 mln żołnierzy radzieckich podczas II wojny światowej. Tak duże straty były spowodowane w dużej części niekompetencją kadry dowódczej, co było związane z wielkimi czystkami w Armii Czerwonej przed wojną oraz rozkazami Stalina („ani kroku w tył“, Rozkaz Nr 270, itp.).
Doprowadzenie do zapaści ekonomicznej w wyniku planowania gospodarki przemysłowej bez uwzględnienia praw popytu i podaży.
Całkowite zablokowanie wymiany wolnej myśli i związana z tym atrofia kultury i twórczych badań naukowych.
Zniszczenie środowiska naturalnego na ogromnych obszarach spowodowane przez gwałtowny rozwój przemysłu i armii ZSRR.

 Posted by at 16:12
Feb 272012
 

„Guten Tag, ich bin ihr Besuchsleiter. Hier auf diesem Gelände haben uns die Hitleristen gefangen gehalten“.

An meine erste Führung durch ein KZ erinnere ich mich gut. Es war Mitte der 70er Jahre. Zusammen mit einer Reisegruppe des Augsburger BDKJ besuchte ich Polen. Damals erwarb ich meine spärlichen Polnischkenntisse, die ich bis heute pflege.

Was der Überlebende des KZ Majdanek berichtet, war schwer erträglich. Die Schläge, die Quälereien, die unmenschliche Behandlung,

Aber „Hitleristen“? Darf man so einen Ausdruck verwenden? Damals hatte die DDR mit viel Aufwand es vermocht, den „Faschismus“ als Spätphase des Kapitalismus zu beschreiben. Jede Personalisierung wurde abgelehnt. Nur bei „Stalinismus“ drückte man ein Auge zu. Der XX. Parteitag der KPdSU fand es heraus: Nur Stalin und der Stalinismus hatte die Millionen und Abermillionen von Menschen umgebracht, alle anderen Kommunisten ab Lenin bis hin zu Ulbricht und Stoph waren folglich unschuldig.

Es ist spannend, an den verschiedenen Gedenkstätten des Grauens in Europa die Bezeichnungen zu lesen! Mal waren DIE DEUTSCHEN – les Allemands – die Urheber alles Bösen, dann wieder die Hitlerfaschisten, dann die Faschisten, dann die Nazideutschen, i nazisti tedeschi,  usw. usw. Immer waren die anderen die Bösen, fast immer waren die Deutschen und nur die Deutschen die Bösen. Und so ist es bis heute geblieben.

Das in den Medien entstehende Bild der Jahre 1917-1956 ist in hohem Maße verzerrt. So weiß beispielsweise kaum jemand, dass die Zahl der im inneritalienischen Bürgerkrieg Gefallenen in den Jahren 1943-1945 weit höher ist als die Zahl der von den deutschen Nazifaschisten getöteten Italiener. Der ebenfalls blutige, erbitterte  griechische Bürgerkrieg von 1946 bis etwa 1956, der Griechenland zu einem gespaltenen Land machte, ist fast völlig vergessen, und weithin unbekannt ist die innige Waffenbrüderschaft der deutschen Nazifaschisten und der ruhmreichen Sowjetarmee, die am 22.09.1939 in Brest-Litowsk in einer gemeinsamen, lächelnd-waffenstarrenden Triumphparade der Nationalsozialisten und der Kommunisten gipfelte (Video).

Aber seit jenen ersten Gesprächen mit einem ehemaligen Insassen des KZ Majdanek weiß ich, dass es schwierig ist, alle Schuld den Deutschen zu geben, zumal ja die Sowjetunion zeitgleich mit den Nazis ihre Nachbarn Polen, Lettland, Estland, Litauen, Finnland, Rumänien ebenfalls mit Angriffskriegen, Lagersystem, staatlich gedecktem Massenmord und blutiger Verfolgung quälte. In den genannten Ländern gab es häufig nur die Wahl zwischen Stalinismus und Hitlerismus. Ein drittes gab es oft nicht.

Ich weiß es genau von den Überlebenden und aus der Literatur: Freiwillige Nazis gab es unter allen Völkern Europas, also auch unter den Norwegern, Schweden, Finnen, Polen, den Russen, den Ukrainern, den Letten, Griechen, Tschechen, Italienern, Ungarn und Litauern. Aus vielen Ländern, unterworfenen und nicht besetzten, wurden Freiwilligenverbände gebildet, die Seit an Seit mit den deutschen Nazis kämpften, folterten und töteten. Von 1933- 1945 hielten sie zu Hitler. In diesem Sinne durfte man später international von Hitlerismus sprechen, und in der Tat war früher der Ausdruck Hitlerizm unter den ehemaligen polnischen KZ-Insassen durchaus gang und gäbe. In der Lagerhierarchie standen die Deutschen zwar oben, aber danach kamen gleich die unzähligen Handlanger und Verbündete, die HitleristenHitler’s willing executioners.  Die Kapos, die entscheidende Stütze des Lagersystems waren fast nie Deutsche, sondern Angehörige anderer Nationen.

Freiwillige und überzeugte Nazis gab es 1933-1945 überall, und selbstverständlich gab es damals und gibt es auch heute russische Nazis und russische Neonazis. Man sollte sich also über das Wiederaufleben der Nazis in den ostdeutschen Ländern (früher DDR) und Russland nicht wundern, zumal der Schuljugend in der Sowjetunion und der DDR das Blaue vom Himmel heruntergelogen wurde.

Freiwillige Kommunisten gab es ebenfalls überall, und zu Zeiten Stalins waren sie fast alle entschiedene Befürworter der Repression, des Gulags und der brutalen Ausmerzung der „fremdvölkischen“ Eliten, wie sie Russland etwa 1939 in Polen vollzog. Erst nach 1956 kam der Ausdruck Stalinismus in Mode.  Ein Bert Brecht, ein Nazim Hikmet hätten sich dagegen verwahrt, als Stalinisten bezeichnet zu werden. Sie waren Kommunisten und Marxisten, und sie unterstützten ohne Zweifel die Kommunistische Partei der Sowjetunion unter der Führung des großen, ruhmreichen Führers Stalin. Als Stalinisten würde ich Brecht und Hikmet dennoch nicht bezeichnen, obwohl sie die Sowjetunion bereisten und sich ein Bild von der „stalinistischen“ Repression machen konnten – hätten machen können.

Der Ausdruck Hitlerismus ist ebenso falsch oder richtig wie der Ausdruck Stalinismus.

Staunenswert aber, dass ausgerechnet diese beiden erklärten Kommunisten, Bert Brecht und Nazim Hikmet  bei der Gedenkfeier im Berliner Schauspielhaus vor wenigen Tagen mit ihren Versen als Kronzeugen des Kampfes gegen neonazistische Gewalt zitiert wurden!

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Jan 022011
 

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Freiheit und Fürsorge – mein Willkommen gilt jedem Menschen.

Unter dem Eindruck meiner Begegnungen mit Kranken, Alten und Armen in Augsburg fand ich gestern in der Kirche Maria Birnbaum die Worte, die ich als meine persönliche Jahreslosung darbringe und an der ich mich messen lasse.

Fürsorge, das heißt Für-Sorge. Sorge für jemanden Bestimmten, Sorge für etwas Bestimmtes, nicht Versorgung, nicht Entsorgung eines Problemfalles. Fürsorge verstehe ich personal als Akt der Zuwendung zum Nächsten, der Ermächtigung des anderen, des Vertrauens in die Kräfte des anderen.

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Der Baumeister Franz Mozart, ein Urgroßvater von Wolfgang Amadeus Mozart, verbrachte einen Teil seines Lebens in Armut und Not. Er zog in die älteste bestehende Sozialsiedlung der Welt, in die Augsburger Fuggerei ein. Er war ein echter „Sozialfall“ geworden. Er zahlte einen holländischen Gulden Jahresmiete (heute etwa 0,88 Euro) und verpflichtete sich, einen anständigen Lebenswandel zu führen und täglich drei Gebete für den Stifter Jakob Fugger und seine Familie zu sprechen.

Ein ausführlicher Besuch führte uns vorgestern durch diese Anlage. Wie lohnend ist ein Vergleich mit heute bestehenden Sozialsiedlungen, etwa den IBA-Bauten im Fanny-Hensel-Kiez, den Sozialbauten am Kotti in Kreuzberg, den riesigen Sozialquartieren in Neukölln oder im Märkischen Viertel.

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Die gesamte Außendarstellung der Fuggerei hat sich seit meinem Volksschulunterricht im Fach Heimatkunde sehr gewandelt – zum Besseren. Spannend, spannend! Es gelingt den äußerst geschickten Kuratoren, die gesamte Sozialstaatsdebatte unsere Tage in der Beschreibung dieses Schmuckkästchens einfließen zu lassen! Ich fasse die Neuigkeiten, die ich bei unserem Besuch der Fuggerei las und hörte,  wie folgte zusammen:

1. Fordern und Fördern. Es wurde erwartet, dass die Bewohner der Stiftung  sich bemühten, einen auskömmlichen Lebensunterhalt zu erzielen und die Siedlung dann wieder zu verlassen. Dies gelang auch sehr oft. Franz Mozarts Nachkommen lebten und wohnten schon wieder auf dem freien Wohnungsmarkt. Sie „bissen sich durch“. Einer der Enkel wurde Musikus und wanderte aus nach Salzburg, da er in Augsburg für seine Kunst nicht genug Entfaltungsmöglichkeiten sah.

2. Leistung und Gegenleistung! Die Bewohner verpflichteten und verpflichten sich vertraglich beim Einzug, jeden Tag drei Gebete für die Stifter zu sprechen. Sie erbrachten und erbringen also für die Sozialhilfe eine wertvolle kulturelle Gegenleistung. Ob wir heute das noch als echte messbare Gegenleistung empfinden, ist völlig unerheblich. Dass Beten zum Seelenheil hilft, war damals, 1521, als die Stifung gegründet wurde, eine allgemein geteilte Ansicht. Das Sozialmodell der Fugger war also zum wechselseitigen Nutzen angelegt.

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3. Sittliche Pflichten. Alle Bewohner verpflichteten sich vertraglich, einen sittlich einwandfreien Lebenswandel zu führen. Grobes Fehlverhalten konnte nach einer einzigen Abmahnung jederzeit zur Ausweisung aus der Sozialsiedlung führen. Dies galt bis ins 20. Jahrhundert, wie eine ausgestellte Hausordnung aus dem Jahr 1955 belegt. Das Recht, in der Siedlung zu leben, hing von Gesetzestreue und Anständigkeit ab.

Was folgt für uns daraus? Was folgt für die große Hartz-IV-Debatte am 7. Januar im Deutschen Bundestag? Ich meine folgendes:

1. Sozialhilfe sollte wie bei der Fuggerei grundsätzlich als befristete Lösung gesehen werden. Grundsätzlich sollen die Familien ihren Lebensunterhalt durch legale Erwerbsarbeit bestreiten.

2. Soziale Leistungen, ob von einer mildtätigen Stiftung oder vom Staat erbracht, sollten stets unter der Auflage kultureller oder gemeinnütziger  Gegenleistungen erbracht werden. Die Fürsorge der Fugger wurde als kündbares Vertragsverhältnis auf Gegenseitigkeit ausgestaltet! Genau dies wird im jetzigen SGB immer noch sträflich vernachlässigt. Folge: Der Empfänger wird entmündigt, zum passiven Objekt herabgewürdigt. Er wird „befürsorgt“ statt „ermächtigt“, wie dies Joachim Gauck vor wenigen Minuten so treffend in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ bemerkte.

3. Die Grundeinheit der sozialen Sicherung ist die Familie, nicht der Staat! Die Familien, also die „Bedarfsgemeinschaften“, wie sie heute heißen, sind das Gewebe der sozialen Sicherheit, das die Gesellschaft als ganzes zusammenhält und dem Einzelnen in Kindheit und Greisenalter ein würdiges Leben sichert. Der Staat tritt nur dann ein, wenn und solange die Familien als ganze nicht das Fortkommen aller Mitglieder sichern können.

4. Soziale Hilfe sollte den Empfänger mit der klaren Erwartung konfrontieren: „Lebe anständig. Schummle nicht.“

5. Aber am allerwichtigsten scheint  mir die Botschaft an die Familien mit arbeitsfähigen Menschen zu sein: „Wir glauben, dass ihr es schaffen könnt, die Sozialsiedlung wieder zu verlassen. Wollt den Wandel! Hartz IV ist ein Übergang, kein Dauerzustand.“

In einer trefflichen Formulierung Bert Brechts, die ich ebenfalls vorgestern in Augsburg las:

Wenn das so bleibt was ist
seid ihr verloren.
Euer Freund ist der Wandel.

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