Es wird noch wie’s gewesen: Der Kern ist nicht verletzt

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Dez 272020
 
Weihnachten 2020. Das Laserhaus der Künstlerin Felicitas Butt. Über einen Zeitraum von 3 Monaten wurden Faser- und Wollreste verarbeitet und im Mai 2019 innerhalb von 2 Tagen verarbeitet. Für den gesamten Dezember 2020 wird es beleuchtet im Natur-Park Südgelände ausgestellt. Zustand heute, am 27.12.2020

Bei klarem Wetter, starkem Wind und leichtem Frost betrachten wir die hauchdünne Schicht Eis, die sich auf Pfützen und in Wegfurchen hält. Was mag sich im Frühjahr unter dieser dünnen Schicht Eis regen?

Das Laserhaus der Künstlerin Felicitas Butt zieht uns an – wie innig verwoben, wie unauflöslich verfilzt und verwirrt, wie schützend und doch durchlässig ist dieses vorläufige Haus, das schützt, verbirgt und freigibt zugleich! Der Kern, um den sich dieses Haus legt, er ist unverletzt.

Jemand fängt – durch das Laserhaus und die Eisschicht angeregt – an, über ein Gedicht Rudolf Borchardts zu erzählen, das dieser Dichter im Versteck in Trins, einem Dorf im Gschnitztal, verfasste – mutmaßlich sein letztes Gedicht überhaupt, zweifellos eines seiner letzten, denn am 10. Jänner 1945 starb er in Trins im Gschnitztal und ist dort auch begraben. Er war im August 1944 zusammen mit seiner Frau in Italien von der SS verhaftet und nach Innsbruck deportiert worden.

Hier ein paar Zeilen aus diesem rätselhaft abschiednehmenden, zugleich verheißungsvollen Gedicht, das wie eine Antwort auf den ebenfalls aus Italien deportierten Tiziano Di Leo anmutet, der 1944 zu Weihnachten in Berlin ähnliches fühlte, empfand, dachte und niederschrieb.

Weihnachten 1944
von Rudolf Borchardt

Wir haben keine Kerzen
[…]

Wir haben keine Schrift
Die Botschaft zu verlesen;
Es ist ein giftig Wesen
Das diesmal uns betrifft.
Da hilft ein Gegengift:
Gedenken was gewesen
Daß doch, wie Weihnacht sagt:
Kurz nur die Nacht ist und es bald schon tagt.

[…]

[…]
O krank und halb genesen
O Liebste und zuletzt
Ich der Euch singe jetzt
Wie ich Euch sonst gelesen,
Es wird noch wie’s gewesen,
Der Kern ist nicht verletzt
– Denn Weihnacht bringts vom Herrn,
Daß Nacht nur Schale, und der Tag ihr Kern.

[…]

Nachweis:
Rudolf Borchardt: Weihnachten 1944, hier zitiert nach: Deutsche Gedichte. Hgg. von Hans-Joachim Simm, 3. Aufl. 2013, Frankfurt: Insel Verlag, S. 848-849

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Alimentare l’amore reciproco – vom bleibenden Sinn des Weihnachtsfestes

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Dez 232020
 
Weihnachtsbäumchen im Tälchenweg, Naturpark Schöneberger Südgelände, Dezember 2020

„E‘ incominciato dicembre e si avvicinano le feste più belle dell’anno…“

Am 3. Dezember 1944 trägt in Berlin der italienische Zwangsarbeiter Tiziano Di Leo folgende Sätze in sein Tagebuch ein, die wir ins Deutsche übersetzt haben, da sie wie in unsere Zeit hineingesprochen erscheinen:

„Der Dezember hat begonnen und die schönsten Feiertage des Jahres stehen vor der Tür: Weihnachten, Neujahr und das Dreikönigsfest. Die schönsten? Ja, sie waren einmal die schönsten, als die ganze Welt noch in Frieden lebte und die Familien an diesen Abenden zusammenkommen konnten, um die gegenseitige Liebe zu pflegen und hegen, die sie einte. Weihnachten und Neujahr waren einmal Tage so voller Heiterkeit und Freude, dass sie unauslöschlich im Gedächtnis bleiben, festliche Ereignisse, die heilsame Wirkungen auf die Seelen hatten, und es schien, als würden wir dadurch bessere Menschen. Jetzt ist das alles vergangen, und obwohl es in der Erinnerung lebendig bleibt, scheint es sehr weit weg zu sein. Ich weiß noch nicht genau, wie ich die kommenden Feiertage verbringen werde, aber […]“

Hier das italienische Original:

„E‘ incominciato dicembre e si avvicinano le feste più belle dell’anno: Natale, Capodanno e l’Epifania. Più belle? Erano sì le più belle una volta, quando tutto il mondo era in pace e le famiglie poteva­no riunirsi in quelle sere alimentando l’amore reciproco che le univa. Natali e Capodanni di una volta, giornate così piene di serenità e di gioia da rimanere indelebili nella memoria, solen­nità che avevano negli animi effetti salutari e ci facevano sembrare più buoni. Ora tutto è passato e, pur restando vivido nella memoria, sembra tanto lontano. Non so ancora con precisione come trascorrerò le prossime feste, ma […]“

Zitatnachweis in der italienischen Originalausgabe:
Tiziano Di Leo: Berlino 1943-1945. Diario di prigionia. Fabriano: Centro studi Don Giuseppe Riganelli, 2000, S. 159

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Abhängig? Ja! Na und? Also einfach mal — abhängen!

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Dez 192020
 
Britzer Garten, Berlin-Neukölln, 29. November 2020

Gewisse Dinge können wir nicht ändern. Wir hängen Tag um Tag von vielen anderen Menschen ab. Wir hängen von Naturgesetzen ab, wie etwa der Schwerkraft auf dieser Erde. Uns ist es nicht gegeben, die Bedingungen unseres Hierseins und Soseins vollständig zu steuern. Und gerade deswegen ist es befreiend, im Bewusstsein der Abhängigkeit einfach einmal … abzuhängen. Sich hineinzubegeben in die Schwerkraft dieser Erde, sich langziehen zu lassen, minimale Bewegungs- und Freiheitsspielräume zu erkunden. Denn etwas kann man doch immer machen! Man muss nicht nichts machen! Man kann zum Beispiel diesen Hampelmann in leichte Bewegung bringen. Man kann sich hochziehen und damit etwas zur Stärkung seiner Muskelkräfte unternehmen.

Ich gewann an jenem schönen Sonntag im November 2020 weitere Beweise für meine Zuversicht, dass die Welt mit jedem Tag schöner wird, wenn man sie richtig anschaut. Nach langer Suche hatten wir endlich die Hampelmänner im Britzer Garten gefunden. Andere Spaziergänger trällerten mit ihren Kindern gerade das herrliche Lied:

Jetzt steigt Hampelmann, jetzt steigt Hampelmann
Aus seinem Bett heraus, aus seinem Bett heraus
Oh du mein Hampelmann, mein Hampelmann bist du.

Dieses ermutigende Kinderlied, dass ich noch aus meiner Kindheit kenne, gab mir den Schwung und die innere Zuversicht, in ein Spiel mit Abhängigkeit und Freiheit einzutreten.

Wer hätte gedacht, dass Neukölln so herrliche, so schöne Stellen bietet wie etwa diese herbstdurchsonnten Pfade im Britzer Garten!

Ja, es stimmte auch und gerade im November 2020, was Ludwig Uhland damals über den Frühling sagte und sang:

Die Welt wird schöner mit jedem Tag,
Man weiß nicht, was noch werden mag!

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„Fodder dir ein Zeichen, es sey hunden in der Helle oder droben in der Höhe.“ Heilender Gesang in zeichenloser Zeit

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Dez 092020
 

Von sangloser Zeit können wir wohl in diesem Advent sprechen. Hauptziel alles öffentlichen Handelns scheint nunmehr die Todesvermeidung zu sein.

Wo aber ist eine Stimme der Lebensbejahung, der Zuversicht, der Lust, der Vorfreude, der Mit-Freude, der Zukünftigkeit?

Vielleicht in diesen vier Stücken bzw. Arien, die wir uns für den 3. Advent vorgenommen haben:

„Gott will Mensch und sterblich werden“, aus dem „Harmonischen Gottesdienst“ von G.P. Telemann, Kantate zu Verkündigung Mariae, Jesaia 7,10-15
„Benedictus“ aus der Messe in h-moll von J. S. Bach, BWV 232
Siciliana aus der Sonate für Flöte und Cembalo in Es-dur von J. S. Bach, BWV 1031
„Frohe Hirten, eilt, ach eilet“ aus dem Weihnachtsoratorium von J.S. Bach, BWV 248 

Gott will sterblich werden, er sagt ja zur Endlichkeit des Menschen, er bejaht den Menschen, er möchte werden wie er. Er WIRD wie er. So lässt sich der Dialog zwischen dem HERRN und König Ahas im Buch Jesaja, Kapitel 7 verstehen. Und den Beweis dafür, dass es so ist? Den bietet der HERR dem Ahas an, doch Ahas fordert kein Zeichen. Das Vertrauen zwischen dem HERRN und dem Menschen ist – die Menschwerdung Gottes selbst. Die Menschlichkeit Gottes, sein Ja zur Sterblichkeit, zur Begrenztheit reicht aus. Darüber hinaus gibt es keine Rückversicherung. Nur das Vertrauen zählt. Einen Beweis für die Richtigkeit des Handelns kann es in dieser Beziehung des sehenden Vertrauens nicht geben.

Die Geschichte unseres Glaubens wird hier, in diesen drei Arien von Telemann und Bach mit bezwingender Klarheit zu heilendem Gesang in sangloser, heilloser Zeit!

3. Advent, Gottesdienst mit Taufe und festlicher Musik
Pfarrer Joachim Krätschell
Sonntag, 13. Dezember 2020, 10:00 – 11:00 Uhr
Ort: Kirche der ev. Kirchengemeinde Halensee, Westfälische Straße 70A, 10709 Berlin

„Gott will Mensch und sterblich werden“. Barocke Arien zum Advent
Musik von Johann Sebastian Bach und Georg Philipp Telemann

Johannes Hampel, Tenor; Franziska Ritter, Flöte; Kathrin Freyburg, Orgel und B.C.

Zitat: Buch Jesaia, Kapitel 7, Vers 11, in der Übersetzung Martin Luthers

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