„Quid agis?“ – „Maxime valeo!“ Gespräch mit einem Cherusker (Anfang)

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Jan 222021
 
Blick auf den Cheruskerpark. Aufnahme vom 21.01.2021


Pulcher mons, a.d. XI Kalendas Februarias MMXXI.- Heri ibam forte via Cheruscorum sicut est mea consuetudo, meditans quaestiones vari generis, totus in illis. Accurrit quidam notus mihi aspectu tantum arreptaque manu ‚quid agis?‘ inquit. ‚Maxime valeo‘, inquam, ‚vigeo et corpore et mente… etiamsi istam nefastam pestem universalem qua afflicti sumus non negligendam esse puto. At tu?‘ ‚Ego quoque valeo. Non oportet me lamentari. Sed ubi est hiems, ubi sunt fulgores nivei qui semper me delectabant iuvenem…?“ (sermo continuabitur)

Der Leserservice fügt eine deutsche Übersetzung an:
Schöneberg, 22. Januar 2021.– Gestern ging ich mehr oder minder zufällig die Cheruskerstraße entlang, wie es meine Gewohnheit ist. Dabei überlegte ich Fragen vielfältiger Art und war ganz in sie versunken. Lief ein Mann auf mich zu, den ich nur vom Sehen her kannte. Nachdem er mich mit der Hand ergriffen hatte, fragte er mich: „Wie geht’s?“ „Mir geht’s super“, sagte ich, „sowohl körperlich wie geistig bin ich auf der Höhe der Kraft… auch wenn ich die unselige Pandemie, von der wir heimgesucht werden, für nicht zu vernachlässigend halte. Und selber?“ „Mir geht’s auch gut. Ich kann nicht klagen. Aber wo ist der Winter, wo ist der schimmernde Schnee, der mich in meiner Jugend immer so froh gemacht hat…?“ (Gespräch wird fortgesetzt)

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Nummus iungit federa, oder: Von der Bindekraft des Geldes

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Jun 242020
 
Das Ergebnis von seit 5. September 2006 über 7 Milliarden verbauten Euro: Der neue Berliner Flughafen am 21. Mai 2020, bisherige Betriebstage: 0

750 Milliarden Euro, eine atemberaubende, pharaonische Summe, so möchte man meinen, die im Wesentlichen ab 2022 den begünstigten Staaten Europas, also denjenigen benachteiligten Staaten, die in den 5 Jahren von 2014 bis 2019 die höchsten wirtschaftlichen Schwierigkeiten, z.B. die höchste Arbeitslosigkeit verzeichneten, als redlich verdiente Corona-Wiederaufbauhilfe zugute kommen wird! Ein kolossales Vorhaben der EU-Kommission, dem gutes Gelingen zu wünschen ist. Hendrik Kafsack versuchte vorgestern in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit allen seinen Kräften, um Verständnis für dieses Unterfangen zu werben. Hat er es geschafft? Überlegt selbst, liebe Leserinnen und Leser!

Von der vereinenden, versöhnenden, alles ausgleichenden Bindekraft des Geldes konnte man sich jedoch in Europa nicht erst gestern oder vorgestern überzeugen, nein, ein bereits 1992 im schwäbisch-sparsamen Stuttgart erschienenes Büchlein bringt in lateinischer Sprache diese ureuropäische Einsicht als hymnischen Lobpreis des „nummus“, der „Münze“, der „Währung“ also zum Ausdruck:

Manus ferens munera
pium facit impium
nummus iungit federa
nummus dat consilium

Die Hand die Geschenke reicht
macht fromm den Unfrommen
Geld schließt Bündnisse
Geld schafft Rat

(Übersetzung aus dem Lateinischen von dem hier Schreibenden)

Quellenangaben:
Hendrik Kafsack: Corona-Aufbaufonds der EU. „Wer braucht das Geld wirklich?“ FAZ, 22.06.2020
Carmina Burana. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Günter Bernt, Philipp Reclam jun. Stuttgart 1992, S. 12

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„Incerti quo fata ferant…“ Über Nichtplanbarkeit angesichts der Epidemie

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Jun 202020
 
Marcantonio Raimondi: „Die Pest in Phrygien“ (Il morbetto). Gesehen gestern in der Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts „Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett“

Von größter Planungssicherheit zeugen wieder und wieder die gegenwärtig laufenden Gespräche zur Zukunft der Europäischen Union. Alles wird berechnet, die Staaten müssen sich nur noch einigen, wie sie all das Geld zu verteilen haben. Mithilfe des Geldes übernimmt die Union die Gestaltungsmacht über die Zukunft bis ins Jahr 2050. So ist man sicher, den Wohlstand zu sichern, die Klimaneutralität zu erreichen. Man, also die Europäische Union, plant es ja so. Großartig, diese Gewissheit, dieser Glaube an die Planbarkeit und Berechenbarkeit der Zukunft! Mit so und so viel Geld ist man gewiss, dieses und jenes Ziel bis zu einem bestimmten Datum zu erreichen.

Wie im Großen, so auch im Kleinen! So ist man auch gewiss, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf die deutschen Straßen zu bringen. Man, also die Bundesregierung, hat es ja im Jahr 2013 so geplant und festgeschrieben. Und dann wird es auch so kommen. (Aktuell fahren allerdings nach den Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes Flensburg weniger als 200.000 Elektroautos auf deutschen Straßen, doch diese Tatsache spielt für den Glauben an die Pläne keine Rolle). Und dann wird man auch bei richtiger Planung und mit den entsprechenden Geldbeträgen die Klimaneutralität im Jahr 2050 erreichen. Man muss nur planen, muss glauben, muss folgen, muss mittun!

Um wieviel anders dachten die Menschen doch früher in all den Jahrhunderten vor unserem großmächtigen, stolzen und selbstbewussten europäischen 21. Jahrhundert! Vieles war eben nicht planbar, so die grundlegende Einsicht unserer europäischen Vorfahren, von der die Politiker der Europäischen Union sich ganz offensichtlich verabschiedet haben. Einer der kulturellen Väter Europas, Publius Vergilius Maro, legt seinem Helden Aeneas zu Beginn des dritten Buches der Aeneis folgende Worte in den Mund:

… incerti quo fata ferant ubi sistere detur …

„Wir waren ungewiss, wohin die Schicksale uns tragen würden, wo uns anzuhalten gegeben würde“

Aeneas sagt diese Worte im Rückblick auf die verheerende Pandemie in Phrygien oder eigentlich auf Kreta, die sich grauenhaft bei ihrem ersten Halt nach ihrer Flucht aus dem zerstörten Troja entgegenstellt: Von Tieren auf den Menschen sprang die Infektion über, Mütter starben vor ihren Kindern, die Leichen stapelten sich in rasch ausgehobenen Gräbern. Den entsetzten Augen der fliehenden Trojaner bot sich also eine Szene dar, wie sie schlimmer nicht hätte sein können.

Raffael stellte diese Szenerie in einem packenden zeichnerischen Entwurf dar, den Marcantonio Raimondi in Kupfer stach, und fügte einige Verse aus dem dritten Buch der Aeneis hinzu.

Angesichts dieser verheerenden Epidemie mussten sich die Trojaner um Aeneas von jedwedem Hirngespinst der Planbarkeit ihres Geschicks verabschieden.

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„Europa latina“ oder „Lateineuropa“, was ist das?

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Jul 302018
 

„HISTORY tells stories.“ Für diese Formulierung wurde Arthur C. Danto zu recht berühmt.

Geschichtswissenschaft, das war im Anfang und wird auch jetzt vor unseren denkenden Ohren wieder ein Mixtum compositum aus dem Nacherzählen dessen, was zunächst einmal unbegreiflich anmutet und erst durch das Erzählen, d.h. durch die wohlgeordnete, im zeitlichen Ablauf gegliederte „Aufzählung“ oder „Hererzählung“ eindeutige Sinnkonturen ergibt zum einen, und zum anderen aus der Strukturanalyse, der quantitativen, ja statistischen, häufig mit demographischen, ökonomischen, militärischen Diagrammen und Zahlenwerken angereicherten Tiefenforschung.

Die 2017 erstmals erschienene, monumentale, leidenschaftlich erzählende, jedem Europafreund wärmstens zu empfehlende „Biographie“ der Renaissance von Bernd Roeck erfüllt, so meine ich, genau diese doppelte Bestimmung der Geschichtswissenschaft.

Hervorgehoben sei in der heutigen Betrachtung, dass der großartige Erzähler Roeck mit listigem  Geschick die Ausdrücke „Abendland“, „der Westen“, „westliche Kultur“, welche ja in den letzten Jahren weidlich in Erschöpfung  geritten, fast völlig vermeidet und statt dessen den Ausdruck „Lateineuropa“ verwendet.

„Lateineuropa“? Darunter versteht Roeck offenbar jenen Teil Europas, in dem das Lateinische nach dem Ende der Antike (also etwa ab der Schließung der platonischen Akademie im 5. Jahrhundert n. Chr.) als unbestrittene Leitsprache über Jahrhunderte hinweg Leitkultur abbildete, Leitkultur hervorbrachte und letztlich „den Westen“ oder „das Abendland“ in seinen Umrissen definierte. Es sind im wesentlichen jene Länder oder Territorien, die den römischen Bischof als Oberhaupt der Christenheit – also der „westlichen Christenheit“ – anerkannten. Diese Kulturen empfingen die Bibel (das mit Abstand wichtigste europäische Buch) in lateinischer Übersetzung, diskutierten, dichteten, stritten über Jahrhunderte hinweg in Latein. Die deutschen Lande gehörten stets dazu, die britischen Inseln auch, Frankreich, Italien, Spanien usw. auch, also schlicht der gesamte westliche Teil Europas einschließlich des gesamten heutigen Ostmitteleuropa (Polen, Böhmen, Mähren, Kroatien, Teile der heutigen Ukraine).

Ihm stand – so ergänze ich die Betrachtungen Roecks – „Griechischeuropa“ gegenüber, also jene Länder oder besser Herrschaften, die nach dem großen Schisma von 1054 den römischen Papst nicht als geistliches Oberhaupt anerkannten, also das „Morgenland“, Byzanz, „Ostrom“, Teile der Ukraine, seit langem christianisierte Gebiete wie z.B. Georgien, Armenien, das Fürstentum Moskau, die Kiewer Rus, Griechenland, Bulgarien, Rumänien, die europäischen Gebiete der heutigen Türkei, die ostslawischen Kulturen. Sie empfingen die Bibel  aus griechischer Hand. Griechisch, nicht Latein war die Leitsprache. So erklärt es sich beispielsweise, dass in Grimmelshausens Roman „Simplicissimus“ die russisch-orthodoxe Spielart des Christentums als „griechische Religion“ bezeichnet wird.

„Lateineuropa“ und „Griechischeuropa“ sind über etwa 10 Jahrhunderte hinweg bis zum heutigen Tage zwei deutlich voneinander abgrenzbare Teile „Europas“ geblieben, die einander schlecht verstehen. Die „Renaissance“ etwa ist ein Phänomen fast nur in Lateineuropa gewesen.

Lateineuropa und Griechischeuropa, sie sind die zwei Flügel des „Hauses Europa“, die einander spiegelbildlich zugeordnet sind, aber dennoch häufig nur über „stille Post“ Botschaften austauschten. Ihnen fehlten und fehlen häufig die wendigen, wieselflinken Botengänger, wie Grimmelshausens Simplex einer war.

Belege:

Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. C.H.Beck Verlag, 3. Auflage, München 2018, passim

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Simplicissimus Teutsch. Herausgegeben von Dieter Breuer. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 2005, hier bsd. 5. Buch, S. 530-531

Foto:

Zwei Himmelskörper, einander zugeordnet und doch so fern: der kupferfarben verfinsterte Mond und der rote Mars, gesehen von „Lateineuropa“ aus in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 2018

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Flammende Käthchen am Grab meiner Mutter

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Jul 282018
 

Augsburg, 24.07.2018
Ich besuche das Grab meiner Mutter im Neuen Ostfriedhof. Nach den heftigen Regengüssen der vergangenen Tage strahlt und blitzt der uralte Baumbestand; die Stieleichen ragen mächtig und stolz in den Himmel. Was würde meine Mutter sagen, wenn ich meine Schuhe im Friedhof auszöge, wenn ich mich – wie es die Alten Israels taten – unbeschuht nahete, als Zeichen der Demut und Ehrfurcht? Ich tue es. Ich löse die Sandalen von meinen Füßen und beschreite den sanften, bis unter die Graswurzeln durchweichten Boden. „Zieh ruhig die Klapperl aus“, würde sie sagen.  (Klapperl, das ist ein bairisches Wort für Sandalen).

Ich verharre lange Augenblicke in der Zwiesprache mit meiner Mutter und beschließe dann, einige Madagaskarglöckchen zu pflanzen. Dann drängen sich mir einige Gedanken auf, erst in deutscher, dann in lateinischer Sprache. Sie besagen folgendes:

Der Schrecken des Todes löset sich, nun darfst
du barfuß den Boden, in dem deine Mutter ruht,
betreten. Die sechs flammenden Käthchen, die du ihr
aufs Grab gepflanzt, werden für sie blühen; zieh
deine Klapperl aus, fühle den weichen Mutterboden!
Entschlag dich deiner Sorgen, singe die Lieder,
die sie einst für euch gesungen: es wird sie erfreuen.

Solvitur acries hiems mortis, nunc pede
libero pulsanda tellus matris, Kalanchoe
blossfeldiana nunc virescit, at tu tolle
calceos, languidas curas dimitte, licet cantare.
In memoriam

Zur Erinnerung an Gerda Hampel
* 28. Juli 1927 in Berchtesgaden +8. Februar 2015 in Berlin-Kreuzberg

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„Europa graeca“ oder „Griechischeuropa“?

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Jul 202018
 

… pavet haec litusque ablata relictum
respicit et dextra cornum tenet, altera dorso
inposita est; tremulae sinuantur flamine vestes.

Rückwärtsgewandt, furchtsam schaut sie zurück, Europa, mit der rechten Hand hält sie das Horn des Stiers, die andere Hand liegt auf dem Rücken; vom Windhauch gebauscht flattern ihre Gewänder, – so, carissimi amici, beschreibt Ovid den heutigen Zustand Europas in lateinischer Sprache; und wie Europa den Stier nur mit einer Hand packt und furchtsam in die Vergangenheit starrt, so haben auch wir den Zustand Europas nur mit einer Hand gepackt –  der wirtschaftlichen Hand, der politischen Hand. Vielmehr: Europa, vielmehr: die Europäische Union  hat den ungebärdigen Stier nur mit einer Hand gepackt: der wirtschaftspolitischen Hand, der finanztechnischen Hand, der machtausübenden Hand.

„Wenn wirtschaftliche Gegebenheiten die Menschen auseinandertreiben und längst überwunden geglaubter Nationalismus neu erwacht, ist das Bekenntnis zum Dialog und zur Vielfalt des gemeinsamen Kulturraums wichtiger denn je. This is why the European idea, embodied in the legacy of Greek culture, will be a program focus at the Pierre Boulez Saal this season. Die europäische Idee, verkörpert durch das Erbe der griechischen Kultur, bildet deshalb einen Programmschwerpunkt im Pierre Boulez Saal.“ So schreibt es das in meinen Augen derzeit mit Abstand beste Buch zur europäischen Frage, welches auf meinem Schreibtisch aufgeschlagen ruht. Sein Titel:  „Pierre Boulez Saal. Die Spielzeit 2018/19“. Geschrieben und herausgegeben hat es PIERRE BOULEZ SAAL.

Pierre Boulez Saal – wie unterstellen einmal, es handle sich um einen Autor – lässt also den europäischen Kulturraum mit dem griechischen Erwachen Europas beginnen. Das gesamte spätere Geschehen im europäischen Kulturraum begreift Saal als Nachfolge, Verwandlung, Weitergabe und gleichsam als flatternden Saum der vom gewaltsamen Stier weitergetragenen Europa. Von Homer weht uns alle der Windhauch an, der die Gewänder der europäischen Kulturen flattern lässt! Homer inspiriert Vergil, Ovid, Horaz. Platon inspiriert Cicero, Seneca den Philosophen, Augustinus. Euripides inspiriert Seneca den Tragödiendichter. Vergil inspiriert Dante. Demosthenes und Isokrates wehen Cicero den Redenschreiber an. Ovid inspiriert diese kleine Betrachtung hier.

Der aus dem sorbischen Budyssin stammende Schriftsteller Simon Schaidenreisser ließ 1537 in Augsburg seine Homer-Übersetzung Odyssea mit einem herrlichen Holzschnitt erscheinen, der genau diesen Vorgang der aus Griechenland herwehenden Inspiration bildlich wiedergibt. Ein gewaltiger Luftzug geht aus dem Mund Homers hervor und bläst direkt in die offenen Münder Vergils, Ovids und Horaz‘ hinein, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Der Holzschnitt würde jedem Kupferstichkabinett dieser Erde zur Zierde gereichen, die Augsburger Staats- und Stadtbibliothek aber hat ihn!

Ist Europa also etwas im Kern Griechisches? Ich meine: in dem hier betrachteten kulturellen Sinne geht Europa als Idee eindeutig aus griechischem Dichten, Denken, Bilden und Handeln hervor. Alle kulturellen Erscheinungen von europäischem Rang, das symbolische Band, das unser heutiges Europa zusammenhält, aber auch Sache und Begriff der Demokratie, entspringen nachweisbar aus griechischer Quelle. Schon die Römer selbst haben das so gesehen. Soweit wir heute noch römische oder lateinische Texte der Antike lesen, sind diese eingestandenermaßen aus Übersetzung, Umformung und Anverwandlung griechischer Texte entstanden. Das gilt für Vergil, Ovid, Cicero, Seneca, Caesar – sie alle strebten der griechischen Leitkultur nach, ihr höchster Ehrgeiz war es, den griechischen Vorbildern gleichzukommen oder sie noch gar zu übertreffen. Und alle großen europäischen Kulturleistungen entspringen aus dem Nachstreben! So versuchte etwa James Joyce Homers Odyssee zu übertreffen. Tomasi di Lampedusa strebte James Joyce nach und schuf etwas Neues – oder etwas Altes.

In diesem Sinne kann man tatsächlich von einer gewissen Einheitlichkeit der europäischen Kultur sprechen – sie reicht von Lissabon am Atlantik bis Jekaterinburg am Ural, von Edinburgh am Firth of Forth bis nach Heraklion auf Kreta.

Und das Politische? Politisch geeint war der Kontinent nie – vielleicht  von 2 oder 3 Jahrhunderten des Imperium Romanum abgesehen.  Europa, es war von jeher ein Kontinent staatlicher Vielfalt, politischer, ökonomischer, militärischer Konkurrenz – flatternder Säume, zerzauster Gewänder.

Zuversicht kann Europa zweifellos daraus erwachsen, dass es sich der gemeinsamen Tragwerke des europäischen Kulturraumes wieder bewusst wird.

Und noch etwas ist wichtig: Die europäische Idee ist etwas Körperliches, etwas Leibhaftiges. Sie lässt sich anfassen, anschauen, anhören. Die etwa 600 Lieder Franz Schuberts, die 32 Klaviersonaten Beethovens, die der Pierre Boulez Saal als kompletten Zyklus aufführen lässt, verkörpern, so meine ich, auf geradezu idealtypische Weise ein derartiges Tragwerk der europäischen Vielfalt. Ich werde mir diese europäischen Lieder anhören und sie singen.

 

Zitate:

Ovid Metamorphosen,  Buch II, vv. 873-875

Pierre Boulez Saal: Demokratie und Europa. Der Nikos-Skalkottas-Schwerpunkt, in: Die Spielzeit 2018/19, Berlin 2018, S. 8-9

Der erwähnte Augsburger Holzschnitt findet sich in folgendem Buch:
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. C.H.Beck Verlag, 3. Auflage, München 2018, Abb. 44, S. 697

Bild: Europa auf dem Stier. Metallskulptur von Olivier Strebelle. Moskau, Europaplatz, entstanden 2002

 

 

 

 

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Sind die Parteien mit ihrem Latein am Ende?

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Aug 232008
 

Heute widmet 3sat der quicklebendigen Sprache Latein einen ganzen Sendetag. Bene, da wollen wir nicht hinterdreinhinken und unser Thema wieder aufgreifen: Sind die Parteien mit ihrem Latein am Ende? Mitglieder und Wähler laufen davon, wirtschaftspolitische Experten wie etwa Rainer Wend, Friedrich Merz, Matthias Wissmann, Hildegard Müller oder Rainer Göhner verlassen die politische Bühne, die Personaldecke ist dünn. Kann man sich auf Lateinisch einen Reim drauf machen?

Gab es denn im alten Rom schon Parteien? Ja, zwar war Rom keine parlamentarische Demokratie, aber sehr wohl gab es Parteien und Grüppchen zuhauf, Vetternwirtschaft und Ämterpatronage ebenso – alles Dinge, die in offenen Staatsformen jederzeit auftreten können. Es gab sogar im Ansatz eine Lehre von den Parteientypen – nämlich die Unterscheidung in die Volksparteien (populares), die Eliteparteien (optimates) und die Milieu- oder Klientelparteien (clientelae).

Was machte gute Politiker aus, die sich aus jenen Parteien rekrutierten? Cicero sagt: die Fähigkeit, über die eigenen Wähler- und Klientelgruppen hinauszureichen und das Gemeinwohl in den Blick zu nehmen. Er schreibt im ersten Buch von De officiis:

[85] Omnino qui rei publicae praefuturi sunt duo Platonis praecepta teneant: unum, ut utilitatem civium sic tueantur, ut quaecumque agunt, ad eam referant obliti commodorum suorum, alterum, ut totum corpus rei publicae curent, ne, dum partem aliquam tuentur, reliquas deserant. Ut enim tutela, sic procuratio rei publicae ad eorum utilitatem, qui commissi sunt, non ad eorum, quibus commissa est, gerenda est. Qui autem parti civium consulunt, partem neglegunt, rem perniciosissimam in civitatem inducunt, seditionem atque discordiam; ex quo evenit, ut alii populares, alii studiosi optimi cuiusque videantur, pauci universorum.

[86] Hinc apud Athenienses magnae discordiae, in nostra re publica non solum seditiones, sed etiam pestifera bella civilia; quae gravis et fortis civis et in re publica dignus principatu fugiet atque oderit tradetque se totum rei publicae neque opes aut potentiam consectabitur totamque eam sic tuebitur, ut omnibus consulat. Nec vero criminibus falsis in odium aut invidiam quemquam vocabit omninoque ita iustitiae honestatique adhaerescet, ut, dum ea conservet, quamvis graviter offendat mortemque oppetat potius, quam deserat illa, quae dixi.

Der Parteienzwist und Parteienhader wird also von Cicero nicht als friedliches Wetteifern empfunden, sondern als tödliches Gegeneinander in Bürgerkrieg und Meuchelmord. Nur jene können gute Staatenlenker genannt werden, die es verstehen, das politische Amt im Sinne aller ihrer Auftraggeber auszufüllen. Macht, die um ihrer selbst willen erstrebt wird, schlägt unheilvoll auf das Gemeinwohl durch. Mit dieser Verpflichtung auf das Gemeinwohl und der Geringschätzung einer bloß parteigebundenen Sichtweise hat diese vielgelesene Schrift Ciceros das Staatsdenken vieler Jahrhunderte beeinflusst und mit dazu beigetragen, dass Parteien vielfach nicht als Chance, sondern als Bedrohung empfunden werden. Diese tiefverwurzelten Vorurteile sollten die Parteien auch heute nicht ruhen lassen.

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