Nach all den Posen und Possen, die Wahlkampfzeiten mit sich bringen, waren meine Erwartungen eher niedrig, als ich gestern, am 21. Januar, das Symposium zur Jugendgewalt im Deutschen Bundestag besuchte. Eingeladen in den Fraktions-Sitzungssaal hatten die Abgeordneten Volker Kauder (Rottweil-Tuttlingen) und Hans-Peter Uhl (München). Und – Überraschung! – die ganze Veranstaltung war von der ersten bis zur letzten Minute lehrreich, wohltuend unaufgeregt, sachorientiert, von echtem Ringen um Lösungen geprägt. Das Verdienst daran war vor allem der Auswahl der eingeladenen Sachverständigen zuzuschreiben, die mit einer Fülle an Einsichten und Ansätzen aufwarten konnten. Es gab auch nicht den Anflug von billigem Populismus zu spüren. Besser kann man es nicht machen. Eine solche Anhörung verdient die Bestnote 1 in jedem Anti-Politikverdrossenheits-Training für hartgesottene Demokratieverächter!
Jens Weidner, Erziehungswissenschaftler und Kriminologe (Hamburg), breitete Fakten aus: Die Jugendkriminalität insgesamt steigt nicht, sehr wohl aber die Jugendgewaltkriminalität und die Rohheitsdelikte. Die Täter sind männlich, fühlen sich zwischen Rambo und Versager, und sie sind deshalb leicht kränkbar, unberechenbar. Ihnen fehlt die Fähigkeit, sich in das Leiden anderer einzufühlen. Die Gewalttaten werden maßgeblich vom 14. bis 24. Lebensjahr begangen, danach wächst sich diese Form der Kriminalität aus. Alle Gewalttäter seien, so Weidner, ohne Ausnahme ihrerseits Opfer einer katastrophalen Erziehung zum Bösen. Die Jugendgewalt in Deutschland sei stark international geprägt. Gewaltakte dienten als „Tankstelle für das eigene Selbstbewusstsein“. Weidner empfahl: „Einmassierung des Opferleids in die Seele der Täter“, Anti-Aggressivitäts -Training, zeitnahe Verurteilung, Warnschussarrest als Verstärkung der Ernsthaftigkeit einer Bewährungsstrafe (derzeit sind Arreststrafen als Ergänzung einer Bewährungsstrafe nicht zulässig). Die Erhöhung der Höchststrafe im Jugendgerichtsgesetz sei marginal, da sie sowieso nur für die seltenen Mordtaten verhängt werde. Wie soll man sich verhalten, wenn man zufällig Zeuge einer von mehreren begangenen Straftat wird? Wagemutig einschreiten, sich dazwischenwerfen oder weglaufen? Weidner empfahl nichts davon, vielmehr: „Halten Sie einen Sicherheitsabstand von 20 bis 100 Metern und rufen Sie: ‚Aufhören – ich habe gerade die Polizei gerufen!'“ Mehr lesen: tpjg_weidner_080121.pdf
Ergänzung einer aufmerksamen Leserin, die ebenfalls das Symposium besucht hat. Danke!
„Vielleicht sollten Sie in Ihrem Blog noch ergänzen, dass für Herr Weidner richtiges hilfeleistendes Verhalten in Gefahrensituationen auch darin besteht, dass man nach dem Ruf, man habe die Polizei geholt, ruhig weglaufen darf.“ (Zuschrift vom 23.01.2008)
Gilles Duhem, früher Quartiersmanager, jetzt Geschäftsführer des Vereins Morus 14 (Berlin), hat mich persönlich besonders beeindruckt, weil er am anschaulichsten von der Beziehung zu den Tätern sprechen und das ganze Thema durch O-Ton-Dialoge mit Fleisch und Blut erfüllen konnte: Wie er klare Grenzen setzt, wie er sich aber auch nicht unterbuttern lässt, wenn seine Klienten ihn selbst als „Du Opfer“ anmachen: „Ich bin kein Fußabstreifer!“ Jugendgewalt sei in allen westlichen Ländern eine Querschnittsaufgabe, die sich nicht in das polarisierte Raster der Parteipolitik zwängen lasse. Auf die Frage der Abgeordneten Kristina Köhler (Wiesbaden), ob er nicht einen zunehmenden deutschfeindlichen Rassismus feststelle, antwortete er: Die ethnischen Gruppen sind auch untereinander spinnefeind und bekämpfen sich „wie die Hunde“. Für ihn sei die ethnische Herkunft zweitrangig: „Das sind für mich alles deutsche Menschen, die hier geboren sind und hier aufwachsen, egal, welchen Pass sie haben.“ Dringend nötig sei ein untereinander vernetztes Vorgehen der verschiedenen Akteure in Sozialarbeit, Schule, Polizei und Justiz. Bisher werde viel Geld durch Einzelmaßnahmen, die dann klanglos im Sande verliefen, also durch die berüchtigte „Puderzuckermethode“ verschwendet. Mehr lesen: tpjg_duhem_080121.pdf
Der Jurist Roman Poseck, Abteilungsleiter im Hessischen Justizministerium, hieb in dieselbe Kerbe: Bei der Bekämpfung der Jugendkriminalität könne das Jugendstrafrecht nur ein Baustein in einem umfassenden Gesamtkonzept sein. Hauptziele bei einer wünschenswerten Überarbeitung des Jugendstrafrechts müssten sein: zeitliche Nähe zur Tat, Verfahrensbeschleunigung, breiteres Spektrum der Sanktionsmöglichkeiten mit großem Entscheidungsspielraum für den Jugendrichter, darunter auch „uncoole“, aber wirksame Maßnahmen wie etwa Handy- oder Fahrverbot. Auch im Stafrecht sollte das Erreichen der Volljährigkeit „grundsätzlich“ als maßgebliche Altersgrenze zugrundegelegt werden. Mehr lesen: tpjg_poseck_080121.pdf
Thomas Decken, Direktionsleiter der Kreispolizeibehörde Mettmann, konnte eindrucksvoll nachweisen, wie mithilfe eines klug durchdachten, alle Beteiligten einbeziehenden Konzepts die Raubdelikte im Polizeibezirk Hilden-Nord fast vollständig zurückgedrängt wurden. Zeitlich verkürzte Maßnahmen, so etwa die Diversionstage, bringen Polizei, Jugendgerichtshilfe, Staatsanwalt, Jugendliche und Eltern zusammen und hinterlassen einen nachhaltigen Eindruck. Decken plädierte leidenschaftlich für mehr ehrenamtliches Engagement der Bürger. Mehr lesen: tpjg_decken_080121.pdf
Und da kann ich ihm nur zustimmen, denn oft wird die Lösung aller Probleme von „der Politik“ erwartet, dabei sind viele Probleme schlicht gesellschaftlicher Natur und müssen folglich in der Gesellschaft selbst behoben werden.
Kirsten Heisig, Richterin am Amtsgericht, berichtete eindrücklich aus ihrer Praxis am Jugendgericht. Sie bestätigte, dass Gewalt- und Rohheitsdelikte ständig zunähmen, wobei Täter mit Migrationshintergund überrepräsentiert seien. Ihre Vorschläge: Mehr Druck auf die Eltern, wenn diese Hilfe nicht annehmen, Durchsetzen der Schulpflicht, vermehrte Anwendung der vereinfachten Jugendverfahren nach § 76 JGG. Warnschussarrest ja oder nein? – Sie sei eher dafür, aber er sei in Jugendrichterkreisen höchst umstritten. Bei Kapitaldelikten wie Mord oder Totschlag sollte überlegt werden, ob der im Jugendstrafrecht geltende Erziehungsgedanke hinter dem der Schuldabgeltung zurücktreten müsse. Wie dringend Handlung geboten sei, ergebe sich schon aus der schlichten Tatsache, dass bereits jetzt jedes zweite Berliner Kind im Alter von 0 bis 2 Jahren einen Migrationshintergrund habe. Diese Kinder seien alle unsere Zukunft – wir hätten keine andere. Mehr lesen: tpjg_heisig_080121.pdf
Volker Kauder zitierte gegen Schluss aus einem Bericht des Stern (Nr. 3/2008): “ ‚Gewalt bestimmt ihr Leben, weil es ja sonst nicht viel gibt. Sie hören den Rap der Gangster von Aggro Berlin und fühlen sich auch so. In Wahrheit langweilen sie sich zu Tode.‚ Wäre es da nicht gut, die Rädelsführer aus dem Verkehr zu ziehen?“
An genau dieser Stelle meldete ich mich selbst am Saalmikrophon ungefähr so zu Wort: „Wir reden hier immer nur von Prävention und Repression. Diese Langeweile, diese absolute Inhaltsleere scheint aber eins der Hauptprobleme zu sein. Zieht man da einen Rädelsführer aus dem Verkehr, ändert dies nichts an der sinnleeren Langeweile. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass vieles auch wunderbar funktioniert. In der Kita am Kleistpark etwa, mit 80% Migrantenkindern, darunter mein migrantischer Sohn, singen und tanzen die Kinder zusammen. Sie spielen zusammen Theater. Musikschulen, Sportvereine, Kirchen und Moscheen gestalten Zeit, verleihen Struktur und Sinn, wenn Familien dies nicht schaffen. Lasst uns endlich die Musikschulen ausbauen – deren Wartelisten sind voll!“ Jugendrichterin Heisig erwiderte: „Ja, wir bekommen es natürlich nur mit der negativen Auslese zu tun.“
Fazit? Ich versuche, den gefühlten Konsens der Anhörung so zusammenzufassen:
Es gibt ein echtes Problem mit zunehmenden Gewalt- und Rohheitsdelikten bei jungen männlichen Straftätern, unter denen wiederum der internationale Anteil stark ist.
Gesetzgeberische Schnellschüsse durch bloße Strafrechtsverschärfung bringen nichts. Nötig und erfolgversprechend ist ein zwischen allen Akteuren abgestimmtes Konzept, das Prävention und Repression umfasst. Klare Grenzen und abgestufte Zwangsmittel sind unerlässlich.
Eins der effizientesten Mittel bei Straftätern scheint ein Anti-Aggressionstraining zu sein sowie die Erfahrung: „Ich werde gebraucht, ich gehöre dazu.“
Nicht härtere Strafen, sondern eine zeitnähere Verurteilung mit fühlbaren Konsequenzen sind geboten. Dafür sollten einige Änderungen im geltenden Jugendstrafrecht sorgfältig erwogen werden.
P.S.: Soeben lenkte ich mein Fahrrad am Fahrzeug eines stadtbekannten Berliner Müllunternehmens vorbei – der Geruch ist nicht der allerfeinste, aber der Spruch an der Seite des mächtigen Kippers, der für den gleichnamigen Sportverein wirbt, gefällt mir gut:
Dein Leben ist zu kurz für langweilig. Komm zu uns. Alba