Jan 132008
 

Im heutigen Tagesspiegel lese ich ein sehr bewegendes Gespräch mit Sabriye Tenberken. Es geht um ihre Angst, und wie sie sie überwunden hat. Auszüge:

„Als Sie neun Jahre alt waren, sind Sie durch eine Erkrankung langsam erblindet. Hatten Sie Angst?

Ich hatte Angst vor der Reaktion der Leute. Angst, allein zu sein, nicht mehr ernst genommen zu werden. Nicht vor dem Nichtsehen. Als ich sehen konnte, habe ich mir Blindheit als Dunkelheit vorgestellt, und als ich dann wusste, dass ich erblinde, habe ich auf die Dunkelheit gewartet. Aber es wurde nie dunkel.“

Ein großartiges Zeugnis der Überwindung der Angst, des mühsam errungenen Vertrauens – ich bin begeistert!

„Bekommen Sie Höhenangst?

Man kriegt nur Höhenangst, wenn man Zeit hat, sich auf die Höhe zu konzentrieren. Aber ich muss ständig auf meine Füße achten: Ist der Untergrund fest oder schlammig, Schnee, Eis oder Geröll? Und auf die Ohren: Jeder Blinde hatte ja einen sehenden Begleiter, bei mir war das Paul, und an seinem Rucksack hing ein Glöckchen, das mir die Richtung anzeigt.

Da müssen Sie dem Vordermann ja eine ganze Menge Vertrauen entgegenbringen.

Klar, wenn er einen Abgrund runterspringen würde, dann spränge ich hinterher im Glauben, es ginge nur eine Stufe hinunter. Aber er wäre ja blöd, das zu tun. Als Blinder muss man sowieso Vertrauen haben. Wir haben bei uns zum Beispiel eine sehr gefährliche Straße, da rasen die Autos mit 100 Sachen. Ich sage den Kindern: Keine Angst, die Leute helfen euch rüber.

Wie merken Sie, dass Sie jemandem vertrauen können?

Ich vertraue so ziemlich jedem. Das geht sogar so weit, dass ich beim Bezahlen das Portemonnaie offen hinhalte und sage: Such dir raus, was du brauchst. Die Leute sind so überrascht über dieses Vertrauen, dass sie es nicht missbrauchen. Wenn du dich als blinder Mensch mit Selbstverständlichkeit bewegen willst, führt Misstrauen zu nichts.“

Ich lese das Interview so: Der Gegensatz zu Angst ist nicht Mut oder Tollkühnheit, sondern Vertrauen. Dieses Vertrauen lässt sich nicht rational begründen, sondern nur beispielhaft am eigenen Leib erfahren, am besten durch das Vorbild eines anderen Menschen.

„Wenn Sie die Wahl hätten, sehen zu können oder blind zu sein, wofür würden Sie sich entscheiden?

Ich weiß nicht. Dadurch, dass ich etwas verloren habe, habe ich auch vieles gewonnen: Ich kann mich sehr lange stark konzentrieren. Und ich habe meine Angst verloren. Wenn man sehen kann, sieht man ein Problem, eine Sackgasse, und denkt: Da geht es nicht weiter. Ich habe diese Vorhersicht nicht, ich lasse mir Zeit und stelle mich ganz anders auf Leute und Probleme ein. Aus der Ferne scheinen Probleme manchmal unlösbar. Und wenn man davorsteht, dann begreift man erst: Hier ist eine Lücke, da kann ich durch.“

Wir müssen uns Sabriye Tenberken als einen glücklichen Menschen vorstellen.

 Posted by at 11:53

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