Etappe 10: Kematen – Ried – Tulfer – Wiesen – Flains – Sterzing (Abschluss)

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Aug 202023
 

Dienstag, 1. August 2023. Die heutige letzte Etappe stand unter dem Vorzeichen einer 100%-Regenvorhersage für den gesamten Tag. Als Alternative hätte sich ab Kematen (1440m über NN) die Fahrt mit dem Bus nach Sterzing (945m über NN) angeboten. Aber wir wollten laufen, – laufen mit der Kraft der eigenen Beine! Das war ja schließlich der Sinn unserer kühnen Unternehmung. Wir genossen ein sehr gutes Frühstück in der Alpenrose und unterhielten uns dabei angeregt mit zwei anderen Bergsteigern, einem Südtiroler und einem Regensburger. Kurz nach neun Uhr brachen wir auf. Der 100%-Regen ließ – unhöflich wie der Regen eben ist – beharrlich auf sich warten, das Wetter hielt! So wanderten wir vorerst trockenen Fußes und Leibes auf abwechslungsreichen Wegen talauswärts.

An einem Naturstein-Verarbeitungswerk, das wir durchquerten, bestaunten wir die herrlich bunten Gneis-Bruchsteine von der Art, wie wir sie in riesigen Blöcken auf dem Pfitscher Joch in natura gesehen hatten.

Wir kommen an der artenreichen Burgumerau, einem Altarm des Pfitscher Baches, an regentriefenden Wiesen und dem Rieder Stausee vorbei.

Später queren wir den reißenden Pfitscher Bach; hier verengt sich das Pfitscher Tal zu einer Klause, die Bergwände treten nahe aneinander heran, das Wasser stürzt rauschend zu Tale.

Nach etwa 2 Stunden Gehzeit setzt der angekündigte Regen ein, und wir legen das bereitgehaltene Regenzeug an. Eine gute Stunde marschieren wir unverdrossen in strömendem Regen weiter, bis wir schließlich die Ortschaft Wiesen erreichen. Wir suchen und finden Unterschlupf vor den Wassermassen in der Wiesener Pfarrkirche Zum heiligen Kreuz, die uns zunächst mit ihrem schlichten romanischen Äußeren beeindruckte und dann durch eine üppige Innenausstattung in bairischem Barock fesselte.

Ich las stumm und summte aus dem Gotteslob einige besonders schöne Gebete und Lieder aus dem regionalen Eigenteil der Diözese Bozen-Brixen – in der Hoffnung, dass der strömende Regen endlich aufhören möge, der uns zusehends Harm und Ungemach zuzufügen drohte … und siehe da, als wir die Kirche verließen, hatte der Regen aufgehört, die güldene Sonne brachte Leben und Wonne zurück.

Nach einigen weiteren Minuten lag plötzlich Sterzing zu unseren Füßen.

Wir hatten also fast den Endpunkt unserer Alpenüberquerung erreicht, und prompt fing es auf den letzten Metern unserer 123 km langen Route wieder zu regnen an, als wir eben ein mit 19% Gefälle steil abschüssiges Sträßchen hinabtippelten. Wir unterquerten Bahngeleise, dann standen wir auch schon vor dem berühmten Zwölferturm in der Sterzinger Altstadt.

Wir schossen stolz einige „Alpenüberquerer-Beweis-Selfies“ und checkten in unserem vorausgebuchten Hotel ein. Wir wechselten in trockene Kleidung und trockene Turnschuhe und strebten zur Belohnung gleich die Bäckerei Häusler an, wo wir uns mit Buchweizentorte und Apfelstrudel sowie einer Tasse Kaffee stärkten.

Dann gingen wir weiter ins Multscher- und Stadtmuseum, das sich in der ehemaligen Deutschordenskommende befindet. Besonders bestaunten wir die Altartafeln, die der aus Ulm stammende Hans Multscher 1457-1459 geschaffen hat. Mit tat es besonders die Darstellung des barfüßigen Josef an, der – vielleicht nach einer langen hochalpinen Wanderung – die ermüdeten Füße aus den engen Wanderstiefeln zieht und sie erst einmal pflegt und frei atmen lässt, ehe er sich dem neugeborenen Menschenkind zuwendet.

O Josef, wie gut verstehe ich dich! Unbeschuht sollst du dich dem Heiligsten nahen – das wusste Hans Multscher sehr genau; das Barfußgehen war und ist von alters her ein Zeichen höchster Achtung vor dem Wahren, dem Lebendigen, wie ein kurzer Blick in das Buch Exodus (2. Mose 3,5) lehrt.

Ein absolutes Highhlight war aber das Spielzimmer, das mit Trompe-l’œil-Wandmalereien gerahmter Kupferstiche ausgeschmückt war. Wirklich spannend und ungewöhnlich!

Nach einer angenehmen Unterhaltung an der Kasse über neue Impulse der Museumsarbeit setzten wir uns noch eine Weile in den gefälligen Innenhof vor der Stadtpfarrkirche und füllten einige Blätter in unseren Skizzenbüchern mit Architekturzeichnungen.

Den Abend ließen wir im Kolpinghaus ausklingen. Eine Pizza S’Platzl und eine Pizza Sterzing mundeten uns vortrefflich, ein Viertel Grauburgunder gönnten wir uns auch, und zum Abschluss verwöhnten wir uns mit Eis vom Laden „Il Ghiottone“, bei dem ein wahrhaft meridionaler Eiskünstler aus Lecce das Edelste, was Pistazien und weiße Schokolade darbieten können, nach geheimen Rezepten in eine phantastische, Trompe-le-palais-Eisskulptur vermischt hatte. Zum Hinschmelzen gut schmeckte das!

Und so fand unsere Alpenüberquerung 2023, bei der wir in 10 Tagen eine Strecke von 123 km durch drei europäische Staaten mit der Kraft der eigenen Beine gewandert waren, einen glücklichen, fröhlichen Abschluss. Es wird nicht unsere letzte Fernwanderung bleiben!

Dies hier unten war ein letzter Blick, ein Abschiedsblick auf Sterzing, ehe wir dann Tags darauf den Flixbus nach München bestiegen.

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„Ella infame si rese!“ oder: Wer wirft den ersten Stein?

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Mai 122023
 

Ella infame si rese, è l’orror d’ogni etade...“ – „Sie hat sich entehrt, sie ist der Schrecken jedes Zeitalters“ diese von uns Männern zu singenden Verse aus dem Libretto zur Dalinda kamen mir kürzlich in den Sinn, als ich die feine Ausstellung „Muse oder Macherin? Frauen in der italienischen Kunstwelt 1400-1800“ betrachtete. Gezeigt wird hier in diesem Kupferstich von Diana Montavana die Szene aus dem Johannesevangelium (Joh 8,1-11), in der einige Männer eine beim Ehebruch ertappte Frau vorführen und sagen: „Mose hat uns vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.“ Aus diesen hämischen grinsenden, selbstgerecht verkniffenen Gesichtern spricht der ganze Männerabscheu gegenüber dieser einen Frau, die da an den Pranger gestellt wird. Warum eigentlich nur die FRAU? Warum wird nicht auch der Mann mit beigezogen?

Gericht der vielen Männer über die einzelne ohnmächtige Frau! Und was hier in dieser Szene geschieht, das geschieht auch in der Dalinda des Donizetti. Eine einzelne Frau wird aus dem Nichts heraus, aufgrund von Gerüchten und Berichten für alles Übel dieser Welt gewissermaßen in Haft genommen. Und wir machen das mit, wir – der Männerchor! Da mitzuhalten fällt mir mitunter schwer, ich gestehe es.

Ich selbst ergreife in den Probenpausen immer wieder Partei für Dalinda, versuche für sie werben, doch stehe ich auf weitgehend verlorenem Posten. Ich meine zu hören: „Wir wissen, was wir von dieser Frau zu halten haben! Denn wir kennen Lucrezia Borgia!“ Ja was ist denn das für eine Logik? Donizettis Dalinda für die angeblichen, vermuteten, nicht hinreichend belegten Missetaten der Lucrezia Borgia Donizettis verantwortlich zu machen? Das schlägt dem Fass den Boden aus!

Ich kann da nur den Kopf schütteln und fragen: Wer wirft den ersten Stein? Das Fehlen jeder verzeihenden, jeder um Verständnis ringenden Nachfrage bei uns Männern, die diese unglückliche Dalinda bedrängen, umringen, umketten, beschatten und belauern, missfällt mir. Mir missfällt die Abwesenheit jedes christlichen Erbarmens bei diesen christlichen (christlichen? -Fragezeichen!) Kreuzrittern im Heiligen (?) Land zur Zeit des dritten Kreuzzuges (Kreuz-Zuges???).

Hier noch eine mögliche andersartige Reaktion auf die Anprangerung der Sünderin:

Dies ist der ganze Kupferstich der Diana Mantovana (nach Giulio Romano), zu sehen noch bis 4. Juni 2023 im Kupferstichkabinett am Kulturforum Berlin in der Ausstellung „Muse oder Macherin? Frauen in der italienischen Kunstwelt 1400-1800″

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Sep 292021
 

Say something back

How do you think dying thoughts
when finally  the wind
between silence and echo
kisses you with promises of tomorrow?
When suddenly the rose in the front garden
freed from the hollow of winter laughs yellow?
Who thinks about shovels digging black earth
when in the park couples linger
lying on sun warmed grass    not beneath?
When children clap at the sight of a swan
not twisting its neck    not plucking it naked?
By the window overlooking the garden
where you buried a kit fox last summer
you’re thinking of making home
making love    checking his heart beat

*In response to Cardiomyopathy by Denise Riley in Say Something Back

Entnommen aus: Petra Hilgers: The heart neither red nor sweet.
erbacce-press, Liverpool UK 2021, ISBN: 978-1-912455-21-8

Mich erreichte im Juli aus Immenstadt die Anfrage, ob ich wohl einige Gedichte der Autorin Petra Hilgers aus dem Englischen übersetzen möchte. Ich las die beigelegten Texte durch und war auf der Stelle stark beeindruckt von diesen Gedichten! Sie schlugen sofort verschiedene Saiten in mir an. Eine Übersetzung ins Deutsche wäre ein Versuch, diese verschiedenen Saiten in einen Zusammenklang zu bringen und damit auch das englische Original zu stärkerem Schwingen zu bringen. Ich war sofort und ohne Einschränkung bereit, zu dem Vorhaben beizutragen, diese auf Englisch verfassten Gedichte der in Deutschland geborenen Petra Hilgers ins Deutsche zu übersetzen.

Nach einigen Stunden, Tagen, Wochen des Sinnens, Nachsinnens, Singens entstand folgende Übersetzung, die ich der Autorin vorlegte, und der sie mit einigen wenigen Änderungen ihren Segen gab:

Sag etwas zurück

Wie denkst du sterbende Gedanken
wenn schließlich    der Wind
zwischen Stille und Echo
dich küsst mit Verheißungen von morgen?
Wenn die Rose im Vorgarten
befreit von der Höhlung des Winters     plötzlich gelb auflacht?
Wer denkt an Schaufeln die sich in schwarze Erde graben
wenn müßige Paare im Park
auf sonnwarmem Gras liegen      nicht darunter?
Wenn Kinder beim Anblick eines Schwans klatschen
ihm nicht den Hals umdrehen      ihn nicht nackt rupfen?
Am Fenster mit Blick auf den Garten
in dem du letzten Sommer einen Fuchswelpen begraben hast
denkst du daran ein Zuhause zu schaffen
Liebe zu machen    seinen Herzschlag zu prüfen

*Als Antwort auf Cardiomyopathy von Denise Riley in Say Something Back

Das Bild oben zeigt den Hl. Hieronymus in der Schreibstube. Kupferstich entstanden um 1435-1440. Als Urheber gilt der sogenannte Meister des Todes Mariae. Staatliche Museen Berlin, Kupferstichkabinett. Das Blatt ist noch bis 3. Oktober zu sehen in der Ausstellung: Spätgotik. Aufbruch in die Neuzeit. Berliner Gemäldegalerie

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Jun 202020
 
Marcantonio Raimondi: „Die Pest in Phrygien“ (Il morbetto). Gesehen gestern in der Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts „Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett“

Von größter Planungssicherheit zeugen wieder und wieder die gegenwärtig laufenden Gespräche zur Zukunft der Europäischen Union. Alles wird berechnet, die Staaten müssen sich nur noch einigen, wie sie all das Geld zu verteilen haben. Mithilfe des Geldes übernimmt die Union die Gestaltungsmacht über die Zukunft bis ins Jahr 2050. So ist man sicher, den Wohlstand zu sichern, die Klimaneutralität zu erreichen. Man, also die Europäische Union, plant es ja so. Großartig, diese Gewissheit, dieser Glaube an die Planbarkeit und Berechenbarkeit der Zukunft! Mit so und so viel Geld ist man gewiss, dieses und jenes Ziel bis zu einem bestimmten Datum zu erreichen.

Wie im Großen, so auch im Kleinen! So ist man auch gewiss, bis zum Jahr 2020 eine Million Elektroautos auf die deutschen Straßen zu bringen. Man, also die Bundesregierung, hat es ja im Jahr 2013 so geplant und festgeschrieben. Und dann wird es auch so kommen. (Aktuell fahren allerdings nach den Daten des Kraftfahrt-Bundesamtes Flensburg weniger als 200.000 Elektroautos auf deutschen Straßen, doch diese Tatsache spielt für den Glauben an die Pläne keine Rolle). Und dann wird man auch bei richtiger Planung und mit den entsprechenden Geldbeträgen die Klimaneutralität im Jahr 2050 erreichen. Man muss nur planen, muss glauben, muss folgen, muss mittun!

Um wieviel anders dachten die Menschen doch früher in all den Jahrhunderten vor unserem großmächtigen, stolzen und selbstbewussten europäischen 21. Jahrhundert! Vieles war eben nicht planbar, so die grundlegende Einsicht unserer europäischen Vorfahren, von der die Politiker der Europäischen Union sich ganz offensichtlich verabschiedet haben. Einer der kulturellen Väter Europas, Publius Vergilius Maro, legt seinem Helden Aeneas zu Beginn des dritten Buches der Aeneis folgende Worte in den Mund:

… incerti quo fata ferant ubi sistere detur …

„Wir waren ungewiss, wohin die Schicksale uns tragen würden, wo uns anzuhalten gegeben würde“

Aeneas sagt diese Worte im Rückblick auf die verheerende Pandemie in Phrygien oder eigentlich auf Kreta, die sich grauenhaft bei ihrem ersten Halt nach ihrer Flucht aus dem zerstörten Troja entgegenstellt: Von Tieren auf den Menschen sprang die Infektion über, Mütter starben vor ihren Kindern, die Leichen stapelten sich in rasch ausgehobenen Gräbern. Den entsetzten Augen der fliehenden Trojaner bot sich also eine Szene dar, wie sie schlimmer nicht hätte sein können.

Raffael stellte diese Szenerie in einem packenden zeichnerischen Entwurf dar, den Marcantonio Raimondi in Kupfer stach, und fügte einige Verse aus dem dritten Buch der Aeneis hinzu.

Angesichts dieser verheerenden Epidemie mussten sich die Trojaner um Aeneas von jedwedem Hirngespinst der Planbarkeit ihres Geschicks verabschieden.

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Vivere moderatamente, guardarsi da ogni superfluità…

 Apokalypse, Europas Lungenflügel, Italienisches, Kupferstichkabinett, Raffaello  Kommentare deaktiviert für Vivere moderatamente, guardarsi da ogni superfluità…
Mrz 152020
 
Marcantonio Raimondi: Die Pest in Phrygien. Ausstellung Raffael in Berlin. Meisterwerke aus dem Kupferstichkabinett. Gesehen in Berlin, 13.03.2020, 17.39 Uhr

Ed erano alcuni, li quali avvisavano che il vivere moderatamente e il guardarsi da ogni superfluità dovesse molto a cosí fatto accidente resistere: […] Unter strahlendem Aufgang einer neuen, lebenschenkenden Sonne bekennt der hier Schreibende an einem besonderen Geburtstag seine Mitfreude und Zustimmung zu jener Gruppe Florentiner Bürgerinnen und Bürger, die, nach dem glaubwürdigen Zeugnis Giovanni Boccaccios, im Jahr 1348 angesichts der verheerenden Pestpandemie die Meinung vertraten, dass die gemäßigte Lebensweise, die Vermeidung alles Überflüssigen sehr dabei helfe, einem derartigen Geschick zu widerstehen:[…].

Wohl gemerkt, jener Teil der Bevölkerung empfahl weder die Selbstkasteiung wegen der giusta ira di Dio, des gerechten Zornes Gottes, als welchen andere diese Geißel empfanden, noch auch die hemmungslosen Hamsterkäufe und die üppige besinnungslose Taumelei der Clubgänger und des Partyvölkchens – ora a quella taverna ora a quell’altra andando -, mit der man sich in das nahende Weltenende hineinzuretten hoffte, sondern nein: im Verzicht auf Überflüssiges und auf absolute Gewissheiten, in der Hinwendung zum Menschendienlichen und Menschenmöglichen, in der Zuwendung zum Schönen, Freudigen, zum Erzählerischen, in der Öffnung vom Ich zum Wir erahnten jene fernen Florentiner Zeitgenossen den Keim der Heilung, ja des Heils! Es bringt nicht alles, aber doch viel.

Zitate: Giovanni Boccaccio: Decameron. A cura di Cesare Segre. Commento di Maria Segre Consigli. V edizione GUM. Milano 1977, S. 29-32. Übersetzungen ins Deutsche durch den hier Schreibenden.

Nachträgliche Anmerkung des hier Schreibenden vom 16.03.2020:
Schreibt man das italienische Wort für so così oder cosí? – Antwort: Der heutige italienische Schreibgebrauch verlangt zwar così, Giovanni Boccaccio selbst scheint aber, gemäß dem hier zu Rate gezogenen Textzeugen (ed. Segre, Mailand 1977), stets cosí geschrieben zu haben.

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τίς μείζων, Μαντέγνα ή Μπελίνι;

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Mrz 022019
 


ἐπηρώτα αὐτούς· τί ἐν τῇ ὁδῷ διελογίζεσθε; πρὸς ἀλλήλους γὰρ διελέχθησαν ἐν τῇ ὁδῷ τίς μείζων

„Er fragte sie: worüber habt ihr euch unterwegs auseinandergesetzt? Sie hatten sich nämlich auseindergesetzt, wer größer ist.“

Nun, an einem Stehtisch lauschte ich kürzlich, genüßlich eine Focaccia kauend, einer gelehrten Unterhaltung zweier Kunstfreunde. Das Thema lautete: Wer ist größer, Mantegna oder Bellini?

Diese Frage – „Wer ist größer?“ ist wohl alt, sehr alt. Der Evangelist Marcus, aus dem wir eingangs zitierten, hat uns ein hübsches kleines Gespräch mehrerer Wanderer überliefert. Er rahmt dieses Gespräch sehr passend ein in eine Rahmenhandlung. Framing, also Rahmung, nennt sich das heute bekanntlich, obwohl die Sache alt ist und schon einen Bart hat. Ich selber weiß die Antwort auf die Frage nicht, wer von den beiden der größere ist, Mantegna oder Bellini. Sehr wohl aber haben wir Hinweise darauf, was die Menschen meinen, wenn sie sagen: Dieser oder jener war ein großer Mann.

Was ist das eigentlich, ein großer Maler, ein großer Mann, ein großer Mensch? Die soeben glanzvoll eröffnete Ausstellung „Mantegna und Bellini“ bietet reichlich Gelegenheit, über diese Frage nachzudenken.

Wer ist ein großer Mann? Gaius Julius Caesar? Ja! Nach allem, was wir wissen, galt Gaius Julius Caesar als der größte Mann unter allen Lebenden seiner Zeit. Nicht zufällig wurde er als einer der wenigen Menschen zu Lebzeiten bereits durch Senatsbeschluss zum Gott erklärt. Wir haben steinerne Belege dafür spätestens seit seinem Sieg bei Thapsus im Jahr 46 vor Christus. Inschriften nennen ihn MP·C·IVLIVS·CAESAR·DIVVS: Imperator Gaius Iulius Caesar Divus.

So haben wir eine erste eindeutige Antwort auf die Frage, wer ein großer Mann ist: Gaius Julius Caesar ist in mancherlei Hinsicht der größte Mensch seiner Zeit gewesen. Dafür haben wir zahlreiche Zeugnisse.
Dass an der Größe Caesars keine Zweifel bestehen konnten und können, kann als ausgemacht gelten. Darüber braucht man nicht zu diskutieren. Eine andere Frage ist, ob der Evangelist Marcus dem so zustimmen würde. Gewusst hat er es sicher, dass die Menschen weltweit so denken.

Und so sahen ihn, so hörten, sie verehrten die Römer mit Trompeten diesen großen, den größten Mann seiner Zeit: mit pausbäckigen Musikanten, dickbauchigen Krügen, schmetterndem Schall, wogendem Gedränge:

„Divo Julio Caesari“. Holzschnitt von Andrea Andreani nach der Bilderserie von Mantegna: „Der Triumphzug Caesars“. Kupferstichkabinett Berlin. Derzeit zu sehen in der Gemäldegalerie Berlin in der Ausstellung „Mantegna und Bellini“.

Das griechische Zitat zu Beginn dieser Betrachtung haben wir dem Evangelium des Markus entnommen (Mk 9,34).

https://www.smb.museum/ausstellungen/detail/mantegna-und-bellini.html

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Jan 042019
 
Charles-Joseph Natoire: Die Ruinen des römischen Kaiserpalastes auf dem Palatin, 6. Mai 1760. Kupferstichkabinett Berlin. Gesehen in der Ausstellung: Rendezvous. Die französischen Meisterzeichnungen des Kupferstichkabinetts. Ausstellung von 07.12.2018 bis 03.03.2019


ἰδοὺ ἀφίεται ὑμῖν ὁ οἶκος ὑμῶν. So das Wort Jesu laut Lukas 13,35. Also geht euch verloren euer Haus, dürfen wir grobschlächtig übersetzen. Eine Klage über den Verlust des Hauses, in dem sie zu leben glaubten, eine Voraussage über die Zerstörung des Tempels, über das „Ende der Welt, wie sie sie kannten.“ Jesus lebte in der Naherwartung, er glaubte, das Ende der Welt, wie er sie kannte, stehe unmittelbar bevor. Das Ende seines Lebens wurde später von den Überlebenden, die sich zu ihm bekannten, als Vorwegnahme des Endes der Pracht und Herrlichkeit des alten Israel gedeutet, wie es dann als große Katastrophe im Jahr 70 eintrat.

Die Perikope aus dem Lukasevangelium kommt mir immer wieder in den Sinn, sobald ich an den Ruinen der großen Welt vorbeikomme. Nacherleben der verlorenen großen Welt!

Ob es nun der unter Kaiser Titus zerstörte Jerusalemer Tempel oder die Ruinen des Palatinspalastes sind: Die neue Ausstellung des Kupferstichkabinetts Berlin bietet reichlich Gelegenheit, dieses Vorher und Nachher zu bestaunen, nachzuerzählen, nachzuerleben.

Große Kunst – wie sie hier an den französischen Meisterzeichnungen zu erfahren ist – geht häufig aus der Erfahrung der Zerstörung des Großen hervor, aus der Erfahrung des Nachher. Sie ist Nachhall eines unersetzlichen Verlustes.

Aber sie, diese Zeichnung, verbürgt auch den Neuanfang. Sie legt Zeugnis davon ab, dass es auch ein Leben nach dem Zeitenbruch gibt. Friedlich weidende Kühe, die melkende Hirtin, nicht zuletzt aber die an einen Flußgott erinnernde, vorne lagernde Gestalt bekunden die Erwartung des Neuanfanges. Es ist, als raunte es uns aus der Zeichnung zu: „Das Leben geht ja weiter.“ Das Göttliche, der Gott ist vielleicht doch nicht ganz tot.

Nur das Haus des Großen, der Tempel des Göttlichen ist verloren, ist verworfen. Unser Haus ist zur Wüste geworden. Wir sind – die Unbehausten. Aber die Erinnerung daran lebt fort. Sie, Mnemosyne, spendet Kraft und schließt uns unter freiem Himmel zur Gedächtnisgemeinschaft zusammen.

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Der Gott Abrahams, Hagars und Ismaels

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Okt 272018
 


Die erste unmittelbare Benennung Gottes durch einen Menschen, wo finden wir sie in der Bibel? Welcher Mensch wagt es als erster, den unmittelbar geschauten, alle Erfahrung übersteigenden Gottesbezug in einen Namen zu gießen, lange ehe sich das alte Israel entschied, den Gottesnamen zu entziehen?

Es ist eine Frau, die diesen ungeheuerlichen Griff wagt, die in äußerster Not errettet wird und zum Zeichen der Rettung ihren Retter mit einem Namen belegt. Ein Mensch gibt seinem Gott einen Namen. Durch die Namensgebung wird Gott zum Du, zum Gegenüber!

Erzählt wird dieser ursprüngliche Vorgang der Namengebung Gottes durch einen Menschen im 1. Buch Mose, Kap. 16.

Rembrandts Zeichnung, derzeit in einer grandiosen Ausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts zu sehen, wirft ahnungsvoll einen Blick auf diese Urszene.

Hagar, die Frau, wird hineingezogen, hinaufgezogen in ein sie übersteigendes Geschehen. Ihr verdurstendes Kind Ismael liegt am Bildrand, hingezeichnet in kräftigen Zügen. Er wird leben! Der Bote Gottes schwebt in einer Lichtwolke.

Rembrandt fasst das Geschehen in der Wüste als Begegnung des Übermächtigen mit der Ohnmächtigen, ein ungleiches Geschick, das seine Lösung im Aussprechen des ersten menschenerfundenen Gottesnamens anstrebt.

4 völlig unterschiedliche Darstellungen Hagars zeigt derzeit diese Ausstellung „Zeichnungen der Rembrandtschule“ des Berliner Kupferstichkabinetts, die nur noch bis 18. November läuft. Das Hingehen, das Hinschauen lohnt sich vierfach.

Unser Bild zeigt die Legende der erwähnten Zeichnung: „Der Engel erscheint Hagar und Ismael in der Wüste. Feder in Braun, mit Deckweiß stellenweise korrigiert. Hamburg, Kunsthalle, Kupferstichkabinett“. Unten am Bildrand: Schatten des Haarkranzes und zweier Finger des hier Schreibenden. Aufnahme vom 26.10.2018, 15.24 Uhr, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin

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Jul 202018
 

… pavet haec litusque ablata relictum
respicit et dextra cornum tenet, altera dorso
inposita est; tremulae sinuantur flamine vestes.

Rückwärtsgewandt, furchtsam schaut sie zurück, Europa, mit der rechten Hand hält sie das Horn des Stiers, die andere Hand liegt auf dem Rücken; vom Windhauch gebauscht flattern ihre Gewänder, – so, carissimi amici, beschreibt Ovid den heutigen Zustand Europas in lateinischer Sprache; und wie Europa den Stier nur mit einer Hand packt und furchtsam in die Vergangenheit starrt, so haben auch wir den Zustand Europas nur mit einer Hand gepackt –  der wirtschaftlichen Hand, der politischen Hand. Vielmehr: Europa, vielmehr: die Europäische Union  hat den ungebärdigen Stier nur mit einer Hand gepackt: der wirtschaftspolitischen Hand, der finanztechnischen Hand, der machtausübenden Hand.

„Wenn wirtschaftliche Gegebenheiten die Menschen auseinandertreiben und längst überwunden geglaubter Nationalismus neu erwacht, ist das Bekenntnis zum Dialog und zur Vielfalt des gemeinsamen Kulturraums wichtiger denn je. This is why the European idea, embodied in the legacy of Greek culture, will be a program focus at the Pierre Boulez Saal this season. Die europäische Idee, verkörpert durch das Erbe der griechischen Kultur, bildet deshalb einen Programmschwerpunkt im Pierre Boulez Saal.“ So schreibt es das in meinen Augen derzeit mit Abstand beste Buch zur europäischen Frage, welches auf meinem Schreibtisch aufgeschlagen ruht. Sein Titel:  „Pierre Boulez Saal. Die Spielzeit 2018/19“. Geschrieben und herausgegeben hat es PIERRE BOULEZ SAAL.

Pierre Boulez Saal – wie unterstellen einmal, es handle sich um einen Autor – lässt also den europäischen Kulturraum mit dem griechischen Erwachen Europas beginnen. Das gesamte spätere Geschehen im europäischen Kulturraum begreift Saal als Nachfolge, Verwandlung, Weitergabe und gleichsam als flatternden Saum der vom gewaltsamen Stier weitergetragenen Europa. Von Homer weht uns alle der Windhauch an, der die Gewänder der europäischen Kulturen flattern lässt! Homer inspiriert Vergil, Ovid, Horaz. Platon inspiriert Cicero, Seneca den Philosophen, Augustinus. Euripides inspiriert Seneca den Tragödiendichter. Vergil inspiriert Dante. Demosthenes und Isokrates wehen Cicero den Redenschreiber an. Ovid inspiriert diese kleine Betrachtung hier.

Der aus dem sorbischen Budyssin stammende Schriftsteller Simon Schaidenreisser ließ 1537 in Augsburg seine Homer-Übersetzung Odyssea mit einem herrlichen Holzschnitt erscheinen, der genau diesen Vorgang der aus Griechenland herwehenden Inspiration bildlich wiedergibt. Ein gewaltiger Luftzug geht aus dem Mund Homers hervor und bläst direkt in die offenen Münder Vergils, Ovids und Horaz‘ hinein, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Der Holzschnitt würde jedem Kupferstichkabinett dieser Erde zur Zierde gereichen, die Augsburger Staats- und Stadtbibliothek aber hat ihn!

Ist Europa also etwas im Kern Griechisches? Ich meine: in dem hier betrachteten kulturellen Sinne geht Europa als Idee eindeutig aus griechischem Dichten, Denken, Bilden und Handeln hervor. Alle kulturellen Erscheinungen von europäischem Rang, das symbolische Band, das unser heutiges Europa zusammenhält, aber auch Sache und Begriff der Demokratie, entspringen nachweisbar aus griechischer Quelle. Schon die Römer selbst haben das so gesehen. Soweit wir heute noch römische oder lateinische Texte der Antike lesen, sind diese eingestandenermaßen aus Übersetzung, Umformung und Anverwandlung griechischer Texte entstanden. Das gilt für Vergil, Ovid, Cicero, Seneca, Caesar – sie alle strebten der griechischen Leitkultur nach, ihr höchster Ehrgeiz war es, den griechischen Vorbildern gleichzukommen oder sie noch gar zu übertreffen. Und alle großen europäischen Kulturleistungen entspringen aus dem Nachstreben! So versuchte etwa James Joyce Homers Odyssee zu übertreffen. Tomasi di Lampedusa strebte James Joyce nach und schuf etwas Neues – oder etwas Altes.

In diesem Sinne kann man tatsächlich von einer gewissen Einheitlichkeit der europäischen Kultur sprechen – sie reicht von Lissabon am Atlantik bis Jekaterinburg am Ural, von Edinburgh am Firth of Forth bis nach Heraklion auf Kreta.

Und das Politische? Politisch geeint war der Kontinent nie – vielleicht  von 2 oder 3 Jahrhunderten des Imperium Romanum abgesehen.  Europa, es war von jeher ein Kontinent staatlicher Vielfalt, politischer, ökonomischer, militärischer Konkurrenz – flatternder Säume, zerzauster Gewänder.

Zuversicht kann Europa zweifellos daraus erwachsen, dass es sich der gemeinsamen Tragwerke des europäischen Kulturraumes wieder bewusst wird.

Und noch etwas ist wichtig: Die europäische Idee ist etwas Körperliches, etwas Leibhaftiges. Sie lässt sich anfassen, anschauen, anhören. Die etwa 600 Lieder Franz Schuberts, die 32 Klaviersonaten Beethovens, die der Pierre Boulez Saal als kompletten Zyklus aufführen lässt, verkörpern, so meine ich, auf geradezu idealtypische Weise ein derartiges Tragwerk der europäischen Vielfalt. Ich werde mir diese europäischen Lieder anhören und sie singen.

 

Zitate:

Ovid Metamorphosen,  Buch II, vv. 873-875

Pierre Boulez Saal: Demokratie und Europa. Der Nikos-Skalkottas-Schwerpunkt, in: Die Spielzeit 2018/19, Berlin 2018, S. 8-9

Der erwähnte Augsburger Holzschnitt findet sich in folgendem Buch:
Bernd Roeck: Der Morgen der Welt. Geschichte der Renaissance. C.H.Beck Verlag, 3. Auflage, München 2018, Abb. 44, S. 697

Bild: Europa auf dem Stier. Metallskulptur von Olivier Strebelle. Moskau, Europaplatz, entstanden 2002

 

 

 

 

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„Continual state of being on the way to…“ Zu Joh 1,1

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Jul 052018
 


Zu den erregendsten geistigen Erfahrungen überhaupt gehört es für mich, das Zusammenfließen, das streitige Miteinander-Ringen jüdischen und griechischen Sprachdenkens nachzuzeichnen. Ich könnte ein ganzes imaginäres Kupferstichkabinett mit Blättern aus der Geschichte dieses jahrtausendealten Versuches anhäufen! Einen herausgehobenen Platz nähme in diesem Kabinett zweifellos das vierte Evangelium ein.

Über etwa drei Jahrhunderte hinweg führten griechisches und jüdisches Denken eine besonders intensive Gesprächsbeziehung, und in genau diesen Jahrhunderten bildete sich das nachbiblische Judentum heraus; es entstanden aber auch auch die vier Evangelien, unter denen wiederum dem vierten, dem Johannesevangelium eine einzigartige Scharnierfunktion zukommt.

An einer intensiven Einbettung des Prologs zum Johannesevangelium in den Kontext der zeitgenössischen Midraschim versucht sich der in London und Melbourne lehrende Andrew Benjamin.

Ein genaues Nachlesen pagan-griechischer und geistlich-hebräischer Quellen führt ihn zu dem Schluss, dass insbesondere der erste berühmte einleitende Vers Joh 1,1 – wie mehrfach von dem hier Schreibenden behauptet – in der Tat vorrangig als Gerichtetsein, als Unterwegssein zu deuten und zu übersetzen ist. Eine dynamische, spannungsvolle, nicht ausschöpfbare Beziehung, die jeden dogmatischen Einhegungs- und Festlegungsversuch unterläuft! Benjamin fasst dies in Anlehnung an Franz Rosenzweig in die Wendung: „A continual state of being on the way“.

Beleg:
Andrew Benjamin: Hermeneutics and Judaic Thought, in: The Routledge Companion to Hermeneutics. Edited by Jeff Malpas and Hans-Helmuth Gander. Routledge, Oxon, New York 2015, S. 692-706, hier besonders S. 694

Bild:
Surferin auf stürmischer See. Antoniusaltar. Klosterkirche St. Anna im Lehel

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„The healing Sounds dispel his Cares“. David gibt den Ton an

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Jul 272017
 

 

 

 

 

 

Ein erneuter Besuch in der Sommerausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts führte uns gestern bei herbstlichem, trübstem Regenwetter zu diesem Chiaroscuro-Holzschnitt von oder nach Frans Floris. Dargestellt ist eine Szene aus dem 1. Buch Samuel (Kapitel 18): Der strahlende Sieger David spielt vor dem König Saul, den ein böser Geist überfallen hat. In ihm lodern Verdacht, Eifersucht und Neid auf. Voller Ingrimm packt er den Speer und fasst den Beschluss, David an die Wand zu spießen. Nur mühsam gelingt es seinen Angehörigen und Hofbeamten, ihn davon abzuhalten.

Doch Davids Harfenspiel und sein Gesang üben immer wieder eine heilende Wirkung auf den König aus. Die abgrundtiefe Schwermut, der Verfolgungswahn und der Jähzorn Sauls werden durch den Klang der Musik vertrieben. Vertrieben? Nicht ganz, aber doch vorerst „zerstreut“.

In mir stiegen die Nachklänge jener großartigen Aufführung des Oratoriums „Saul“ von George Frideric Handel auf, der ich am 15. Januar 2017 im Kammermusiksaal der Philharmonie lauschen durfte.

Dort sang die Sopranistin Marie Luise Werneburg betörend schön als Sauls jüngere Tochter Michal die folgenden Worte zu dieser im Holzschnitt dargestellten Szene:

Fell Rage and black Despair possesst
With horrid Sway the Monarch’s Breast;
When David with Celestial Fire struck,
Struck the sweet persuasive Lyre:
Soft gliding down his ravish’d Ears,
The healing Sounds dispel his Cares;
Despair and Rage at once are gone,
And Peace and Hope resume the Throne.

So tritt denn das überwältigende Erlebnis jenes Konzerts im Kammermusiksaal durchscheinend hinter die Auffrischung in der Darbietung für die Augen  durch den flämischen Meister. Das ist Musik in den Augen! Das Kupferstichkabinett erweist sich so als der Kammermusiksaal der bildenden Künste; und so wurde es ja auch völlig zu recht schon bei der Eröffnung der diesjährigen Sommerausstellung bezeichnet.

Bezüge:

Die Bibel. 1. Buch Samuel, Kapitel 18

Georg Friedrich Händel: SAUL. HWV 53. Berliner Figuralchor, Cantores minores. Berlin Baroque. Leitung: Gerhard Oppelt. Aufführung am 15. Januar 2017. Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin. Textzitat aus dem Programmheft

Wir geben den Ton an. Bilder der Musik von Mantegna bis Matisse. Eine Sommerausstellung im Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin. 21. Juli – 5. November 2017. Katalog Nr. 38

 

 

 

 

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Gläserklirren, Besteckklappern, Gemurmel bei Beethovens 2. Symphonie? Skandal!

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Jul 212017
 

Ein dumpfer Klangteppich aus klirrenden Gläsern, das Aufflackern von Zigarren und Zigaretten, Stoßen und Schubsen der Kellner umgibt den Augenblick, da Benjamin Bilse den Taktstock erhebt. Er ist dem Publikum zugewandt, die ersten Geigen sitzen von ihm aus gesehen rechts, die zweiten links, die vier Kontrabässe stehen mittig ganz hinten. So hat es Adolph Menzel festgehalten. Seine Gouache ist seit heute in  der großartigen Sommerausstellung des Berliner Kupferstichkabinetts zu sehen.

Johann Ernst Benjamin Bilse – er war der führende Dirigent der klassischen Musikszene Berlins, bereiste ganz Europa mit Dirigaten, seine Bilse’sche Kapelle galt als Berlins bestes Orchester, und doch knarrte und krachte es allenthalben! Die Musiker fühlten sich unter Wert gehandelt, unter Wert behandelt, und als Bilse sich 1882 erdreistete, die Musiker in der vierten Klasse der Eisenbahn auf eine Konzertreise zu schicken, kam es zur Sezession: 52 Musiker verließen im revolutionären Zorn die Bilse’sche Kapelle und schlossen sich zum Berliner Philharmonischen Orchester zusammen.

Es wurde eine echte Orchesterdemokratie und ist es bis heute geblieben! Man nennt sie heute weltweit die BERLINER PHILHARMONIKER.

Adolph Menzel: Konzert bei Bilse. Gouache 1871

Wir geben den Ton an. Bilder der Musik von Mantegna bis Matisse. Eine Sommerausstellung im Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin. 21. Juli – 5. November 2017. Katalog herausgegeben von Catalina Heroven und Dagmar Korbacher. Erschienen im Imhof Verlag, Petersberg 2017, darin: Abb. 44 (Kat. 107)

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„Gezeichnete Musik“ – gibt es so etwas?

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Jul 192017
 


2017_07_20_Wir geben den Ton an_Einladung (1)

Einen warmen, sommerlich-beschwingten Abend erwarte ich morgen, Donnerstag, im Kupferstichkabinett am Kulturforum, einem der bedeutendsten Museen unserer an Museen nicht eben armen Hauptstadt. Eröffnet wird um 19 Uhr unter dem Titel „Wir geben den Ton an“ eine Ausstellung zum Thema „Musik in der Zeichnung“. „Bilder der Musik von Mantegna bis Matisse.“ Musik als gezeichneter Augenschmaus? Das klingt vielversprechend.

Frage: Ob es wohl so etwas wie das Musikalische in der Zeichnung, das Zeichnerische in der Musik gibt? Ich weiß es nicht, kann es nicht wissen, es liegt außerhalb meines Fachgebietes, aber ich will mehr dazu erfahren. Gerade heute weidete ich mich an einigen Betrachtungen über „Dichterische und malerische Musik“; verfasst hat sie vor über hundert Jahren Albert Schweitzer, veröffentlicht wurden sie zuerst 1905 in französischer, 1906 dann auch in deutscher Sprache. Heute noch lesenswert!

Es spielt morgen ein junges Blechbläserensemble, das Berlin Concert Quintett.

Der Eintritt ist frei. Alle sind eingeladen zu kommen, lauschen, schauen, plaudern.

Lesehinweis: „Dichterische und malerische Musik“. In: Albert Schweitzer, J. S. Bach, Wiesbaden 1976, S. 382-398

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