„Hier ists ietz unendlich schön. Mich hats gestern Abend wie wir durch die Seen Canäle und Wäldgen schlichen sehr gerührt wie die Götter dem Fürsten erlaubt haben einen Traum um sich herum zu schaffen. Es ist wenn man so durchzieht wie ein Mährgen das einem vorgetragen wird und hat ganz den Charackter der Elisischen Felder in der sachtesten Mannigfaltigkeit fliest eins in das andre, keine Höhe zieht das Aug und das Verlangen auf einen einzigen Punckt, man streicht herum ohne zu fragen wo man ausgegangen ist und hinkommt. Das Buschwerck ist in seiner schönsten Jugend, und das ganze hat die reinste Lieblichkeit.“
Mit diesen Worten schilderte Goethe am 14. Mai 1778 in einem Brief an Charlotte von Stein seine Eindrücke in den Wörlitzer Anlagen. Letzten Samstag führt uns der Weg dorthin. Es war einer jener herrlich strahlenden durchwärmten Nachsommertage, an denen erste Verfärbungen das Kommen des farbenprangenden Herbstes ankündigen. Ein letzter Scheideblick des Sommers! Wir? Das war in diesem Fall der Elternchor der Beethoven-Schule Berlin. Unser Ziel: Ein Konzert mit Engelsgesang zu Füßen des Kirchhofengels in Vockerode. Die ganze herrliche Landschaft lag ausgebreitet vor uns, wir ließen uns fangen und leiten, die muntre Gästeführerin erzählte, erklärte, pries und zeigte uns vieles, wenn auch nicht alles; wie hätten wir sonst wohl auch die klug und bedacht errichteten „Sicht-Achsen“ wahrnehmen können?
Das Bild oben zeigt eine solche Sichtachse, nämlich den „Toleranzblick“ von jener Stelle aus, wo der 29-jährige Goethe damals niedersaß um seine melodisch dahinfließenden Zeilen niederzuschreiben, die wir oben unverändert in seiner eigenhändigen Rechtschreibung und Zeichensetzung wiedergeben (siehe WA IV/3, S. 222f.). Wir sehen rechts genau in der Sichtachse die Synagoge, die Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau 1787-90 für das jüdische Volk von Wörlitz und Oranienbaum errichten ließ, und wenn das Aug von da ausgeht ohne Punckt und ohne Komma ohne zu fragen wo es hinkommt schleicht es weiter zur später errichteten, hier teilweise verdeckten Kirche Sankt Petri mit dem Bibelturm, der nicht weniger als 60 Bibeln in verschiedenen Sprachen hegt und birgt.
Ich erzählt‘ einer empfindsamen guten Seele in Berlin von all den Herrlichkeiten und fügte hinzu: „Den Bibelturm möcht ich einmal von innen seh’n, denn da sind 60 Bibeln ausgestellt.“ Die Antwort lautete: „Schau dich nur um bei dir zuhaus, du hast sie doch schon. Aber du weißt nicht wo.“