Fragt man einen Menschen auf der Straße nach dem „größten deutschen Dichter“, so werden die meisten wohl den Namen Goethes nennen. „Und was wissen Sie sonst noch von ihm, außer der Tatsache, dass er als der größte deutsche Dichter gilt?“ Hier werden die Antworten schon spärlicher ausfallen, der eine oder andere wird sich noch dunkel an das eine oder andere Verslein erinnern, etwa passend zum derzeitigen Wetter:
„Ein großer Teich war zugefroren,
Die Fröschlein in der Tiefe verloren …“
Ansonsten kann man sich heute felsenfest darauf verlassen, dass die Deutschen im allgemeinen wenig oder nichts mehr vom sogenannten größten deutschen Dichter wissen, kennen oder auch nur wissen wollen. Aus dem Geheimen Rat Goethe ist somit ein Geheimer Unrat Goethe geworden, so wie aus Prof. Dr. Immanuel Rath im Blauen Engel der Professor Unrat ward. Weniger geheim ist der Unrath Goethe allerdings in dem Un-Denkmal, das das Goethe-Institut Prag am Masaryk-Ufer in Prag errichten ließ. Dort suhlt er sich inmitten verkohlter Bücher, ausgemusterter CD-Rohlinge und sonstigen Mülls.
Die Verhunzung, Beleidigung oder Verunstaltung Goethes – und damit wohl auch Deutschlands – ist ein offiziöser deutscher Volkssport geworden. Die wenigen Goethe-Aufführungen, denen ich in letzter Zeit an staatsfinanzierten Bühnen beizuwohnen Gelegenheit hatte, beweisen dies sinnfällig. Aber nicht nur der Geheime Unrath Goethe ist betroffen. Eine Reise nach Hannover, wo derzeit an der Staatsoper Carl Maria von Webers „Freischütz“ durch eine vor den Augen des Publikums inszenierte Penis-Amputation, eine Kastration also geadelt wird, glaube ich mir ersparen zu können. Kastration, Selbstmord, Volksverhetzung, Vermüllung, drunter machen sie’s offenbar nicht mehr. Gut und löblich bleibt hervorzuheben, dass in Hannover eine Altersempfehlung „ab 16 Jahre“ ausgesprochen wurde! Wie schlimm wäre dies auch, wenn die Hannoversche Jugend schon vor dem 16. Lebensjahr mit Carl Maria von Webers großartiger Oper von 1822 in Berührung käme! Ihhh!
Mit Goethe, mit Webers Freischütz versucht das offiziöse, staatstragende Deutschland nunmehr offenbar auch das Deutsche schlechthin, die deutsche Sprache schlechthin madig zu machen, endgültig zu entwerten. Wie anders wäre es zu erklären, dass in der deutschen Hauptstadt Berlin über Jahre hinweg – bis vor wenigen Monaten noch habe ich das mit eigenen Augen gesehen und fotografiert – der Schriftzug „Deutschland verrecke“ in diesen Tagen, diesen Jahren auf einem Friedrichshainer Hausdach deutlich zu lesen war? Kein anderes Land der Erde würde eine derartige Volksverhetzung gegen das eigene Volk, gegen den eigenen Staat seelenruhig sichtbar stehen lassen!
Denn wer in sich selbst das Deutsche so haßt, wer sich selbst so haßt, wie das die zweifellos deutschen Verfasser des Schriftzuges an der Revaler Straße tun, der wird mit der größten Seelenruhe seinen Haß auch gegen andere Menschen, gegen andere Völker richten, und umgekehrt: Aus einem Massenmörder kann in größter Bedrängnis jederzeit ein Selbstmörder werden. Und wer sich selbst total entwertet und mörderisch hasst, der wird immer in Versuchung stehen, andere Menschen an seiner Statt zu entwerten und zu ermorden, um den Haß vom eigenen Selbst abzulenken.
Die Objekte des Hasses sind austauschbar. So erkannte es völlig zu recht der große Amateur-Archäologe des klassischen Altertums, der Tiefseeforscher der menschlichen Psyche, der österreichische, deutschsprachige Wiener Arzt mit dem typisch deutschen Vornamen Sigmund: Sigmund Freud.
Die kaum verhüllte Selbst-Psychoanalyse des Selbstmörders, dessen millionenfach verschenkte und gekaufte Autobiographie morgen – wissenschaftlich kommentiert – erneut auf den Markt geworfen wird, wird Freuds Erkenntnisse erneut bestätigen. Ein Buch, das zweifellos neben der überraschend aufschlussreichen Selbst-Psychoanalyse des österreichischen Verfassers viele Einsichten in die Gefühlslage und die machtpolitischen Verhältnisse Österreichs und Europas nach dem Ersten Weltkrieg ermöglicht und das aus diesem Grunde für Historiker und Politologen einen kaum zu überschätzenden Erkenntniswert bereithält. Vor allem aber ist dieses Buch, in den Worten des Historikers Christian Hartmann, des Chefkommentators von Adolf Hitlers Mein Kampf, „ein Entwicklungsroman, bei dem die Liebe fehlt!“
Und so mag denn am Ende dieser heutigen Betrachtung genau dieses Wort des Historikers Christian Hartmann von der „fehlenden Liebe“ im Leben stehen. Die Antwort auf den Haß kann, soll und darf, so meine ich, nicht der Haß auf den Hassenden sein. Die Antwort auf den Selbsthaß und die Selbst-Verhetzung der heutigen deutschen Deutschlandhasser darf nicht die Entwertung oder Abschaffung der deutschsprachigen Kultur oder des Deutschtums schlechthin sein, sondern die stärkere Gegenmacht des Erbarmens und der Liebe gegenüber allen Lebenden und Überlebenden.
Also denn, Freunde, nichts für ungut. Oder, wie der Jude seit Ewigkeiten sagt: לחיים – auf das Leben!
Zitatnachweis für Christian Hartmann:
Süddeutsche Zeitung, 4. Januar 2016, Seite 4
Bild: am Geburtshaus Marlene Dietrichs, Berlin, Aufnahme vom 06.01.2016