Jul 182014
 

Der seit 22. Februar 2014 amtierende italienische Ministerpräsident Matteo Renzi verwahrt sich gegen Belehrungsversuche des Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann mit den Worten: „L’Europa non appartiene ai tedeschi –  Europa gehört nicht den Deutschen“.  So zitiert ihn heute, am 18.07.2014,  die angesehene italienische Tageszeitung La Repubblica auf S. 15.

Zugleich wird eine Steuergutschrift von 80.- Euro für Bezieher niedriger Einkommen in Italien durch den Wirtschaftsminister Carlo Padoan  als dauerhafte „strukturelle Maßnahme“ erklärt – „dando maggiore certezza ai cittadini“.

Die Entlastung von 80.- für Steuerzahler soll den erhofften Wirtschaftsaufschwung befördern – und zugleich sagen die neuesten Vorhersagen der italienischen  Wirtschaftsinstitute ein Wachstum von nur 0,0 – 0,5% voraus (La Repubblica heute, S. 14).  Viel zu wenig, um die lastende Staatsschuld Italiens zurückzufahren oder die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen!

Vor wenigen Tagen forderte der frühere Bundespräsident und habilitierte Staatsrechtler Roman Herzog „Abwehrrechte“ der Mitgliedsstaaten gegenüber der Europäischen Union. Er artikuliert damit ein tiefes Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen, die sich immer mehr in die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Mitgliedsstaaten einmischen. Dazu passt, dass neuerdings die EU-Kommission ganz offen und trockenen Auges als „mächtige europäische Gesetzgebungsbehörde“ bezeichnet wird, so etwa in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2014 auf S. 1.  Eine Behörde als gesetzgebende Gewalt – unerhört! Bedenklich: eine mächtige Behörde, die stillschweigend zur einflussreichsten legislativen Gewalt der EU-Mitgliedsstaaten geworden ist!

Eine Behörde, die an die Stelle der herkömmlichen legislativen Gewalt, nämlich der Parlamente getreten ist! Hier stellt sich in aller Dringlichkeit die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimität der gesamten EU. Hier stellt sich die brennende Frage, ob Europarecht Bundesrecht bricht, und ob nicht schleichend die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes in eine Art EU-Superstaat überführt wird, der von einer Behörde geführt wird, die zugleich legislative und exekutive Befugnisse hat.  Ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der europäischen Verfassungen! Was wohl Montesquieu dazu sagen würde? Ich glaube, er würde sich im Grabe umdrehen. Das Zusammenfallen von legislativer und exekutiver Gewalt, wie es die EU-Kommission verkörpert, wäre für ihn das Ende der Freiheit. Er schreibt in Band 1 seines Geistes der Gesetze: „Lorsque, dans la même personne ou dans le même Corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n’y a point de liberté“, also zu deutsch etwa: „Wenn in derselben Person oder derselben Behörde die gesetzgebende mit der ausführenden Gewalt vereinigt ist, gibt es keine Freiheit.“

Ich denke, sowohl Matteo Renzi als auch Roman Herzog verdienen Gehör. Sie drücken für alle fassbar aus, dass das ganze Gefüge der EU in eine strukturelle Schieflage geraten ist. Man sollte sie nicht vorschnell als Europafeinde abkanzeln. Sie legen den Finger auf die Wunde: Die Staaten bzw. die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten haben offenkundig nicht mehr das Gefühl, Herr im eigenen Haus zu sein. Es droht unter dem jetzigen EU-Regime nichts Geringeres als das Ende der politischen Freiheit in den Mitgliedsstaaten.

Und wir einfachen europäischen Bürgerinnen und Bürger ohne politischen Einfluss und ohne politisches Amt? Wir haben mehrheitlich zunehmend das Gefühl, dass da eine europäische Maschinerie ohne ausreichende Legitimität über unsere Köpfe hinweg unser Schicksal bestimmt, dass sich also eine Art EU-Fürstenherrschaft etabliert hat – wobei die Steuerleute, die europäischen Fürsten in der Maschinerie selber uneinig sind, weil das EU-Regelwerk sie immer wieder in nahezu unauflösbare Zielkonflikte stürzt.

Einer dieser Zielkonflikte, aber bei weitem nicht der einzige, ist die absolute Vorrangstellung der Stabilität des Euro gegenüber allen anderen Zielen der Wirtschaftspolitik – also etwa gegenüber dem Ziel der Vollbeschäftigung oder des Wirtschaftswachstums.

Ich werte sowohl Renzis Protest gegen die – wohl eher so wahrgenommene als echte – deutsche Bevormundung als auch Herzogs Mahnruf gegen die Selbstherrlichkeit der EU-Institutionen als deutliche Signale eines tiefen Unbehagens gegenüber der gesamten Europäischen Union in ihrer jetzigen Verfasstheit.

Quellen:

Daniel Brössler und Cerstin Gammelin: „Juncker startet machtbewusst“, Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 2014, Seite 1
Roberto Petrini: „Allarme Padoan: la ripresa stenta“, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 14
Andrea Tarquini: „La Ue chiede più riforme non meno regole ma noi tedeschi ci fidiamo delle promesse di Roma“, Intervista con Wolfgang Schäuble, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 15

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