„On the morning of Sunday 28 June 1914, Archduke Franz Ferdinand, heir apparent to the Austro-Hungarian throne, and his wife Sophie Chotek von Chotkowa and Wognin arrived by train in the city of Sarajevo and boarded a motorcar for the ride down the Appel Quay to the City Hall. There were six vehicles in the motorcade.“
Einen absoluten Kracher erlebte ich gestern, als ich – mehr tastend, mehr probeweise – die Erzählung großen, des überragenden Analysators und Geschichtserzählers Christopher Clark über den Ausbruch des Ersten Weltkriegs las. Sein fesselnder Bericht über die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Gattin Sophie Chotek, enthalten in dem Buch THE SLEEPWALKERS ist ein HAMMER. MANN MANN MANN, Christopher Clark, du bist ein Genie, an deiner Wiege stand offensichtlich die Muse Klio Patin, allein schon diese meisterliche Einleitung erinnert an den Mann ohne Eigenschaften von Musil!
The previous day had been coool and rainy, but on the morning of 28 June the city was bathed in sunshine.
In seinem Kapitel „Murder in Sarajevo“ kann man packend und mit unbezähmbarer Dramatik die letzten Stunden vor dem Attentat in Sarajevo nacherleben. Im Kugelhagel der Attentäter ging vieles unter, es war in der Tat das Ende eines großen Versuches, eine multiethnische, multikulterelle staatliche Gemeinschaft noch mühselig am Leben zu erhalten, ehe die Furie des Nationalismus sie zum Schafott führte, ehe „über ganz Europa die Lichter ausgingen“.
Ergreifend die Szene, als Sophie Chotek sich mit den muslimischen Frauenvertreterinnen zum Gespräch zurückzieht, wo dann endlich die Muslimas auch ihren Schleier ablegen dürfen. Damals, 1914, waren wir also in punkto Multikulti in Europa schon weiter als 1990 – wo serbischer und kroatischer Nationalismus am selben Ort Sarajevo (oder auch in Srebrenica) niemals solche Rücksichten genommen hätte, dass die muslimischen Interessenvertreterinnen in einer eigenen, weiblich bestimmten Islam-Konferenz konsultiert worden wären!
Ansonsten kann ich jetzt schon sagen: Clarks magistrales Buch speist sich aus umfangreicher Kenntnis und Neuauswertung der Quellen. Im Gegensatz zu vielen europäischen Fachkollegen wertet der Australier Clark nicht nur Quellen und Sekundärliteratur in westlichen Sprachen, sondern auch solche russischer und serbischer Provenienz aus.
Eines wage ich vorauszusagen: Die berühmte, vor allem in Deutschland unterwürfig nachgeplapperte Fritz-Fischer-These, wonach „Deutschlands Griff zur Weltmacht“ hauptursächlich den Ersten Weltkrieg ausgelöst habe, wird sich nicht halten lassen! Es tritt vielmehr etwas hervor, wofür ich mich in diesem Blog immer stark gemacht habe: Europa war damals und ist auch heute ein Schauplatz multipolaren Machtstrebens, Russland und die Hohe Pforte (die spätere Türkei) sind die großen großen Unbekannten in den Augen der westlichen, halbseitig blinden, sprachlich oft unzureichend gebildeten Historikerzunft, die zur Zeit noch die Geschichts-Lehrstühle an den Universitäten besetzen.
Bis zum heutigen Tag wird Deutschland und nur Deutschland offen oder unterschwellig die Schuld oder Hauptschuld an allen großen Katastrophen, allen staatlichen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts, die auf den 28.06.1914 folgten, zugeschoben. Ein großer Fehler, ein Irrtum, der sich wie nach 1918 bitter rächen könnte und der auch die Lösung der gegenwärtigen Krise der Europäischen Union verunmöglicht. Frankreich, Russland und noch einmal Russland, Osmanisches Reich bzw. Türkei, Italien, Großbritannien, USA, Belgien … sowie alle anderen europäischen Staaten kochten damals ihre Süppchen und kochen auch heute ihre Süppchen in einem Kessel, dessen Temperatur mehrere Male den Siedepunkt überschritt. COOL IT DOWN!
Das gilt es zu erkennen, das müssen die europäischen Historiker und auch die Politiker allmählich durchschauen lernen. Allmählich, allmählich. Wenn sie es denn wollen und sich selbst durch Autopsie der Quellen einen Einblick erarbeiten, wie es eben Christopher Clark in herausragender Weise vorgemacht hat. Das kann natürlich nicht gelingen, wenn man die Quellen der damaligen Zeit nicht oder nur selektiv zur Kenntnis nimmt.
Christopher Clark: Murder in Sarajevo. In: The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914. Penguin Books, London 2012 [hier zitiert nach der Kindle/Amazon-Ausgabe, Pos. 6976=51% ff.]