Nov 232023
 

Wie sehen uns Deutsche die anderen? Um diese Frage zu beantworten, ist es immer gut, die Auslandspresse zu lesen, so etwa heute die Neue Zürcher Zeitung! Besonders zu empfehlen ist der folgende Kommentar:

René Höltschi: Besoffen von den Staatshilfen. Milliarden für Chipfabriken und Wasserstoffprojekte, eine Ermässigung der Stromsteuer für Teile der Wirtschaft, eine Bürgschaft für Siemens Energy: Deutschland hat sich in einen Rausch der Subventionen getrunken. Nun erwacht es mit einem bösen Kater. Neue Zürcher Zeitung. Internationale Ausgabe, 23.11.2023, S. 13

Hier wird der Deutsche als glücklich schlummernder Kater dargestellt, der immer wieder einen Schluck aus der Pulle der staatlichen Subventionen nimmt. „Doch Subventionen sind wie Drogen: Sie machen süchtig.“

Zum Hintergrund:

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil 2 BvF 1/22 vom 15. November 2023 entschieden, „dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar und nichtig ist“.

Wesentliche Teile des staatlichen Handelns – die Hoheit über die staatlichen Haushaltsgesetze ist nun einmal die Kerndomäne der Parlamente – erweisen sich somit als grundgesetzwidrig und nichtig.

Wie kam es dazu? Der Autor der Zürcher Zeitung meint, die tieferen Ursachen dieser verfassungswidrigen Staatsverschuldung Deutschlands in allzu freigebiger Ausreichung von staatlichen Beihilfen, Zuschüssen, Vergünstigungen, Erleichterungen zu erkennen. Seien diese im Haushaltsjahr 2023 mittlerweile auf 208 Milliarden angestiegenen Finanzhilfen früher zum Teil noch durch die Ausrufung von Krisenzuständen zu rechtfertigen gewesen, so müsse spätestens jetzt eine Besinnung auf die verheerenden Auswirkungen des staatlich gelenkten, wesentlich auf Subventionen beruhenden Wirtschaftens einsetzen. Höltschi zitiert den Präsidenten des Kiel-Instituts für Weltwirtschaft, Moritz Schularick, mit folgender pointierter Aussage:

„Der Staat ist zwar nicht gut darin, die Gewinner von morgen zu finden, aber ganz sicher finden die Verlierer von gestern den Staat.“

Welchen Ausweg schlägt der Schweizer René Höltschi uns Deutschen vor? Er schreibt:

„Statt einzelne Unternehmen und Branchen zu fördern, sollte der Staat die Standortbedingungen für alle verbessern.“

Das hieße: Ordnungspolitik für alle statt Begünstigungspolitik für einige.

Das ist ein höchst bedenkenswerter Ratschlag, wie ich finde! Wir Bürger Deutschlands sollten uns – sofern ich René Höltschi richtig verstehe – weniger als am staatlichen Geld nuckelnde „Kater“, sondern mehr als „Füchse“, als gewitzte, selbständig handelnde Menschen sehen, die jederzeit bemüht sind, aus eigenen Kräften Nahrung zu finden.

(2) René Höltschi auf X: „#Deutschland hat sich in einen Rausch der #Subventionen getrunken. Nun erwacht es mit einem bösen Kater. Das Haushalts-Urteil aus #Karlsruhe böte Anlass zum Entzug. Ein Kommentar. https://t.co/fesI7hOJrX via @NZZ“ / X (twitter.com)

Bild: Ein Fuchs auf Nahrungssuche, gesehen vorgestern am S-Bahn-Gelände beim Hans-Baluschek-Park in Berlin-Schöneberg

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Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?

 Entparlamentarisierung, Europäische Union, Europawahl 2024, Grundgesetz, Parlament, Verfassungsrecht  Kommentare deaktiviert für Steuern wir auf eine „parlamentarisch tolerierte Präsidialregierung“ zu?
Okt 272015
 

Es gelten in Europa keine Gesetze mehr„, so klagte gestern im Fernsehen bei „Hart aber fair“ der amtierende Präsident des Bayerischen Landkreistages. Ferner: „Wir sind hier in einem völlig rechtlosen Zustand„, beschwerte sich vor wenigen Tagen in Günter Jauchs Sendung aus dem Schöneberger Gasometer ein praktizierender Rechtsanwalt und ehemaliger Bundestagsabgeordneter. Ein Richter an einem Bundesgericht, mit dem ich am Rande einer privaten Feier in kleinem Kreis zu plaudern Gelegenheit hatte, vertraute mir wiederum vor geraumer Zeit bereits einmal an, dass die Bundesgerichte sich seit langem schon in einem Limbus der Rechtsungewissheit bewegten; das durch die EU gesetzte Recht sei über weite Strecken methodisch, sprachlich und vor allem begrifflich nicht kompatibel mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch seien die Obersten Bundesgerichte gehalten, die Rechtsakte der EU bei der Urteilsfindung „ständig zu berücksichtigen“. Im Grunde bewegten sich die Richter der Obersten Gerichtsbarkeit des Bundes (Art. 95 GG) im Kleinen wie im Großen ständig auf einem schmalen Grat der „Rechtsunsicherheit nach beiden Seiten hin“; man wisse als amtierender Bundesrichter schlechterdings nicht, welche der Rechtsordnungen – die der EU oder die der Bundesrepublik – Vorrang habe, so ungeheuerlich das auch erscheinen möge. Ein juristisches Niemandsland, auf das man als Bundesrichter/als Bundesrichterin in keiner Weise vorbereitet sei!

Drei zufällig eingefangene Stimmen von ganz unten und von ganz oben in der staatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Dazu kommt noch als I-Tüpfelchen: Durch Weisung der Exekutive – also durch eine Art „Notverordnung“ – wurden in diesen Wochen die geltenden Gesetze über die Kontrolle der Staatsgrenzen Deutschlands außer Kraft gesetzt. Jeder einzelne Bundespolizist steht also in einer Art Konfliktzustand. Was soll er durchsetzen: das Gesetz oder den Willen der Bundesregierung?

Herrscht also derzeit tatsächlich „Anomie“, „Chaos“, „Rechtlosigkeit“ in der Bundesrepublik Deutschland? So weit würde ich nicht gehen.

Für den in den drei Stimmen beschriebenen Zustand schlage ich stattdessen den Begriff der „methodischen Rechtsungewissheit“ vor; in der Politikwissenschaft hat sich für eine derartige schleichende Aushöhlung der geltenden Verfassung, wie sie beispielhaft ab 1930 in der Weimarer Republik zu beobachten war, der Ausdruck „Präsidialkabinett“ eingebürgert; angesichts eines andauernden krisenhaften Zustandes wurde damals allmählich, sicherlich jedoch ab dem Kabinett Brüning I (30.03.1930), die Legislative, also der Reichstag, zunehmend entmachtet, die Exekutive regierte gestützt auf die überragende Stellung des direkt gewählten Reichspräsidenten; das Recht der Ernennung des Reichskanzlers, das Recht der Notverordnungen und die ständige Drohung mit dem Recht der Reichstagsauflösung – die alle dem Reichspräsidenten zustanden – ließen den Reichstag schleichend zu einem Akklamations- und Abnickorgan herabsinken.

Wollen wir so etwas noch einmal erleben? Nein! Ich meine deshalb, in der jetzigen Lage sollten folgende, bisher in dieser Klarheit meines Wissens nirgendwo geforderten Grundsätze gelten:

1) Bundesrecht bricht Europarecht. Das EU-Recht ist im wesentlichen nur zwischenstaatliches Vertragsrecht. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland ist stärker; es ist hoheitlich gesetztes, durch das Grundgesetz und den repräsentativ über Organe geäußerten Volkswillen gestütztes Recht. Das Grundgesetz und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland genießen somit methodisch Vorrang vor allfällig entgegengesetzten Bestimmungen des EU-Rechts. Im Zweifelsfall bricht deutsches Recht Europarecht, so wie im Zweifelsfall Bundesrecht Landesrecht bricht (GG Art. 31).

2) Die Gesetzgebung und die Rechtssprechung gehen im Zweifelsfall der vollziehenden Gewalt vor, ebenso wie auch die allgemeinen Regeln des Völkerrechtes den Gesetzen vorgehen (Art. 25 GG).

3) Die Exekutive, also die jeweilige Regierung, führt im wesentlichen nur aus, was die Legislative, also das jeweilige Parlament vorschreibt. Die Exekutive hat nicht das Recht, vom geltenden Recht abzuweichen oder Gesetze ohne rechtssicheren Grund außer Kraft zu setzen.

4) Zur Bewältigung der gegenwärtig drohenden Staats- und Verfassungskrise sind vorrangig die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland zu wahren. Nachrangig sind auch die vertraglichen Verpflichtungen einzuhalten, die sich für die Bundesrepublik Deutschland aus ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union ergeben.

Bibliographischer Hinweis:
„Das System der Präsidialkabinette“, in: Der große Ploetz. Die Enzyklopädie der Weltgeschichte, 35. Aufl., Freiburg 2008, S. 965

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Okt 122015
 

Im Gränzenlosen sich zu finden,
Wird gern der Einzelstaat verschwinden,
Sich aufzugeben, ist Genuß!

So mag es einem wohl spielerisch in den Sinn kommen, nachdem man mit Hochgenuß die späten politisch-moralischen Gedichte Goethes durchgelesen hat.

Von „entgrenzter Demokratie“ schreibt sehr packend, sehr überzeugend der Düsseldorfer Politikwissenschaftler Stefan Marschall. Er erkennt, dass Phämomene wie „Europäisierung“ (gemeint ist jedoch nur der absolute Vorrang der EU-Rechtsakte vor den Rechtsakten der EU-Mitgliedsstaaten) und „Globalisierung“ den herkömmlichen westlichen Staatstypus zunehmend ins Abseits manövrierten und potenziell handlungsunfähig machten; in der Tat, so meine ich, Altertümlichkeiten wie etwa die Gewaltenteilung zwischen gesetzgebender, ausführender und rechtssprechender Gewalt werden in modernen Zeiten zunehmend außer Kraft gesetzt; gefragt ist in unseren Zeiten der wachsenden Anomie, der Widersprüchlichkeit unvereinbarer Rechtsordnungen wie etwa derjenigen der EU einerseits und der Nationalstaaten andererseits heute rasches, kühnes Zupacken, Raffen und Schaffen, auch wenn dieses „Schaffen“ oft nur ein „Abschaffen“ oder auch ein „Sich-Aufgeben“ ist, in diesem Fall also ein Abschaffen des herkömmlichen Souveränitätsgedankens der Territorialstaaten.

Wir zitieren Stefan Marschall (Hervorhebungen durch dieses Blog):

„In der Gesamtschau spricht vieles dafür, dass die Globalisierung der Gesellschaften und staatlicher Politik einen Beitrag zur Entparlamentarisierung, zur Schwächung des Bundestages im politischen System Deutschlands leistet und damit an die Substanz der parlamentarischen Demokratie geht.“

In scharfen Tönen, die nicht frei von Polemik sind, spricht der hochangesehene ehemalige Spiegel-Chefredakteur Stefan Aust am 9.10.2015 von der „Kanzlerin ohne Grenzen“; der europäische Politiker Guy Verhofstadt wiederum geißelte kürzlich im EU-Parlament die derzeitige europäische Anomie als reinstes Chaos, in dem es nicht eine, sondern „mindestens zehn Unionen“ gebe.

Nun, ich meine: Die zutreffend erkannte „Entgrenzung“ oder auch Regellosigkeit der hohen Politik macht uns einfachen Bürgern zunächst einmal Angst. Wir einfachen Bürger wissen derzeit oft nicht mehr, woran wir sind – was gilt, beispielsweise in der Euro-Staatschuldenkrise, in der wirtschaftlichen Dauerkrise der Eurozone und der Massenmigration in die verschiedenen europäischen Sozialsysteme? Was hat Vorrang? EU-Recht? Deutsches Recht? Das Recht des Stärkeren? EZB-Recht? Eine Art permanentes Notfallrecht? Oder brauchen wir gar in Europa endlich wieder einmal eine starke Frau, die vernünftigen Sinnes alles lenkt und leitet, „legibus absoluta“, also oberhalb der Gesetze stehend, wie etwa Kaiserin Maria Theresia oder Zarin Katharina II.? Oder ist alles letztlich sowieso eins, im Sinne eines Goethe’schen „Eins und Alles“? Fragen über Fragen!

Hier meine ich: Wenn man manche Zuspitzung und im Eifer des Gefechts unterlaufende Übertreibung abzieht, sollte und müsste man die Bemerkungen und Einwürfe eines Johann Wolfgang Goethe, eines Stefan Marschall, eines Stefan Aust und eines Guy Verhofstadt durchaus ernst nehmen. Sind letztlich doch alles besonnene, welterfahrene Menschen!

Belege:

Stefan Marschall: „Die entgrenzte Demokratie – Europäisierung und Globalisierung“, in: Stefan Marschall: Das politische System Deutschlands. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2015, S. 234-259, hier bsd. S. 247, S. 255, S. 257

Rede Guy Verhofstadts im EU-Parlament vom 07.10.2015
https://www.youtube.com/watch?v=D_VbHfgPVlg (hier besonders 4:47)

Stefan Austs Artikel vom 09.10.2015:
http://www.welt.de/debatte/kommentare/article147423831/Angela-Merkel-Kanzlerin-ohne-Grenzen.html

Goethes Gedicht „Eins und Alles“ (mit einigen schweren Schreibfehlern!):
http://gutenberg.spiegel.de/buch/johann-wolfgang-goethe-gedichte-3670/243

Bild:
Lascia dir la gente
e va per la tua strada (Dante). Bild vom Havelland-Radweg, unterwegs zu dem Ribbeck von Ribbeck auf Havelland.
20151004_090713

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Jul 182014
 

Der seit 22. Februar 2014 amtierende italienische Ministerpräsident Matteo Renzi verwahrt sich gegen Belehrungsversuche des Bundesbankpräsidenten Jens Weidmann mit den Worten: „L’Europa non appartiene ai tedeschi –  Europa gehört nicht den Deutschen“.  So zitiert ihn heute, am 18.07.2014,  die angesehene italienische Tageszeitung La Repubblica auf S. 15.

Zugleich wird eine Steuergutschrift von 80.- Euro für Bezieher niedriger Einkommen in Italien durch den Wirtschaftsminister Carlo Padoan  als dauerhafte „strukturelle Maßnahme“ erklärt – „dando maggiore certezza ai cittadini“.

Die Entlastung von 80.- für Steuerzahler soll den erhofften Wirtschaftsaufschwung befördern – und zugleich sagen die neuesten Vorhersagen der italienischen  Wirtschaftsinstitute ein Wachstum von nur 0,0 – 0,5% voraus (La Repubblica heute, S. 14).  Viel zu wenig, um die lastende Staatsschuld Italiens zurückzufahren oder die hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen!

Vor wenigen Tagen forderte der frühere Bundespräsident und habilitierte Staatsrechtler Roman Herzog „Abwehrrechte“ der Mitgliedsstaaten gegenüber der Europäischen Union. Er artikuliert damit ein tiefes Misstrauen gegenüber den EU-Institutionen, die sich immer mehr in die verfassungsrechtlich geschützten Belange der Mitgliedsstaaten einmischen. Dazu passt, dass neuerdings die EU-Kommission ganz offen und trockenen Auges als „mächtige europäische Gesetzgebungsbehörde“ bezeichnet wird, so etwa in der Süddeutschen Zeitung vom 16. Juli 2014 auf S. 1.  Eine Behörde als gesetzgebende Gewalt – unerhört! Bedenklich: eine mächtige Behörde, die stillschweigend zur einflussreichsten legislativen Gewalt der EU-Mitgliedsstaaten geworden ist!

Eine Behörde, die an die Stelle der herkömmlichen legislativen Gewalt, nämlich der Parlamente getreten ist! Hier stellt sich in aller Dringlichkeit die Frage nach der verfassungsrechtlichen Legitimität der gesamten EU. Hier stellt sich die brennende Frage, ob Europarecht Bundesrecht bricht, und ob nicht schleichend die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes in eine Art EU-Superstaat überführt wird, der von einer Behörde geführt wird, die zugleich legislative und exekutive Befugnisse hat.  Ein beispielloser Vorgang in der Geschichte der europäischen Verfassungen! Was wohl Montesquieu dazu sagen würde? Ich glaube, er würde sich im Grabe umdrehen. Das Zusammenfallen von legislativer und exekutiver Gewalt, wie es die EU-Kommission verkörpert, wäre für ihn das Ende der Freiheit. Er schreibt in Band 1 seines Geistes der Gesetze: „Lorsque, dans la même personne ou dans le même Corps de magistrature, la puissance législative est réunie à la puissance exécutrice, il n’y a point de liberté“, also zu deutsch etwa: „Wenn in derselben Person oder derselben Behörde die gesetzgebende mit der ausführenden Gewalt vereinigt ist, gibt es keine Freiheit.“

Ich denke, sowohl Matteo Renzi als auch Roman Herzog verdienen Gehör. Sie drücken für alle fassbar aus, dass das ganze Gefüge der EU in eine strukturelle Schieflage geraten ist. Man sollte sie nicht vorschnell als Europafeinde abkanzeln. Sie legen den Finger auf die Wunde: Die Staaten bzw. die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten haben offenkundig nicht mehr das Gefühl, Herr im eigenen Haus zu sein. Es droht unter dem jetzigen EU-Regime nichts Geringeres als das Ende der politischen Freiheit in den Mitgliedsstaaten.

Und wir einfachen europäischen Bürgerinnen und Bürger ohne politischen Einfluss und ohne politisches Amt? Wir haben mehrheitlich zunehmend das Gefühl, dass da eine europäische Maschinerie ohne ausreichende Legitimität über unsere Köpfe hinweg unser Schicksal bestimmt, dass sich also eine Art EU-Fürstenherrschaft etabliert hat – wobei die Steuerleute, die europäischen Fürsten in der Maschinerie selber uneinig sind, weil das EU-Regelwerk sie immer wieder in nahezu unauflösbare Zielkonflikte stürzt.

Einer dieser Zielkonflikte, aber bei weitem nicht der einzige, ist die absolute Vorrangstellung der Stabilität des Euro gegenüber allen anderen Zielen der Wirtschaftspolitik – also etwa gegenüber dem Ziel der Vollbeschäftigung oder des Wirtschaftswachstums.

Ich werte sowohl Renzis Protest gegen die – wohl eher so wahrgenommene als echte – deutsche Bevormundung als auch Herzogs Mahnruf gegen die Selbstherrlichkeit der EU-Institutionen als deutliche Signale eines tiefen Unbehagens gegenüber der gesamten Europäischen Union in ihrer jetzigen Verfasstheit.

Quellen:

Daniel Brössler und Cerstin Gammelin: „Juncker startet machtbewusst“, Süddeutsche Zeitung, 16. Juli 2014, Seite 1
Roberto Petrini: „Allarme Padoan: la ripresa stenta“, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 14
Andrea Tarquini: „La Ue chiede più riforme non meno regole ma noi tedeschi ci fidiamo delle promesse di Roma“, Intervista con Wolfgang Schäuble, La Repubblica, 18 luglio 2014, Seite 15

http://fr.wikisource.org/wiki/Page:Montesquieu_-_Esprit_des_Lois_-_Tome_1.djvu/318

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Apr 102009
 

„Die politische Klasse hat unser Wahlsystem in eigener Sache derart pervertiert, dass die Abgeordneten gar nicht mehr vom Volk gewählt werden, wie es das Grundgesetz verlangt. Wen die Parteien auf sichere Plätze setzen – und das ist oft die große Mehrheit der Abgeordneten -, der ist lange vor der Wahl praktisch schon „gewählt“, bloß eben nicht von den Bürgern“ (S. 42).

Mit diesen Worten zitierten wir am 02.07.2008 den Juristen Hans Herbert von Arnim. Bundespräsident Köhler hat in seiner Paulskirchenrede ebenfalls Änderungen im Wahlrecht gefordert. Thomas de Maizière wiederum sprach treffend von der „Feigheit“ der Politiker, nennt unser heutiges föderales System gerne ein System der organisierten Verantwortungslosigkeit. (Dieses Blog berichtete am 31.03.2009). Ihr seht: Die Meinungsfreiheit steht in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur auf dem Papier. Jede und jeder darf seine Kritik öffentlich aussprechen – auch jene, die selbst führend am Funktionieren des Systems beteiligt sind. Das ist schön!

Aber kaum jemand führt eine derart offene Sprache wie Peter Gauweiler: „Wir haben vor Feigheit gestunken„, wird er in Spiegel online zitiert. Mit diesem Diktum fasst er seine Beobachtungen über das Verhalten der Bundestagsabgeordneten, deren einer er selbst ist, zusammen.

Er habe den Eindruck, „dass Abgeordnete, die eigenständig über das eigene Land reden wollen, nicht mehr erwünscht sind“, so der Bundestagsabgeordnete.  „Was mich beunruhigt, ist, dass das Funktionieren im System so kritiklos hingenommen wird. Das gefährdet die Demokratie.“

„Das Funktionieren im System wird kritiklos hingenommen.“ Gauweiler beklagte insbesondere, dass die Fraktionsführung der Union bei wichtigen Themen, etwa der Abstimmung über die Erbschaftsteuerreform, massiv Druck auf Abweichler ausgeübt habe. „Da wurden bis zum Schluss Abgeordnete, die ihr abweichendes Votum bereits angekündigt hatten, in einer Weise geknetet und gedreht, dass es einem schlecht werden konnte.“

Duckmäusertum, Stromlinienförmigkeit, Bequemlichkeit – diese Haltungen seien vorherrschend. Eine Kontrollfunktion übe das Parlament nur unzureichend aus. Er schlägt deshalb – wie dieses Blog am 27.03.2009 – eine Stärkung der Direktkandidaturen vor, ja der bajuwarische Rebell möchte die Listenwahl ganz abschaffen.

Ich meine dazu: Wir brauchen dringend eine Rückbesinnung auf die klassische Gewaltenteilung. Das Parlament als Gesetzgeber, die Regierung als ausführende Gewalt, die Justiz als richtende Gewalt: das sind die „drei Gewalten“, die voneinander weitgehend unabhängig handlungsfähig sein müssen. Der deutsche Bundestag ist jedoch in der Tat über weite Strecken zu einem Akklamationsorgan, zu einer Mehrheitsbeschaffungsmaschine für die Regierung verkommen. Allein die Zahl der Gesetzesinitiativen des Bundestags ist in der laufenden Legislatur im freien Fall begriffen, alle wesentlichen Vorlagen kommen von der Regierung. Die Fraktionen haben fast keine Kraft, eigene Vorstellungen streitig durchzusetzen. Insofern gebe ich Kritikern wie Gauweiler, von Arnim oder de Maizière recht.

Mein Eindruck ist: Die Parteien sind insgesamt in der Bundesrepublik Deutschland viel zu mächtig geworden. Die verfassungsmäßige Gewalt der Legislative ist mittlerweile insgesamt viel zu schwach, weil sie mit der Regierung über die weit stärkeren Parteien verkoppelt ist.

Woran liegt das? Wie lässt es sich ändern?

Man stelle sich vor, jemand strebte in das Parlament, der genau dies zu seinem Programm erhöbe: Stärkung der drei voneinander unabhängigen Gewalten, Machteindämmung der Parteien, Ertüchtigung der Legislative, stärkere Kontrolle der Regierung durch das Parlament, insbesondere mit dem heiligen Recht jedes Parlaments, nämlich dem Budgetrecht! Würde so ein Kandidat Erfolg haben? Er müsste ja bei einer Partei anklopfen und sagen:

„Bitte stellt mich auf! Denn ich habe etwas Schönes vor: Ich möchte die Vormachtstellung der Parteien auf ihren grundgesetzlich vorgesehenen Mitwirkungscharakter einschränken! Ich möchte, dass die Abgeordneten – wie im Grundgesetz vorgesehen – ausschließlich den Interessen des Volkes und dem eigenen Gewissen verpflichtet sind, und ich werde deshalb in allen wesentlichen Fragen keine Anweisungen von euch  annehmen. Ich will dich, die Partei, und die anderen Parteien, zu guten, also zu schwächeren Parteien machen. Bitte stellt mich auf!“

Wie wird die Partei auf so etwas reagieren? Antwort: Sie wird es vermutlich gar nicht so weit kommen lassen. Ein solcher Kandidat wird es nicht einmal bis zum Anklopfen schaffen. Überall haben in den oberen Führungsgremien der Parteien die loyalen, altgedienten Parteisoldaten das Sagen. Die Hauptfrage lautet für die Parteien zumeist: Wie erringen wir mehr Macht für uns? Auf wen können wir uns dabei verlassen?

Fundamentalkritiker wie Peter Gauweiler, Thomas de Maizière, Horst Köhler oder Hans Herbert von Arnim mögen gut reden – aber stets im Nachhinein. Sie haben eine Fülle von Beobachtungen gesammelt und können es sich aus der errungenen Stellung heraus leisten, auch recht hart mit ihren Standesgenossen ins Gericht zu gehen. Hätten sie Ähnliches bereits zu Beginn ihrer Karriere vom Stapel gelassen, sie wären gar nicht erst so weit gekommen. Schade für das Ganze!

Wird Peter Gauweiler noch je einmal in ein Parlament kommen in diesem Leben? Ich bezweifle es. Würde ich eines Besseren belehrt – dann machte ich einen Luftsprung.

Trotzdem gut, dass es noch tapfere, aufrechte Menschen wie ihn gibt.

Ich selbst habe übrigens in diesem Blog etwas eingeführt, was euch merkwürdig anmuten mag: Ich nenne bei Politikern fast nie die Parteizugehörigkeit. Ist es euch aufgefallen? Denn jeder Politiker muss für das einstehen, was er sagt. Verantwortung ist immer persönlich.

 Posted by at 15:34