Ganz im Zeichen des Streites um die rechte Rolle des Staates ranken sich die gegenwärtigen, sich qualvoll hinziehenden Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD. Die deutsche Wirtschaft, die deutschen Unternehmerinnen begehren fast schon wütend gegen die beiden zunehmend staatsdirigistischen Parteien CDU und SPD auf. Sie mahnen ein Umsteuern in der Energiewende und beim gesetzlichen Mindestlohn an, beklagen die gesetzliche Frauenquote als Verletzung des Eigentumsrechtes. Die Koalitionäre in spe, CDU/CSU und SPD kümmert’s nicht. Alle Umfragen bei Frauen und Männern in allen Altersgruppen ergeben in taz und FAZ ein klares Nein des populistischen, allzu populistischen Volkes gegen die Frauenquote – egal. Die beiden ringenden Koalitionäre streiten nur noch um die Prozentzahl, aber die gesetzliche Frauenquote für große Privatunternehmen soll unter Schwarz-Rot kommen, ohne dass freilich die Staatsunternehmen, die SPD- oder die CDU-geführten Regierungen oder die Parteien CDU/SPD selbst auch nur im mindesten den Verpflichtungen nachgekommen wären, die sie nunmehr der Gesellschaft aufzuerlegen gedenken. „Die Frauenquote ist nur der Anfang“, sagt „la Merkel della SPD“, wie sie Angelo Bolaffi tituliert, „die Merkel der SPD“, Hannelore Kraft. Man darf gespannt sein, was als nächstes kommen wird.
Es geht bei der Energiewende, bei der Frauenquote, beim bundesweiten Mindestlohn, überhaupt bei „Gesellschaftsprojekten“ ganz klar um eine Selbstermächtigung der Politik in Bereiche des Privateigentums an Produktionsmitteln, in Bereiche der privaten Lebensgestaltung hinein. Die Politik – hier vertreten durch CDU und SPD – möchte ihre Vorstellungen von richtigem Leben und richtigem Wirtschaften in der Gesellschaft durchsetzen. Sie möchte aktiv die Rollenunterschiede zwischen Vater und Mutter abschleifen, sie möchte die biologisch verankerten Unterschiede zwischen Mann und Frau bewusst im Sinne einer Neuprofilierung von Rollenmustern umformen. Sie erstrebt den universal wirtschaftstauglichen Menschen. Das ist der Sinn des Ausdrucks „Modernisierung“ der Gesellschaft. Das verbirgt sich hinter der Wendung: „Wir haben ein Gesellschaftsprojekt vor.“
Michel Foucault nannte diesen Ansatz des Übergreifens der Politik in die Umformung der Gesellschaft und der Natur, in die Schaffung oder Züchtung eines neuen Menschentums „Biopolitik“. Biopolitik, wie sie insbesondere in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts in vielen Ländern praktiziert wurde, geht stets mit einem starken Politikbegriff und einem schwachen Freiheitsbegriff einher, behauptet stets den Vorrang der Politik vor der Wirtschaft, den Vorrang der Wirtschaft vor der Familie, den Vorrang des Volkes vor der Person, den Vorrang des Öffentlichen vor dem Privaten. Sowohl CDU als auch SPD, insbesondere jedoch die Europäische Union steuern derzeit eindeutig und ohne jeden Zweifel ins Fahrwasser der Biopolitik hinein. Sie wollen die Gesellschaft und die Wirtschaft, letztlich das Menschenbild in ihrem Sinne umsteuern und umgestalten. Das Paradigma ist dafür beispielsweise die absolute Gleichstellung, ja Gleichheit der Geschlechter, die Außerkraftsetzung des tradierten Mann-Frau-Familienmodelles, die Nivellierung der kulturellen Unterschiede in den 28 EU-Staaten unterm Bann der Einheitswährung Euro, die Unterhöhlung der staatlichen Souveränität der Einzelstaaten, der künstlich und oft wider alle rationale Einsicht erzeugte Handlungsdruck unter wechselnden Imperativen – heute etwa unter dem Imperativ des Klimaschutzes, der mit dogmatisch verhärteten Handlungsanweisungen zum obersten Gesetz erhoben werden soll.
Der italienische Politologe Angelo Bolaffi weist in seinem neuen Deutschland-Buch „Cuore tedesco“ völlig zurecht darauf hin, dass schon in den dreißiger Jahren ganz unterschiedliche Länder wie etwa das England des Beveridge-Plans, die Sowjetunion, das Deutsche Reich eines Wirtschaftsministers Hjalmar Schacht, das Amerika des „New Deal“ mehr oder minder ähnlich eine derartige Lenkungswirtschaft, eine derartige staatlich geführte Biopolitik im Foucaultschen Sinne vertraten.
Das große Gegenstück zur Biopolitik der Lenkungswirtschaft wie auch zum entfesselten anglo-amerikanischen Neoliberalismus wurde ebenfalls in den dreißiger und vierziger Jahren entwickelt: der sogenannte Ordoliberalismus, die Freiburger Schule der Volkswirtschaft, vertreten etwa durch Wilhelm Röpke oder später Ludwig Erhard. Der Ordoliberalismus – und dies arbietet Bolaffi brillant heraus mit einer Klarheit, die man leider bei deutschen Politologen selten oder gar nicht finden wird – grenzte sich eindeutig vom radikalen angelsächsischen Neoliberalismus wie von der totalitären Biopolitik des Dritten Reiches ab. Der Ordoliberalismus setzt auf den Wettbewerb prinzipiell gleichberechtigter, prinzipiell chancengleicher Unternehmen. Wo Gleichberechtigung oder Chancengleicheit nicht besteht, etwa durch übergroße Unternehmenskonzentration, greift der Staat „von oben steuernd“ durch seine „Marktordnung“ ein, etwa durch das Verbot und Zerlegung marktbeherrschender Kartelle. Wo Individuen an der Teilnahme am Wettbewerb gehindert sind, etwa durch familiäre Benachteiligung, schafft der Staat nach Möglichkeit eine Art Kompensation, etwa durch zusätzliche Bildungsangebote oder durch die Vergabe von Stipendien an benachteiligte Kinder.
Dieser Ordoliberalismus, der letztlich auf einem starken Begriff der Freiheit und einem schwachen Begriff der Politik fußt, war die große Ursache für den Erfolg der alten, 1949 gegründeten, ab etwa 1998 ihren Abschied nehmenden Bundesrepublik Deutschland, die Bolaffi aus genau diesem Grund im Verbund mit der metanoia tedesca, der Reue und Buße der Deutschen für die in deutschem Namen begangenen Massenverbrechen, als einzige sinnvolle Blaupause für eine erfolgreiche Europäische Union, für eine noch zu schreibende Verfassung der Europäischen Union empfiehlt.
Wird Bolaffis leidenschaftliches Plädoyer für eine erneuerte Europäische Union im Geiste des Ordoliberalismus alla tedesca gehört werden? Ich meine: Die Zeichen der Zeit stehen eher ungünstig dafür. Das Einschwenken der CDU und der SPD auf die immer stärker vordrängenden Konzepte staatlicher Lenkung, das Credo absolutum der Euro-Rettung, das Aufkommen einer neuen Biopolitik bei CDU und SPD, das ständig anwachsende An-sich-Reißen von Kompetenzen durch die de jure nicht-kompetente Europäische Kommission, sie alle werden diese Einsicht in das Gangbare und Mögliche, in das Bewährte und Menschendienliche – so steht zu befürchten – verhindern. Das Votum eines einzelnen italienischen Politologen, Deutschland-Kenners und Deutschland-Freundes wird daran zunächst einmal nichts ändern, es sei denn, es fände hier in Deutschland und in Europa in breitem Umfang Gehör. Zu wünschen ist dies sehr.
Nachweis:
Angelo Bolaffi: Cuore tedesco. Il modello Germania, l’Italia e la crisi europea. Donzelli Editore, Roma 2013, hier bsd. S. 41, S. 235-237, S. 253-254