Advent – Zeit der Wüste, Zeit der Versteppung, Zeit des Durstes nach Licht!

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Dez 072015
 

Beim Warten auf den Einsatz mit Vivaldis jubelndem Gloria hörte ich gestern in der Canisius-Kirche eine äußerst bewegende Predigt. Grundgedanke war: Advent, das ist die Zeit der Dürre, der Versteppung. Advent, da zweifeln die Menschen an sich selbst. Auch die „philosophische Anthropologie“ findet heute keine Worte mehr, um die Größe und das Leuchten des Menschen, das Leuchten der Kinderaugen zu beschreiben.

Advent, da wissen sie nicht ein noch aus.

Irgendwie wanderten meine Gedanken beim Nachhauseradeln zu dem „Traum der Wüste“, zu dem großen, gewaltigen Gedicht Clemens Brentanos ab. Neben Adalbert Stifter, neben den Beschreibungen der endlosen kalmückischen Steppe, wie sie der Rotarmist Wassili Grossman geliefert hat, ist Brentano derjenige, der wohl am ehesten den abgrundtiefen Verzweiflungston der Psalmen, die wehe Zerrissenheit der Jahre 1914-1945 getroffen hat.

Aus diesem Grunde gebe ich das Gedicht unverändert wieder:

Der Traum der Wüste

O Traum der Wüste, Liebe, endlos Sehnen,
Blau überspannt vom Zelte, Stern an Stern;
O Wüstenglut voll Tau, o Lieb voll Tränen,
Weil sich unendlich Nahes ewig fern.

O Wüstentraum, wo Lieb auf Herzschlag lauschet,
Wenn flüchtgen Wildes Huf die Wüste drischt,
O Traum, wo der Geliebten Schleier rauschet,
Wenn Geierflug im Sandmeer Schlangen fischt.

O Wüstentraum, wo Liebe träumt zu fassen
Jetzt Josephs Mantelsaum mit durstger Hand,
Da geißelt wach, verhöhnt halb, ganz verlassen
Ihr Herz, der Wüste Geißel, glüher Sand.

O Liebe, Wüstentraum der Sehnsuchtspalme,
Die blütenlos Gezweig zum Himmel streckt,
Bis segnend in des höchsten Liedes Psalme
Der Engel sie mit heilgem Fruchtstaub weckt.

O Wüste, Traum der Liebe, die verachtet
Vom Haus verstoßen mit der Hagar irrt,
Wo schläft der Quell? da Ismael verschmachtet,
Bis deine Brust ihm eine Amme wird.

O Wüstentraum der Liebe, die sich sehnet,
Steigt nie ein Weiherauch aus dir empor?
Geht duftend, auf den Bräutigam gelehnet,
Nie meine Seele heil aus dir hervor?

O Wüste, wo das Wort der ewgen Liebe
Im unversehrten Dorn vor Moses flammt,
Ein Zeugnis, daß die Mutter Jungfrau bliebe,
Aus deren Schoß der Sohn der Gottheit stammt.

Lieb‘, Wüstentraum, so laut des Rufers Stimme,
»Bereit‘ den Weg des Herrn!« dir mahnend schallt,
Summt in des Löwen Schlund dir doch die Imme,
Die Süßes baut im Rachen der Gewalt.

O Durst der Liebe, Wüstentraum, wann spaltet
Der Herr den Fels, daß Wasser gibt der Stein,
Wann deckt in dir den Tisch, der gütig waltet,
Wann sammle ich das Himmelbrot mir ein?

Durst, Liebe, Wüstentraum, dort scheint am Hügel
Der Morgenstrahl, ein Hirtenfeuer weiß,
Wo Durst gewähnt des Wasserfalles Spiegel
Fand Liebe ein Geschiebe Fraueneis.

O Liebe, Wüstentraum des Heimatkranken,
Ihr Paradiese, schimmernd in der Luft,
Ihr Sehnsuchtsströme, die durch Wiesen ranken,
Ihr Palmenhaine, lockend in dem Duft.

O Liebe, Wüstentraumquell, beim Erwachen
Rauscht dir kein Quell, es wirbelt glüher Sand,
Es saust das Haus der Schlangen und der Drachen
Und prasselt nieder an der Felsenwand.

O Wüstentraum, wo Sehnsucht Feuer trinket,
Und Liebe angehaucht vom giftgen Smum,
Ohn Trost und Hoffnung tot zur Erde sinket;
O Tod ohn Liebe, Hoffnung, Ehr und Ruhm!

O Wüstentraum der Lieb! in der Oase
Labt dich am Quell, der zwischen Palmen glänzt,
Ein schlankes Kind – die Schlange ist’s im Grase,
Der Räuber Kundschaft’rin, ein Truggespenst.

O Liebe, Wüstentraum, nach kurzem Gasten
Sprengt dich der Räuber gastfrei an mit Hohn:
»Mein Brüderchen! entlaste dich zum Fasten,
Wo denkest du hinaus, mein lieber Sohn?«

O Liebe, Wüstentraum, du mußt verbluten,
Beraubt, verwundet, trifft der Sonne Stich,
Der Wüste Speer dich, und in Sandesgluten
Begräbt der Wind dich, und Gott findet dich!

Clemens Brentano: Der Traum der Wüste. In: Clemens Brentano. Eine Auswahl. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Curt Hohoff. Veröffentlicht unter der Zulassungs-Nr. US. E-119 der Nachrichtenkontrolle der Militärregierung. Carl Hanser Verlag, München o.J., Erster Band, S. 135-137

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Geflochten auf das Rad der Wiederholungen: Beschneidungsdebatten, Ehrenmorde, kulturelle Assimilation, Aufruf zum Gewaltverzicht … und wieder … und wieder

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Mrz 252013
 

2013-03-24 10.54.58

„Seht, ich lehre euch die ewige Wiederkehr.“ So Nietzsches Zarathustra. Was dem Zarathustra Nietzsches zweifellos immer wieder aufleuchtete, war das plötzliche Gewahrwerden des „Das hatten wir ja schon einmal!“ –

„Das hatten wir ja schon einmal!“

„Schon einmal?“ –

„Nein, viele Male!“

Dies ist der Quellpunkt im Brunnen des mythischen Bewusstseins, das uns alte, uns uralten Europäer eint: Überall entdecken wir Gewesenes, im Vorschein des Künftigen sehen wir den Widerschein des Vergangenen.

Bis in die Wortwahl hinein spiegeln beispielsweise die erregten innenpolitischen Debatten der Bundesrepublik um die Integration oder Assimilation der Zuwanderer, um Einzigartigkeit und Singularität deutscher Schuld und deutscher Scham, deutscher Schande und deutscher Strafe jene jahrtausendealten Begebenheiten und Einzigartigkeitsdebatten wider, von denen uns die alten Schriften des Buches der Bücher erzählen.

Ein paar dieser jahrtausendealten Fragen lauten: Ab wann gehören die Menschen des anderen Volkes zu uns? Wie vermischen, wie vereinigen sie sich mit uns?

Antwort im Buch Genesis: Sie gehören zu uns, sobald sie unsere Religion, also unsere Kultur durch das sichtbare Zeichen der Beschneidung annehmen. Ohne die vollständige rituelle Assimilation, ohne das sichtbare Zeichen der Beschneidung gehören sie nicht zu uns und wir nicht zu ihnen. Und genau so wird dies von namhaften Religionsgemeinschaften bis zum heutigen Tage vertreten.

Sind wir Deutschen auf alle Zeiten das Trägervolk des Bösen, da wir den Holocaust verursacht haben, der doch etwas Einzigartiges war, wie uns Deutschen wieder und wieder auf Treu und Glauben von den Deutschen und anderen Völkern versichert wird? Oder waren die mehreren Shoas des 20. Jahrhunderts, die Katastrophen, in die Völker hineingeschickt wurden,  eine vielfache Wiederkehr, eine Gischt-Brechung der Gemetzel früherer Zeiten, früherer Völker, früherer Gewalt? Fragen, Fragen!

Fromme gelehrte Juden lehnen bekanntlich den Ausdruck Holocaust wegen seiner rituellen Überhöhung ab und sprechen lieber von der jüdischen Shoah des 20. Jahrhunderts, vergleichbar etwa der jüdischen Shoah des Jahres 70 n. Chr.  Mit Blick auf die von Belgiern gemetzelten Kongo-Völker, die von Turkvölkern gemetzelten Armenier, die von Russen gemetzelten Kulaken, die von Russen und Deutschen gemetzelten Polen und Ukrainer, die von Deutschen gemetzelten Russen, die von europäischen Völkern unter Führung der Deutschen gemetzelten Juden und die vielen anderen, von anderen Völkern  gemetzelten Völker wird man von mehreren Shoas mehrerer Völker im 20. Jahrhundert sprechen können und sprechen müssen. Statt Shoah empfiehlt es sich auch, den Ausdruck Katastrophe zu verwenden. Genau diesen Ausdruck „Kata-strophe“ für Kultur-bruch, deutlichst hervorgehoben durch Zeilen-bruch und Seiten-bruch, verwendet Thomas Mann in seiner Nacherzählung des Holocausts des uralten kanaanitischen Volkes der Hiwiter. Die gezielte vollständige Vernichtung und Ausplünderung, die Shoah der Hiwiter wird von Stammvater Jakob als absoluter, als nicht zu unterbietender Tiefpunkt des Volkes Israel gedeutet, als absoluter Zivilationsbruch. Das blutrünstige Gemetzel, die Shoah der Hiwiter, die Katastrophe der Hiwiter ist also zugleich die völlige sittliche Katastrophe der Söhne Jakobs.  Sie führt zur rituellen Lossagung des Vaters von den Söhnen:

„Simon und Levi, die Brüder, Werkzeuge der Gewalt sind ihre Messer. Zu ihrem Kreis mag ich nicht gehören, mit ihrer Rotte vereinige sich nicht mein Herz. Denn in ihrem Zorn brachten sie Männer um, mutwillig lähmten sie Stiere.“

Zerstörte Vielfalt! Lesen wir etwa im Buch Bereschit/Genesis, dem 1. Buch Mose das Kapitel 34, so werden wir sogleich erkennen: Nein, die völlige Auslöschung und Ausplünderung eines benachbarten Volkes, die Forderung nach bedingungsloser Assimilation ist keineswegs neu. Keineswegs neu und keineswegs einmalig ist die Lust am Gemetzel, das Waten im Blut, das Ausplündern der zuvor Assimilierten, der Unterjochten, die Auslöschung ganzer Völker.  Frauenraub, Zwangsheiraten, Frevel, Rechtsbruch, Verrat und Hinterlist scheinen zum menschlichen Gewese aller Zeiten zu gehören. Die Möglichkeit zur Lust am Gemetzel, zur Ausplünderung und Vernichtung ganzer Städte, ganzer Völker, wie sie gerade das europäische 20. Jahrhundert in den Jahren 1914-1989 an mehreren Völkern, an mehreren Kulturen so überreich ausgeführt erlebte, gehören seit unvordenklichen Zeiten, seit den Zeiten eines Kain und Abel, eines Simeon und Levi, eines Ödipus, Eteokles, Polyneikes, einer Antigone und eines Kreon zum Kernbestand menschlicher Kultur. Zum Kern der Kultur gehört der Kulturbruch in Gewalt. Zum Kernbestand menschlicher Zivilisation, zur Menschen-Natur gehört der absolute Zivilisationsbruch.

Aber auch das erschütterte Klagen, das Zürnen und das Fluchen und Segnen der wenigen Aufrechten, die sich dem Frevel der Söhne entgegenstellen, gehören dazu! Der berühmte Jakobs-Segen des ersten Buchs Moses bietet ebenso strahlend und fast unüberbietbar die Möglichkeit, dem Bösen, das auf alle Zeiten in uns wohnt, zu widersagen. Er bietet die Handhabe zum Neubeginn nach dem absoluten Zivilisationsbruch. Es geht ja doch wieder weiter – auch nach dem völligen, dem singulären  Zivilisationsbruch! Der Segen und der Fluch des Vaters übertrifft an Wirkkraft das rein Natürliche der Menschen-Natur. Im Widersagen an das Böse befestigt sich das Wissen und die Einsicht in das, was gut für den Menschen ist. Die griechische Septuaginta, eine Frucht des Bemühens zahlreicher jüdischer Gelehrter um Übersetzung des hebräischen Urtextes der Weisung in die neue Weltsprache Griechisch, gibt die zehn Gebote völlig zutreffend im Futur wider. Auf Griechisch heißt es also nicht: „Du darfst/sollst nicht töten!“, Sondern: „Du wirst nicht töten!“

Knapp einfach und in die Zukunft hineingreifend wird dies manchmal so genannt:

Du wirst nicht töten!
Du wirst Vater und Mutter ehren!
Du wirst nicht lügen!
Du wirst nicht ehebrechen!

Wurzelquellen:
Hebräische/griechische Bibel (Torah/Septuaginta): Buch Genesis/Bereschit insgesamt, darin besonders: Kapitel 34 passim; Kapitel 49, 1-28
Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. Erster Band: Die Geschichten Jaakobs. Drittes Hauptstück: Die Geschichte Dinas. Aufbau Verlag, Berlin und Weimar, 1972. Darin  besonders:  S. 148, letzte Zeile bis S. 149 erste Zeile; „Das Gemetzel“, S. 176-180
Aischylos: Sieben gegen Theben
Sophokles: Oidipus Tyrannos, Antigone

Bild: Ein rätselhafter Brunnen der Vergangenheit im Johannesstift Spandau, aufgenommen im harten Winter gestern. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?

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„Lieber Joschka mein, hilf mir wiegen das Kindelein!“

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Jan 162013
 

„Joschka, lieber Joschka mein,
hilf mir wiegen das Kindelein“

Dieses alte Lied sang ich vor 2 Wochen zusammen mit meinem Weib, meinem Kind, meiner Mutter und meinen Freunden im Schatten der nordischen Julka. Joschka, wer ist das? Dieser Joschka, wie er auf Ungarisch heißt, zieht außer Gebären und Stillen des Kindes das volle Programm durch. Er macht alles mit, was der Mann in der frühkindlichen Erziehung leisten kann. Er ordnet sich dem Wohl des Kindes unter, sichert das Wohl der Familie. Dass von ihm weniger geredet wird als von seiner Frau, scheint ihn nicht zu stören. Er spielt die zweite Geige unter den Eltern, die Mutter kommt groß raus im Strahlenkranz. Madonna Mia!

Dieser Joschka oder Yussuf, wie er auf Arabisch heißt, oder Yosip, wie er auf Serbisch heißt,  ist der moderne Mann, wie ihn die heutige Zeit braucht. Arbeitsverhältnisse ändern sich, Geschlechterverhältnisse ändern sich. Deshalb gilt: Oh Mann, werde wesentlich! DIENE der Familie! Bedürfnisse des Wirtschaftens ändern sich.

Die Grundbedürfnisse der kleinsten Kinder ändern sich seit Jahrtausenden hingegen nicht: Wärme, Muttermilch, das Ruhen an der Brust nach dem Stillen, Körperkontakt, Zärtlichkeit, Ansprache, Gesang, Sicherheit vor körperlicher Bedrohung, Schutz vor bösen Tieren und bösen Herrschern. Kinder brauchen den stabilen Rahmen aus Weib und Mann. Wir nennen’s Ehe, nennen’s Familie.

DAS müssen wir in die Köpfe und Herzen auch reinkriegen. Lies den SPIEGEL-Titel von 2013: „Oh Mann.“ Ob nun das Weib oder der Mann die Kohle ranschafft, ob er oder sie das Wasser vom Brunnen holt, ob JOSCHKA oder MIA größer und strahlender rauskommt, ist zweitrangig. Entscheidend ist das Wohl des Kindes. Ihm DIENT die Familie. Das vergessen wir allzu oft.

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„„Schuld kann vergeben werden“

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Aug 092011
 

„Reicht euch doch die Hand, sprecht euch aus, arkadaşlar“, – denn Versöhnung ist möglich, auch zwischen einem deutschen Aleviten und einem strenggläubigen Currywurstverkäufer. So dachte ich gestern.

Schuld kann vergeben werden, das ist eine wichtige Erfahrung für Männer. Versöhnung – ein großes Thema! Der biblische Joseph und auch der Yussuf des Koran stehen für diesen großen, das ganze Leben umfassenden Versöhnungszusammenhang. Darauf wies gestern auch Margot Käßmann in der BZ auf S. 16 hin – in genau jener Ausgabe, die den argen Zwist zwischen Oguzhan und Özcan, den Brüdern aus türkischem Stamm, berichtet hat.

 B.Z. Gesprach: „Schuld kann vergeben werden“ – B.Z. Berlin – Kultur, Margot Käßmann, Josefsgeschichte
Das ist „Gnade“: zurückblicken, etwas sehr ungerecht finden und am Ende ist es doch gut, Teil deiner Lebensgeschichte. Und Schuld kann vergeben werden, das ist eine wichtige Erfahrung für ein Kind.

 Posted by at 16:00
Jan 022011
 

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Das neue Jahr 2011 feierten wir als Familie durch ein Silvesterkonzert mit Geigen und Singen in der Demenzstation eines Altenwohnheimes an. Wir spielten aus freien Stücken, aus freiem Entschluss. Und wir wählten ohne Not und ohne Noten die Stücke, die uns gerade einfielen: Joseph Achrons Hebräische Melodie und Bachs d-moll-Sarabande, eine freie Phantasie nach Mozarts „Das klinget so herrlich“ und Vivaldis „Gloria Patri“.

„So werden wir vielleicht auch einmal sein. Mit deiner Musik schenkst du den Menschen eine riesige Freude“, sagte ich zu meinem Sohn. Und so war es. Die Töne schwebten durch die Luft nach oben.

Demenz – das ist für uns mittlerweile eigentlich keine Krankheit, sondern ein besonderer Zustand des Menschlichen, der uns alle erwarten kann.

Anschließend besuchten wir das Silvesterkonzert in der Evangelischen Ulrichskirche zu Augsburg. Mein Blick schweifte über die Malereien und Stuckaturen.

Der verratene Mensch Joseph (im Koran Jussuf genannt) fesselte mich. Franz Friedrich Franck hat das Gesicht des Joseph ganz deutlich in das Schlaglicht gerückt. Joseph ist der Überflüssige. Der überflüssige Mensch ist der wichtigste Mensch. Ihm gilt mein besonderes Willkommen.

Ein paar Blicke weiter – und ich entdeckte den Anker der Hoffnung als festliche Stuckverzierung. Als Waage ist der Anker der Hoffnung gestaltet, wobei die Himmelssphäre die Erdenschwere überwiegt.

So fand ich mein Motto für das anbrechende Jahr 2011:

Freiheit und Fürsorge – ein Willkommen für jeden Menschen!

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Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern, allen Gesprächspartnern und Widersachern und Unterstützern diesen Geist der Freiheit und der Fürsorge im Neuen Jahr 2011.

Ein freies und fürsorgliches Neues Jahr euch allen!

 Posted by at 01:08

„Ja, ich bin schwanger! Was für ein Glück!“

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Nov 062010
 

Dieser Satz aus einem Erziehungsratgeber des Jahres 2010 erinnert mich an ein Buch aus dem 7. Jh. nach Christus in der Übersetzung von Lamya Kaddor und Rabeya Müller:

Es kam eine Karawane an dem Brunnen vorbei, und sie schickte ihren Wasserschöpfer voraus. Er ließ einen Eimer hinunter und sagte: „Was für ein Glück! Hier ist ein Junge!“

978-3-407-85863-4.pdf (application/pdf-Objekt)

Andere Stelle: Sure 12, Vers 19

 Posted by at 21:10

„Was für ein Glück! Hier ist ein Junge!“

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Sep 022010
 

„Ich bin so unerträglich schön“ , sang und summte gestern die kleine Madschida, als sie mit ihrer selbstgebastelten Puppe uns besuchte und durch die Wohnung schwirrte. Sie meinte natürlich die Puppe aus Pappmaschee. Aber insgeheim dachte sie wohl „Auch ich bin unerträglich schön. Auch ich möchte unerträglich schön sein.“

Genau das fiel mir ein, als ich soeben die Yusufs-Geschichte aus dem Koran wieder las (Sure 12, Vers 19). Der Wasserschöpfer findet beim Eimer-Hinunterlassen ein verlassenes Baby völlig verängstigt und zitternd am Boden sitzen. Er ließ seinen Eimer hinuter und sagte: „Was für ein Glück! Hier ist ein Junge!“ Ein herrlicher Satz, den leider die ursprüngliche Quelle des Korans, nämlich die jüdische Bibel, nicht enthält (Buch Bereschit/Genesis 37, Vers 28).

Wie geht es weiter mit Yusuf? Das Baby wird zu einem Schnäppchenpreis verkauft, und der Käufer, ein Ägypter, sagte zu seiner Frau: „Nimm ihn freundlich auf. Vielleicht kann er uns einnmal nützlich werden, oder wir nehmen ihn als Sohn an.“

Kinder sind ein Schatz – auch im materiellen Sinn! In der alten Welt waren sie die entscheidende Ressource für die Alterssicherung.

Neben all dem Zauber, den Kinder sowohl in der jüdisch-christlichen als auch der islamischen Welt zugesprochen erhalten, sollten wir nicht vergessen, dass sie auch im materiellen Sinne unverzichtbar waren. Gesellschaften erhalten sich über ihre Kinder. Die Erziehung und Heranbildung der Kinder ist eine der tragenden Aufgaben jeder Gesellschaft, die an sich selbst glaubt und deren Menschen sich selbst erhalten wollen.

Diese Einsicht gilt auch in jenen modernen Gesellschaften mit Sozialversicherungssystemen, die auf der Ebene des Individuums die Altersvorsorge und das Kinderhaben entkoppelt haben. Der Einzelne braucht keine Kinder mehr, um im Alter materiell abgesichert zu sein.

Kollektiv gesehen brauchen Gesellschaften aber sehr wohl Kinder, um ihre materielle Existenz zu sichern. Koran Sure 12 und Bibel Genesis 37 haben mich daran erinnert, und dafür bin ich beiden Büchern dankbar.

Quelle: L.Kaddor/R.Müller: Der Koran für Kinder und Erwachsene. München 2008, S.  111

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Mai 182009
 

 Yussuf – so heißt ein Mitschüler meines Sohnes. In Yussuf benannte sich auch Cat Stevens nach seinem Übertritt zum Islam um. Würdet ihr glauben, dass dieser Yussuf kein anderer ist als der Joseph aus dem 1. Buch Mose, das Juden wie Christen gemein ist?

Diesem Joseph oder Yussuf begegnete ich gestern beim Spazierengehen in Würzburg. Ihr seht ihn dort oben. Es war ein herrlich leichter, hingezauberter Abend. Die alte Mainbrücke zu überschreiten, den Blick der ruhig vertäuten Kähne zu genießen und ein paar Worte unter Freunden zu wechseln, das war für mich gestern ein schöner Augenblick.

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So wie Navid Kermani oder Necla Kelek uns einen neuen Blick auf das Kreuz lehren können, so vermag es Goethe, die Eigenart des Islam genauso hervortreten zu lassen wie auch sein Strenges und Hartes. Ähnlich wie Kermani gelingt es ihm, in Anziehung und Abstoßung des Eigene und das Fremde geradezu sinnlich spürbar werden zulassen.

Goethe schreibt in seinen Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans in dem Mahomet benannten Kapitel:

Nähere Bestimmung des Gebotenen und Verbotenen, fabelhafte Geschichten jüdischer und christlicher Religion, Amplificationen aller Art, gränzenlose Tautologien und Wiederholungen  bilden den Körper dieses heiligen Buches, das uns, so oft wir auch daran gehen, immer von Neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnöthigt.

Eine der wenigen im echten Sinne erzählenden Suren ist die Sure 12. Sie ist ganz dem Josef (ungarisch: Joschka, arabisch: Yusuf, bairisch: Sepp) gewidmet. Goethe rühmt an der koranischen Umarbeitung der biblischen Josefsgeschichte, sie sei bewundernswürdig.  Die Überlieferungen des Alten Testaments beruhen – so Goethe – „auf einem unbedingten Glauben an Gott, einem unwandelbaren Gehorsam und also gleichfalls auf einem Islam“.

So wie Kermanis Bildmeditationen das beste sind, was ich seit einigen Monaten über das Christentum gelesen habe, so stellen Goethes Meditationen über Mahomet das beste dar, was ich seit vielen Wochen aus der Feder eines Nicht-Muslims über den Islam gelesen habe. Ohne flache Multi-Kulti-Versöhnlichkeit gelingt es Goethe, sich in Lebenswelt und Schriftsinn des Koran hineinzuversetzen, sich in ihn einzufühlen, ohne die eigene, abendländische Denkart preiszugeben.

Der Goethe des West-östlichen Divans ist DER große Anreger für uns in der Bundesrepublik Deutschland am Beginn des 21. Jahrhunderts. Er muss gleichberechtigt an die Seite des bekannteren Goethe gestellt werden, der den Faust geschrieben hat!

Schließen wir diese kurze Abendandacht mit einem Zitat aus der 12. Sure, Vers 92-93. Sie kann uns zeigen, wie innig verschwistert Judentum, Christentum und Islam sind und bleiben. Denn alle drei Religionen erzählen in immer neuen Abwandlungen das spannungsreiche Thema der Entfremdung zwischen Vätern und Söhnen, zwischen Bruder und Bruder. Ob Cat „Yussuf“ Stevens, ob Josef „Joschka“ Fischer sich immer bewusst waren, welche Kraft in ihrem Namen lag? Ihrem hebräischen Namen, der bedeutet: ER fügt hinzu? Denn nachdem Josef von seinen Brüdern verraten und verkauft worden war und der Vater aus Gram und Kummer das Augenlicht verloren hat, führt er zuletzt die große Versöhnung herbei, indem er sein Hemd weggibt und hinzufügt und dabei seinen Brüdern sagt:

„Keine Schelte soll heute über euch kommen. Gott vergibt euch, Er ist ja der Barmherzigste der Barmherzigen. Nehmt dieses mein Hemd mit und legt es auf das Gesicht meines Vaters, dann wird er wieder sehen können.“

Das heißt: Die Versöhnung geht vom Sohn aus, nicht vom Vater. Heißt sie deshalb Ver-söhnung, also Wiederherstellung des Sohn-Seins? Etymologisch nicht, denn das Wort stammt von Sühne ab. Aber in einem tieferen Sinne stimmt dieses Brückenbild. Joseph oder Yussuf – sie stehen im Bilde gesprochen „auf der Brücke“, sie sind die großen Hinzufüger, die großen Schenkenden.

Versöhnung geht in der Josefsgeschichte von dem aus, dem Unrecht angetan wurde, nicht von den Tätern des Unrechts. Und die Versöhnung macht im vollen Umfang „sehend“.

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Quellen:

Goethes Sämmtliche Werke. Vollständige Ausgabe in zehn Bänden. Mit Einleitungen von Karl Goedeke. Erster Band. Stuttgart. Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung. 1885,  S. 555-557

Der Koran. Übersetzung von Adel Theodor Khoury. Unter Mitwirkung von Muhammad Salim Abdullah. Mit einem Geleitwort von Inamullah Khan. Gütersloher Verlagshaus, 4. Auflage, Gütersloh 2007, S. 185

 Posted by at 00:06