Recht erstaunt war ich, als ich am vergangenen Samstag meinen Weg zum Hotel Maritim Pro arte in der Friedrichstraße radelte. Hart hinter der Russischen Botschaft zwang mich eine rote Ampel zum Innehalten. Ich erhob meinen Blick:
Überlebensgroß baute sich ein Mahner und Warner vor uns Rotlicht-Wartenden auf. Aus dem Bürogebäude erhob er seine Stimme von einem riesigen Plakat an der Kasse der Komischen Oper! Wollte er uns Radfahrern allen ins Gewissen reden? War dies sein Beitrag zur tagesaktuellen Lage? Schauen wir’s uns an!
Verkündet wurde am vergangenen Samstag:
Das Deutschland-Prinzip. Was uns stark macht.
„EIGENVERANTWORTUNG fördern und mehr EIGENLEISTUNG von jedem fordern.“
Ich stutzte: Das sind höchst ungewohnte Töne! Gerade in der heutigen Zeit, gerade bei uns in Berlin, wo wir Bürger immer mehr und mehr von der Politik fordern und wir im Grunde von den meisten Parteien darin trainiert werden, uns als Benachteiligte, als förderbedürftige Objekte der Obrigkeit auszugeben! Wir Bürger wissen es doch: Die Obrigkeit in Deutschland und mehr noch in der Europäischen Union sorgt für uns, sie kümmert sich und schaut auf Stabilität des Geldes, sie sichert Wohlstand und europäische Einigkeit. Sie hält den Laden am Laufen.
Wozu bedarf es also noch persönlicher, individueller Tugenden?
Denken wir darüber nach! Übersetzen wir den Grundsatz der EIGENLEISTUNG ins überzeitliche Deutsch! Gemeint ist offenbar FLEISZ. Eigenleistung bedeutet schließlich nichts anderes als dass jeder sich selber anstrengen soll, statt immer nur die Hand aufzuhalten.
Und Eigenverantwortung lässt sich ins überzeitliche Deutsch zurückübersetzen als REDLICHKEIT. Eigenverantwortung bedeutet schließlich nichts anderes als dass jeder Rede und Antwort stehen kann für all das, was er tut und lässt, sagt und verschweigt.
Die Aufforderung des übergroßen Posters lässt sich in knackigem Markplatz-Deutsch also so wiedergeben:
Üb immer Fleiß und Redlichkeit
bis an dein kühles Grab.
Oder auch:
Verantwortung und Leistung sind von dir gefordert.
Wen oder was mag der Mann meinen? An Fleiß und Redlichkeit mangelt es also laut Aussage des überlebensgroßen Postermannes – nennen wir ihn mit einem deutschen Allerweltsnamen einfach Gerhard Schröder – uns Europäern oder uns Deutschen in der jetzigen Lage.
Wir sollten uns darüber unterhalten. Der Postermann hat vielleicht recht. Er hat einen Dunk versenkt, würde man im Basketball sagen, einen vortrefflichen Poster-Slam Slam-Dunk.
Bild: Aufnahme vom 11.04.2015, Berlin, Unter den Linden, Ecke Glinkastraße